Milena

Beinahe hätte Milena das Knirschen des Schlüssels überhört, so vertieft war sie in Boris Pasternaks Doktor Schiwago. Sie hatte das Buch im sogenannten Bibliothekszimmer ausgewählt, weil sie erst vor Kurzem von der turbulenten Geschichte rund um seine Entstehung und Erstveröffentlichung erfahren hatte. Die Sowjets, die in der Liebesgeschichte von Juri und Lara Kritik am Regime orteten, hatten den Roman bis 1988 verboten, und jeder russische Staatsbürger, der sich über Auslandskontakte ein Exemplar beschafft hatte, musste um sein Leben fürchten.

Um ihr Leben fürchtete Milena nicht, als sie gerade noch die Stiege hinauf in den ersten Stock flüchtete, ehe die Haustür mit einem leisen Quietschen geöffnet wurde. Nur entdeckt werden wollte sie nicht, das war alles. Draußen herrschten Nebel und Kälte. Die Nächte waren bitterkalt. Die Infektionszahlen wurden wie das tägliche Amen in den Nachrichten rauf und runter gebetet, und der Lockdown, den die Regierung über das Land verhängt hatte, würde gewiss nicht so schnell aufgehoben werden. Das alles waren gute Gründe, um weiterhin in dem Haus zu bleiben, in dem sie sich vor fast fünf Wochen selbst einquartiert hatte.

Dass die verrückte Alwine ausgerechnet dann im Suff die Stufen hinabstürzen musste, als sie selbst kurz im Wald hinter dem Haus frische Luft schnappen war, hatte ihren geplanten Daueraufenthalt verkompliziert. Einmal täglich kam seither dieser Max vorbei, um die Katzen zu füttern. Alwines Sohn war ein muskulöser Mann um die vierzig, der in seinen robusten OutdoorHosen, dem khakifarbenen Parka und dem braunen Lodenhut aussah wie ein Förster, sein Geld allerdings als Radiologe verdiente. Gemeinsam mit einem Freund führte er ein RöntgenInstitut im Norden der Stadt.

Milena wusste das alles von Alwine. In den Wochen, die sie gemeinsam unter einem Dach gelebt hatten, war sie ihr aber größtenteils aus dem Weg gegangen. Die Furcht, dass die verwirrte Frau in einem hellen Augenblick doch einmal bemerken würde, dass nicht ihre Tochter Sophie bei ihr wohnte, war Milena nie ganz los geworden. Abgesehen davon bot Alwine keine angenehme Gesellschaft. Bestimmend, übellaunig und mit allem unzufriedenso hatte sie sie erlebt. Und dann war ja noch die Sache mit dem Alkohol gewesen.

Dass die Frau ständig einen sitzen hatte, war ziemlich klar, auch wenn sie es gut tarnen konnte. Weder lallte Alwine, noch torkelte siezumindest nicht tagsüber, wenn sie in ihrem Lehnstuhl im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, eine Katze auf dem Schoß, eine andere zu Füßen, ohne lange an einer Sendung hängen zu bleiben, und ein Glas Rotwein nach dem anderen trank. Nach einem gewöhnlichen Nachmittag war ihr Weinregal im Keller stets um ein paar Flaschen leerer und der Hausflur um dieselbe Anzahl an leeren Flaschen voller gewesen.

Manchmal hörte sie auch den ganzen Nachmittag Opern in einer Lautstärke, die das ganze Haus erzittern ließ. Im Wohnzimmer gab es einen alten Plattenspieler, der aussah, als stünde er besser in einem Museum. Die Plattensammlung passte dazu. Die Namen der Operndiven und -sänger sagten Milena nichts. Vermutlich waren die meisten schon vor ihrer Geburt gestorben.

Abends hatte der Alkohol Alwine fest im Griff. Ihre Aussprache war immer noch überraschend deutlich, aber ihre Stimmung im Keller. Sie schimpfte, jammerte und zertrümmerte auch manches Mal Geschirr. Viele Teller und Tassen im Schrank hatten Sprünge, andere Teile lagen schon in Scherben im Haus verteilt herum. Sogar die Katzen suchten abends immer das Weite. Milena hatte ihren Tagesablauf schließlich an die Stimmungslage ihrer Logisgeberin angepasst und sich ab dem späten Nachmittag in ihr Zimmer zurückgezogen. Da Alwine bis zehn, halb elf Uhr am Vormittag den Rausch vom Vortag ausschlief, konnte Milena die Morgenstunden immer nutzen, um Wäsche zu waschen, Essen vorzukochen und sich in der Bibliothek mit Lesestoff für den Rest des Tages einzudecken. Trotzdem hatte es sich nicht ganz vermeiden lassen, ihr zu begegnen. Weil sich Milena bei jeder dieser Gelegenheiten eine Schimpftirade einfing, wunderte es sie nie, dass der einzige Mensch, der zumindest gelegentlich nach der alten Frau schaute, der Sohn war.

Er war es letztendlich auch, der zwei Tage nach Alwines Unfall nach dem Rechten gesehen und die Verunglückte gefunden hatte. Milena hatte zu diesem Zeitpunkt die schlimmsten Stunden ihres Lebens hinter sich gebracht. Sie glaubte nicht an Geister, trotzdem war es kein schönes Gefühl gewesen, mit der toten Alwine am Treppenabsatz unter einem Dach zu verharren.

Den Kopf über das Treppengeländer geneigt, schaute Milena nach unten auf Max Kopf. Ausnahmsweise hatte er seinen Hut abgenommen. Sein dichtes braunes Haar passte zu seinem dunklen Teint. Trotz winterlicher Kälte sah er stets aus, als käme er frisch aus der Karibik. Damit war er, wie Milena inzwischen wusste, seinem Vater sehr ähnlich. Beim Herumstöbern in Schränken und Regalen war sie noch immer nicht auf das erhoffte Bargeld oder den Schmuck, dafür aber auf Familienalben und lose Fotos gestoßen. Sie sah sich inzwischen als angehende Expertin in der Familiengeschichte der Jakobis.

Wie immer verharrte Max ein paar Sekunden vor dem Treppenabsatz. Anfangs hatte sie befürchtet, dass er gleich nach oben kommen würde. Inzwischen wusste sie, dass er nur einige Augenblicke die Stelle anstarrte, auf der er seine Mutter mit grotesk verrenktem Nacken gefunden hatte.

Dann verschwand er in der Küche. Sobald sie ihn mit Dosen und Schüsseln hantieren hörte, strömten die Katzen aus allen Ecken herbei. Gewöhnlich dauerte es dann keine dreißig Sekunden, bis der Mann zu fluchen begann. Scheißviehzeug war dann noch einer der milderen Ausdrücke, die ihm über die Lippen kamen. Ein Katzenfreund war Alwines Sohn nicht, und Milena konnte es ihm nicht verübeln. Alwines neun Miezeninzwischen hatte sie sogar gelernt, sie zu unterscheidenwaren großteils alt, allesamt ungepflegt und obendrein extrem verwöhnt. Von dem Futter ließen sie oft die Hälfte stehen, warum auch immer, und das sogar jetzt, wo ihre Rundumversorgung nicht garantiert war. Mindestens zwei der Tiere waren außerdem schon zu dement, um immer den Weg durch die Katzenklappe nach draußen zu finden, wenn sie ihr Geschäft verrichten mussten. Jeden Tag putzte Milena mindestens einmal ihre Hinterlassenschaften weg.

Für Max, das war sonnenklar, waren die Katzen nur eine Belastung. Sicher brachte er sie bald ins Tierheim. Aber noch waren sie da. Und das wurde allmählich zu Milenas Problem. Denn nur wegen der Katzen schaute Max täglich vorbei. Dass er keine feste Zeit hatte, sondern mal am Vormittag, ein anderes Mal erst gegen Abend kam, machte ihr das Leben nicht einfacher. Sie konnte nichts kochen, ehe er dagewesen war, und sie konnte auch die Waschmaschine nicht anstellen. Nicht einmal Haare zu waschen wagte sie, denn was, wenn er just zur Haustür hereinkam, während sie gerade mit eingeschäumtem Kopf über der Wanne hing? Sobald er das Wasser rauschen hörte, wäre er oben! Verständlicherweise.

Das Schlimmste jedoch war, dass sie nicht richtig heizen konnte. Das Haus hatte keine Zentralheizung. In den meisten Räumen gab es offene Kamine oder Kachelöfen. Doch selbst der schrulligen Alwine war das Anschüren der Öfen oft zu mühsam gewesen, weshalb sie nur den Kamin im Wohnzimmermit Luftschlitzen zur Küchetäglich angezündet hatte. In Alwines Schlafzimmer, in Sophies Zimmer, in der Bibliothek und im Bade­zimmer standen alte Konvektoren. Die Dinger waren Milena unheimlich: Einmal eingeschaltet, wurden sie innerhalb weniger Minuten so heiß, dass es nicht ratsam war, versehentlich an das Metallgehäuse zu kommen. Immerhin ließ sich so ihr eigenes Zimmer heizen. Das Modell, das in der Bibliothek stand, hatte nach zweistündigem Dauerbetrieb zu rauchen begonnen, weshalb sie davon absah, es weiter in Betrieb zu nehmen. Den Kachelofen wollte sie wegen des Rauchs gar nicht erst anheizen, denn wenn es aus dem Schornstein eines verlassenen Hauses qualmte, war das schließlich höchst verdächtig.

Im Moment waren die einzig warmen Räume folglich nur Sophies Zimmer und das Bad. Ihr fehlte die Wärme des Kachel­ofens und den Katzen anscheinend auch. Seit Alwines Tod suchten sie ihre Nähe. Vor Kurzem hatten der schwarz-weiße Kater mit dem angebissenen Ohr und die graue Langhaarkatze ihr sogar ins Zimmer folgen wollen. Das hatte sie nicht zugelassen. Es war der einzige saubere, wohnliche Raum im Haus, und so sollte er auch bleiben.

Im Untergeschoss trat Max inzwischen wieder den Rückzug an. Nochmals verharrte er am Fuße der Treppe und sah hinauf. Das war neu. Normalerweise hatte er es nach der Katzenfütterung immer eilig, wegzukommen. Milena blieb beinahe das Herz stehen, als er seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, und sie machte zwei leise Schritte rückwärts in Richtung der schweren Vorhänge, die das Gangfenster säumten. Notfalls würde sie hinter einer der Stoffbahnen Zuflucht suchen.

Ihr Herz machte vor Erleichterung einen Sprung, als er es sich doch noch anders zu überlegen schien. Abrupt drehte er sich um und verließ das Haus. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss. Augenblicke später startete ein Motor.

Milena wartete noch, bis sich das Fahrzeug entfernt hatte, dann ging sie nach unten. Die Dämmerung war schon angebrochen. Sie machte Licht in der Küche. Dass dieser Raum und auch ihr Zimmer auf der Rückseite des Hauses lagen, erwies sich als Vorteil. So entlegen das Haus auch sein mochtesie wollte nicht riskieren, dass der Lichtschein für Leute, die beispielsweise ihren Hund die Forststraße entlang Gassi führten, sichtbar war. Alwines Tod hatte sich in der dorfähnlichen Struktur dieser Stadtrandsiedlung sicher herumgesprochen. Wenn es im Haus hell war, aber Max Auto nicht davorstand, würde das sicher Fragen aufwerfen.

In der Küche roch es nach Dosenfleisch. Fünf Katzen saßen vor den vollgefüllten Futterschüsseln am Boden, zwei scheuchte sie mit einer unwirschen Handbewegung vom Küchentresen. Alwine hatte die Katzen immer darauf gefüttert, was Milena ein Dorn im Auge gewesen war.

Im Kühlschrank gab es noch ein paar matschige Tomaten und zwei Joghurtbechertraurige Reste. Seit Alwines Tod blieben die regelmäßigen Lebensmittellieferungen von Feinkost Gruber aus, und natürlich brachte auch Max keine Grundnahrungsmittel mehr vorbei. In der Speisekammer waren noch ein paar Packungen Nudeln, zwei große Säcke Mehl und ein, zwei Dutzend Konservendosen. Ein Teil davon war schon abgelaufen, ein anderer beinhaltete Speisen, die Milena nicht wirklich lockten, wie zum Beispiel Schildkrötensuppe, Weinbergschnecken im Knoblauchfond und Sardinen mit Curry. Nur Katzenfutter war noch im Übermaß vorhanden, und beim Wein hatte Alwine langfristig für Reserven gesorgt.

Milena stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd und schnip­pelte die Tomaten in kleine Stücke. Ein kulinarischer Hit ließ sich aus dem wenigen, das noch vorhanden war, nicht zaubern. Aber mit Pasta und der improvisierten Tomatensoße konnte sie zumindest ihren Magen besänftigen. Irgendwann, das wusste sie, würde sie sich überwinden und auf die Konserven zurückgreifen müssen. Heikel zu sein, konnte sie sich in ihrer Situation nicht leisten.

Bis auf den Speicher, der so voll mit altem Krimskrams war, dass sie kaum durchkam, hatte sie inzwischen das ganze Haus auf der Suche nach Bargeld durchkämmt. Aber abgesehen von läppischen zwanzig Euro und ein paar Münzen in Alwines Geldbeutel war sie auf nichts gestoßen.

Rund zwanzig Minuten später rollte Milena am Küchentisch Spaghetti mit Tomatensoße auf die Gabel. Eine der Katzen strich um ihre Füße, darum bemüht, Aufmerksamkeit zu erregen. Der schwarz-weiße Kater hockte am Fensterbrett und putzte sich, die dreifarbige Katze mit der Nummer im Ohr saß auf dem Tisch und starrte auf ihren Teller. Milena hatte sie zuvor dreimal grob heruntergeschubst. Die Katze hatte das nicht beeindruckt. Wie ein lässiger Bumerang war sie an ihren selbst erwählten Platz zurückgekehrt und schnurrte jetzt wie ein Motor.

Erstmals gestand sich Milena ein, dass die Gesellschaft der Katzen auch etwas Tröstliches hatte. Phasen des Alleinseins war sie gewohnt, seit ihre Mutter sie damals nach Wien geholt hatte. Während der Schulzeit hatte sie genug Abwechslung gehabt, aber während der Ferien hatte sie oft wochenlang in der Wohnung herumgesessen, während ihre Mutter von früh­morgens bis spätabends fremde Wohnungen und Büros putzte, um über die Runden zu kommen. Trotzdemallein in dem großen Haus zu sitzen, war hin und wieder äußerst bedrückend.

Über Alternativen brauchte sie gar nicht nachzudenken. Niemand wusste, wo sie war. Auch Dragana nicht, wobei Dragana, gemessen an dem, was sonst über sie hereinbrechen würde, das geringste Übel war. Vermutlich hatte Dragana keine Woche verstreichen lassen, ehe sie ihre Habseligkeiten entsorgt und den frei gewordenen Schlafplatz an die nächste arme Seele vergeben hatte. Milena tat es leid um den Karton mit den Büchern, die sie aus ihrem früheren Leben gerettet hatte, besonders um ihre Ausgabe von Engel des Vergessens. Die Bachmann-Preisträgerin Maja Haderlap hatte den Roman auf einer Lesung mit einer persönlichen Widmung an sie versehen.

Alles andere war ersetzbar. Der Verlust der Kleidung war ärgerlich, aber zu verkraften. In den Tiefen von Sophies Schrank hatte Milena Baumwollunterwäsche und Wollstrumpfhosen gefunden. Es war seltsam, die Unterwäsche einer anderen zu tragen, auch wenn sie sauber und in gutem Zustand war. Aber was blieb ihr anderes übrig? Wenn ihre Jeans einmal gewaschen werden musste, trug sie einen der knöchellangen, altmodischen Röcke, die sie mit einem Gürtel zusammenhalten musste, damit sie ihr nicht über die Knie rutschten. Es gab nur ganz wenige T-Shirts, dafür dutzendweise hässliche Rüschenblusen im oberen Regalfach, und da ihr immer kalt war, ergänzte sie ihr Outfit mit einem kratzigen, dicken Norwegerpulli. Wenn sie sich in den Spiegeltüren des Wandschranks betrachtete, der auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges stand, kam sie sich vor wie eine Vogelscheuche.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die arme Sophie anders empfunden haben konnte, wenn sie sich selbst in diesem Spiegel gesehen hatte. Ihr Verdacht, dass Alwines Tochter vor langer Zeit gestorben sein musste, war mittlerweile zur Gewissheit geworden. Alwine selbst hatte es ihr gesagt, als sie am frühen Nachmittag eine zweite Flasche Merlot öffnete.

Ich dachte, du bist längst tot, aber jetzt bist du wieder da.

Erfreut hatte sie dabei nicht wirklich geklungen. Eher verwundert.

Gerne hätte Milena an dieser Stelle nachgehakt: Woran war Sophie gestorben? Wie alt wurde sie?

Doch wie sollte sie diese Fragen stellen, wenn sie selbst in Alwines Augen diese Sophie war?

In ihrer Phantasie hatte Milena sich inzwischen eine ganze Familiengeschichte zusammengesponnen, die sich mit jedem Detail, das sie in Erfahrung brachte, verdichtete und in deren Mittelpunkt Alwine als tragische Lichtgestalt stand.

Spätestens nachdem sie in einer der Schubladen auf die Todesanzeige eines gewissen Prof. Dr. med. Maximilian Herbert Jakobi gestoßen war, der diesem Max ziemlich ähnlich sah, stand für sie fest, dass Alwine nicht grundlos dem Suff verfallen war: Der Mann Opfer eines Jagdunfalls, die Tochter ebenfalls tot, der Sohn ein emotionsloser Rüpel, dessen Gesichtsausdruck auf vier Meilen Entfernung anzumerken war, dass er nur aus Pflichtgefühl hin und wieder vorbeischaute. Die Frau war sicher mit den Jahren vor Einsamkeit verbittert, der Alkohol ihr fester Begleiter geworden.

Während Milena das Geschirr abwusch, entschied sie, von Alwines Rotweinvorräten lieber die Finger zu lassen. Wenn sie nach dreieinhalb Jahren wieder ins Leben zurückkehrte, sollte dies nicht als Alkoholikerin geschehen.