Milena

Milena kauerte im ersten Stock neben dem Treppengeländer. Das verzweifelte Schluchzen hatte sie aus dem Versteck gelockt, in das sie sich in ihrer Hast geflüchtet hatte, als unten die Haustüre schlug. Max war am Vormittag dagewesen, weshalb sie gehofft hatte, dass es das für diesen Tag gewesen war. Die Tatsache, dass er den Konvektor aus Alwines Zimmer nach unten geschleppt und angeworfen hatte, war ihr allerdings spanisch vorgekommen. Den ganzen Tag war sie in Alarmbereitschaft gewesen. Nachdem stundenlang nichts passiert war, hatte sie sich wieder ins Erdgeschoss gewagt. Der volle Kühlschrank ließ sie das Schlimmste befürchten.

Und dann war Max mit dieser Frau hereinspaziert. Was Milena von ihr gesehen hatte, ehe sie sich in stiller Panik in den Wandschrank am Gang flüchtete, reichte, um sie als Trauergast zu identifizieren. Die schwarze Kleidung war ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Tag der Beisetzung gekommen war.

Wer war die Frau? – Die distanzierte Art und Weise, wie dieser Max und sie miteinander umgingen, legte nahe, dass sie kein inniges Verhältnis verband. Allerdings schien der Unbekannten die verrückte Alwine nahegestanden zu haben. Das verzweifelte Weinen zeugte ja wohl von aufrichtiger Trauer. War sie also eine Freundin der Familie?

Wie auch immer, ihre Anwesenheit in diesem Haus versetzte Milena in einen Zustand permanenten Stresses. Der Besuch war noch keine Stunde hier, und schon sah sie sich mit einer Welle von Herausforderungen konfrontiert: Wo sollte sie nun schlafen? Die Frau würde sicher in Sophies Zimmer übernachten, es war das einzige aufgeräumte war. – Wie sollte sie die Toilette benützen können? Das Rauschen des Wassers war im ganzen Haus zu hören! – Was sollte sie sagen, wenn sie trotz aller Vorsicht doch auf die neue Mitbewohnerin traf? Hallo, ich habe vor, den Winter hier zu verbringen, bitte gehen Sie mir nicht auf die Nerven?

Das einzig Gute war, dass es wieder etwas zu essen gab. Die Salami und der Emmentaler waren ein Festschmaus gewesen.

Das elende Schluchzen ebbte ab. Anscheinend hatte die Frau keine Tränen mehr. Milena verharrte noch gut zehn Minuten in Alarmbereitschaft, weil sie damit rechnete, die Fremde würde nun ihr Nachtquartier in Augenschein nehmen. Als es unten still blieb, entschied sie, ihre eigenen Vorkehrungen zu treffen. Sie schlich in Sophies Zimmer, packte das Bettzeug und verfrachtete es in das Zimmer mit dem Rennwagen-Poster an der Wand. Es war kalt darin und noch immer schmutzig und unaufgeräumt. Sie würde in Jeans und Pulli schlafen müssen.

Eine der Katzen lag auf der vor Schmutz und Staub berstenden Überdecke, die dem Anschein nach vor ewiger Zeit über die Matratze gelegt worden war. Sie beförderte das Tier entschieden nach draußen auf den Gang. Die Tür knarzte laut, als sie sie von innen zuzog. Milena hielt den Atem an.

Unten blieb es still.

So leise wie möglich drehte sie den Schlüssel um. Zumindest würde die Fremde sie nicht im Schlaf überraschen können.

*

Es ratterte. Es schepperte. Es klirrte.

Milena schlug die Augen auf und starrte angespannt in die Dunkelheit.

Es quietschte. Dem Quietschen folgte ein ächzendes, knarrendes Geräusch. Dann hörte sie den Staubsauger und atmete erleichtert auf. So verrückt es wardie Unbekannte hatte anscheinend begonnen, unten aufzuräumen und zu putzen!

Nun, ihr konnte es nur recht sein. Der Flaschenfriedhof, die Zeitungen und der sonstige Krimskrams störten sie, seit sie den ersten Schritt ins Haus gesetzt hatte. Immer wieder hatte sie etwas weggeworfen oder in die Scheune getragen. Aber so richtig Tabula rasa hatte sie schließlich nicht machen können, da wäre Max sicher skeptisch geworden.

Sie drehte sich um und versuchte, wieder einzuschlafen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Die Frau machte zu viel Lärm. Mehrmals hörte sie die Haustür auf- und zuschlagen. Als es zu dämmern begann, meldete sich ihre Blase. Anfangs gelang es noch, den Drang zu ignorieren, doch nach einiger Zeit wurde er unerträglich. Wie hatte sie auch so blöd sein können, keinen Eimer als Nachttopf mit ins Zimmer zu nehmen!

Als sie glaubte, den Druck nicht mehr aushalten zu können, hörte sie erneut die Haustür zuschlagen. Dann startete ein Motor, und ein Auto entfernte sich.

Sie war weg!

Milena sprang aus dem Bett und tippelte eilig zur Toilette. Im Bad roch es nach einem teuren Parfüm. Die zahlreichen Fläschchen mit Körperlotion, Flüssigseife und Shampoo, die auf dem Kästchen und dem Badewannenrand gestanden hatten, waren allesamt verschwunden. Das ärgerte Milena, denn sie hatte sich hier in all den Wochen rege bedient, eine Flasche angebrochen, sie ein-, zweimal benutzt und sich der nächsten gewidmet, ohne dass Alwine dagegen Einspruch erhoben hätte. Vermutlich hatte sie ohnehin längst den Überblick verloren.

In ihren Ärger schlich sich leichte Verzweiflung, als sie bemerkte, dass auch ihre Zahnbürste fehlte. Diese Frau hatte einfach alles entsorgt! Wie sollte sie an eine neue kommen? – In all dem Zeug, das Alwine über die Jahre gehortet hatte, war dies die einzige und zum Glück noch eingeschweißte Zahnbürste, die sie gefunden hatte!

Milena spritzte sich Wasser ins Gesicht und benutzte die Haarbürste der Fremden, weil sonst nichts mehr verfügbar war. In dem Kulturbeutel befanden sich mehrere hochwertige Cremes und ein ganzes Sortiment an Make-up. Wie Frauen sich freiwillig so viel ins Gesicht schmieren konnten, hatte Milena schon immer überrascht. Selbst damals, als sie für ihre Begriffe noch in Geld schwamm, hatte sie nie mehr als Lidschatten und Mascara benutzt. Die Haut musste doch noch atmen können!

Sie nutzte die Gunst der Stunde und ging in die Küche. Ihr Magen knurrte. Eine halbe Wurststange und einen Teil vom Emmentaler hatte sie noch gebunkert, aber auf nüchternen Magen schien ihr beides nicht ratsam. Die Katzen begrüßten sie wie den sehnlichst erwarteten Messias, maunzten und strichen um ihre Beine herum. Als sie die leeren Futternäpfe sah, war klar, warum.

»Tut mir leid, Leute, ich kann euch nicht helfen. Ihr müsst auf Cruella de Vil warten

Der Spitzname war ihr ganz spontan eingefallen. Was sie von der Frau gesehen hatte, war nicht viel, doch eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich ihrer Meinung nach schon aufgrund der sehr schlanken Figur nicht verleugnen.

Zumindest war die Küche jetzt aufgeräumt und sauber. Es roch endlich nicht mehr nach Katzen und irgendwelchen Essensresten, die Alwine oft tagelang stehen gelassen und deren Geruch sich in jeder Ritze festgesetzt hatte, sondern nach Putzmittel. Die Gardinen waren abgenommen worden. Im Wirtschaftsraum nebenan schleuderte die Waschmaschine.

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Freude, als sie sah, dass der Brotlaib angeschnitten worden war. Sie säbelte sich zwei Scheiben abmehr wagte sie nichtund stahl sich dazu etwas Schinken. Ein Kaffee wäre wunderbar gewesen, aber sie traute sich nicht, heißes Wasser aufzusetzen. Schließlich wusste sie nicht, wann Cruella wieder zurückkommen würde.

*

»… nicht für dumm, Max! Allein das Grundstück hier ist Hunderttausende wert. Und darauf steht immerhin eine Gründerzeitvilla! Es gibt Leute, die zahlen für weit weniger intakte Gebäude wie dieses Millionen. Die Bausubstanz ist gut. Das Haus muss nur komplett entkernt und dann modernisiert werden, dann ist es ein Schmuckkästchen, für das Leute tief in den Geldbeutel greifen.«

»Das, was wir dafür kriegen, wiegt den Aufwand nicht auf. Ein Freund von mir ist Bauunternehmer, der hat schon seine Einschätzung dazu abgegeben. Das Beste ist, die Bude wird so verkauft, wie sie ist. Da mag etwas weniger dabei herausspringen, aber ich muss mich zumindest nicht mit einer Schar unzuverlässiger Handwerker herumschlagen. Und letztendlich bin eh ich derjenige, der sich um alles kümmern muss. Du bist ja nicht da

»Da ich nur die Hälfte des gesetzlichen Pflichtteils bekomme, wie du mir vorhin selbst unter die Nase gerieben hast, ist das auch eindeutig deine Aufgabe

Milena lag auf dem Fußboden in Sophies Zimmer und presste ihr Ohr auf den Boden. Die Neugier hatte sie aus ihrem Zufluchtsort getrieben, kaum dass sie die immer erregter werdenden Stimmen gehört hatte. Das Wohnzimmer lag direkt unter diesem Raum, und Max und Cruella debattierten inzwischen in einer Lautstärke, die die Zimmerdecke nur minimal dämmte.

»Sei froh, dass du überhaupt etwas kriegst. Mutter hätte dich auch ganz enterben können! Schließlich hast du Jahre nichts von dir hören lassen

»Das würde dir so passen! – Selbst bei Enterbung stünde mir die Hälfte vom Pflichtteil zu

»Ah, da hast du dich also schon erkundigt! Eines muss man dir lassen, Sophie: Sobald du einen Vorteil für dich siehst, gehst du über Leichen. In dem Punkt hast du dich nicht geändert

»Ava. Sophie gibt es nicht mehr

»Egal, was auf der Verpackung steht, der Inhalt ist immer noch derselbe. Eine Ladung Egoismus und Rücksichtslosigkeit

Milena stutzte.

Wie bitte? Dieses gertenschlanke Hochglanz-Wesen war Alwines Tochter? Sophie war doch noch am Leben?

Unten ging der Streit weiter.

»Du nennst mich egoistisch? – Da kann ich nur lachen. Ich habe mich jahrelang um Mutter gekümmert! Mit Vaters Tod war meine Kindheit vorbei! Sie hat mich eingesperrt, wenn ich dich erinnern darf! Und dann hat sie auch noch zu trinken begonnen. Aber du hast immer so getan, als ginge dich das nichts an. Mein älterer Bruder studierte ja in Wien. Und wenn er mal kurz daheim vorbeigeschaut hat, ist er schnell wieder verschwunden, so egal war es ihm, wie es mir ging

»Ich war selbst noch jung. Mit meinen einundzwanzig, zweiundzwanzig habe ich doch gar nicht kapiert, was daheim los war! Du hast Mutter außerdem auch immer wieder verteidigt und entschuldigt. Wenn du nicht ständig ihren Alkohol versteckt und die leeren Flaschen entsorgt hättest, wäre mir sicher schon früher aufgefallen, dass sie säuft

»Es geht nicht nur um die Trinkerei! Sie konnte keine Sekunde mehr allein sein, sie hat mir die Luft zum Atmen geraubt. Sie hat mich aus der Schule genommen, verdammt! Spätestens da hättest du eingreifen müssen

»Verdreh doch die Tatsachen nicht so, SophAva! Du bist dort nicht mehr zurechtgekommen, hattest ständig Probleme mit deinen Mitschülerinnen! Mutter hat dich abgemeldet, weil du ein nervliches Wrack warst! Du hast ständig nur herumgeheult

»Tja, da fragt man sich, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. – Aber das willst du ja nicht kapieren. Jedenfalls habe ich mir meinen Anteil mehr als verdient. Ich bin nicht extra hergekommen, um mich über den Tisch ziehen zu lassen

»HaEin triumphierender Ausruf. »Du gibst es sogar zu! Mutters Tod lässt dich kalt, die Sorge, beim Erbe zu kurz zu kommen, hat dich aus Paris hierhergetrieben

»Du willst mich nicht verstehen, Max

»Weil es da nichts zu verstehen gibt, Ava! Du gibst Mutter für alles die Schuld, was du in Wahrheit selbst verbockt hast. Du siehst dich immer nur als Opfer. Aber du bist nicht besser als sie, im Gegenteil. Mutter war vielleicht nicht die Bilderbuch-Mama, die du gern gehabt hättest, aber bis zu Vaters Tod war sie für uns da. Du dagegen hast Felice einfach Gabriel überlassen und dein Ding durchgezogen. Wenn es also um Egoismus und Kaltschnäuzigkeit geht, übertriffst du Mutter um Längen

Ein paar Augenblicke lang war es mucksmäuschenstill.

Dann schrie Ava: »Raus! Sofort

Ihre Stimme war jetzt schrill.

Max erwiderte: »Bitte. Wie du willst! Mit dir ist einfach nicht zu reden

Dann knallte die Haustüre. Und Ava begann zu heulen.

Milena setzte sich auf und atmete tief durch. Sie fühlte sich wie die heimliche Statistin in einer Seifenoper, wobei sie im Moment für keinen der Hauptdarsteller gesteigerte Sympathien aufbringen konnte. Dass sich die beiden Geschwister um das Erbe zankten, war einfach nur widerlich. Schließlich hatte sich keines von beiden wahn­sinnig engagiert um ihre Mutter gekümmert.

Wenn Fürsorge als Kriterium dafür dient, wem was zusteht, sollte gerade ich nicht leer ausgehen, dachte Milena und fühlte sich kein bisschen schuldig, dass sie sich hier fest einquartiert hatte. Immerhin war sie es, die in den vergangenen Wochen für Alwine gekocht, geputzt und sogar ihre Wäsche gewaschen hatte.

Apropos. Sie brauchte frische Unterwäsche. Unten hörte sie Ava noch immer schluchzen, was sie beruhigt die Schranktüre öffnen ließ. Längst fiel ihr nichts mehr entgegen. Auch hier war Ordnung eingekehrt, nachdem sie das Zimmer zu ihrem gemacht hatte. Sie griff sich zwei von den groß geschnittenen Baumwollunterhosen und ein Unterhemd. Die steifen, beigefarbenen BHs zu tragen, hatte sie schnell aufgegeben. Sie waren viel zu groß. Sophie musste damals eine weit größere Oberweite gehabt haben als jetzt.

Und sicher trug sie auch nicht mehr diese entsetzlichen Liebestöter!

Getrieben von einem weiteren Schub Neugierde, öffnete Milena den kleinen Koffer, den seine Besitzerin auf dem Schreibtisch deponiert hatte. Die Kleidungsstücke waren so akkurat zusammengefaltet, dass sie es nicht wagte, sie anzuheben. An der rechten Seite entdeckte sie schwarze Spitze. Vorsichtig zog sie das Teil heraus und pfiff unwillkürlich durch die Zähne. Sie konnte sich vorstellen, dass Cruella de Vil darin ziemlich sexy aussah.

Neben dem Koffer stand eine schwarze Handtasche mit dem Logo eines bekannten französischen Designers. Auch wenn Milena nie der Handtaschen-Typ gewesen war, so wusste sie doch aus früheren Tagen, was so ein Teil im Shop kostete. Kein Wunder, dass Sophie, die sich jetzt Ava nannte, so scharf auf das Erbe war.

Ein zweiter Gedanke drängte sich ihr auf: Wer sich eine Tasche um mehr als tausend Euro leisten konnte, dem fielen ein paar Euro weniger im Geldbeutel auch nicht auf. Milena fand es an der Zeit, für das dringend benötigte Taschengeld zu sorgen. Sie öffnete das Portemonnaie, stieß auf zwei Kreditkarten, eine Plastikkarte mit Avas Foto und einige Kundenkarten von Pariser Geschäften. Ihre neue Mitbewohnerin shoppte offenbar gern an der Seine oder lebte sogar dort, zumal sie in der Früh schon auf Französisch telefoniert hatte. Im Geldfach befanden sich zwei Hundert-Euro-Scheine, ein Zwanziger und zwei Zehner. Sie überlegte, was Ava wohl am wenigsten auffallen würde, und entschied sich schließlich für den Zwanziger und einen der Zehner.

Erleichtert darüber, endlich wieder etwas Bargeld zu besitzen, wollte Milena sich gerade zum Gehen wenden, als sie Schritte sich zügig nähern hörte. Da ihre Aufmerksamkeit dem Geld gegolten hatte, war ihr völlig entgangen, dass das Geheule aufgehört hatte.

Flucht war keine Option mehr. Panik stieg in ihr auf. Sie sah sich um. Der Kleiderschrank! Sie konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, als Ava auch schon ins Zimmer kam.

Als Erstes griff sie zu der Packung Taschentücher, die auf dem Nachtkästchen bereit lag, und schnäuzte kräftig. Dann drehte sie sich in Richtung ihres Koffers, erstarrte in der Bewegungund Milena mit ihr. Verdammt! Sie hatte vergessen, den Deckel wieder zu schließen. Einer Ordnungsfanatikerin fiel das natürlich prompt auf.

Avas Irritation währte glücklicherweise nicht allzu lange. Zu Milenas Erstaunen begann sie jetzt, Rock und Strumpfhose auszuziehen. Zum ersten Mal sah Milena sie durch den Türspalt aus nächster Nähe.

Sie war eine attraktive Frau. Nach Milenas Empfinden wäre sie noch hübscher und vor allem natürlicher gewesen, wenn sie das Make-up weggelassen hätte. Es gab ihrem Gesicht eine starre Note, so, als verberge sie ihr wahres Ich hinter einer Maske aus Foundation und Puder. Ihr Körper war sehr schlank, fast an der Grenze zur Magerkeit. Nichts davon erinnerte an das pummelige Mädchen auf den Fotos aus dem Familienalbum. Nichtsaußer dem unglücklichen Ausdruck in den blauen Augen. Der war geblieben.

Ava schlüpfte in eine Hose. Dann verließ sie das Zimmer. Milena atmete erleichtert auf.

Ihre Erleichterung wich schnell wieder. Sie hatte damit gerechnet, dass sich Ava wieder ins Wohnzimmer begab, doch stattdessen hörte sie sie jetzt im ganzen Haus. Mal war sie hier, mal dort. Erst räumte sie in der Küche herum, dann in Alwines Zimmer, schließlich wieder unten im Vorraum, ehe sie erneut in den ersten Stock ging. Milena hörte, wie die Tür von MaxZimmer aufgerissen wurde. Sie hatte in der Früh bewusst nicht mehr abgesperrt, da sie damit rechnete, dass ein abgesperrtes Zimmer bei Ava mehr Interesse wecken würde als ein leeres. Sie würde daher auch künftig nachts nicht mehr absperren. Dass sie von Avawie befürchtetim Schlaf überrascht würde, musste sie wohl riskieren. Das Bettzeug hatte sie im Kleiderschrank verstaut, was nicht leicht fiel, denn er war noch mit allerlei Krempel befüllt.

Lautes Gepolter und Geschepper, begleitet von Avas entsetztem Aufschrei, verriet ihr, dass diese offenbar etwas suchte. Was, konnte sie sich nach dem zuvor belauschten Gespräch denken: vermutlich irgendetwas, das von Wert war. Nun, Ava würde genauso wenig fündig werden wie sie in den Wochen zuvor. Milena wagte nicht, ihr Versteck im Kleiderschrank zu verlassen, obwohl durch die kauernde Haltung allmählich ihre Glieder schmerzten. Erst als sie Avas Schritte auf der Treppe zum Dachstuhl und dann das Quietschen der Speichertüre hörte, ergriff sie die Chance und schlüpfte aus dem Zimmer.

Das Geld in der Hosentasche, schnappte sie sich ihren Mantel, den sie unter Alwines unzähligen Jacken und Parkas am Garderobenständer im Vorraum verstaut hatte, und verließ das Haus. Es würde schwierig werden, wieder unbemerkt hineinzukommen, aber dort zu verharren, während Ava alle Türen aufriss und durch sämtliche Stauräume fegte, war keine Option.

Milena fuhr mit dem Bus drei Stationen zum Supermarkt, so, wie sie es zu Alwines Lebzeiten schon öfter getan hatte. Sie kaufte eine Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Knäckebrot, Dauerwurst und Äpfel. Irgendwie musste sie ja über die Runden kommen, solange sie wegen Ava die Küche nicht benutzen konnte.

An der Kasse fiel ihr Blick auf die aktuellen Tageszeitungen.

Bundeskanzler Kurz will ganz Österreich auf Covid-19 testen lassen.

Corona-Alarm: Regierung macht Grenzen zu Österreich über die Feiertage dicht!

»Corona-Sünder sofort anzeigen« – Deutscher Politiker ruft zum Denunzieren auf!

Alwines Haus kam Milena plötzlich wie ein Schutzraum vor. All die Schreckensnachrichten waren weitgehend an ihr vorbeigegangen. Der Akku ihres Handys war schon nach zwei Tagen aufgebraucht gewesen. Und sie hatte Angst, den Fernseher anzuschalten oder auf Alwines altem Computer ins Internet zu gehen auf die Gefahr hin, dass Max auftauchte oder jemand das Lichtflackern im Haus sah.

Draußen stand ein Wagen mit Grillhendln, der mit überdimensionalen Lautsprechern den ganzen Supermarktparkplatz mit Weihnachtsmusik beschallte und sie erstmals daran erinnerte, dass in weniger als drei Wochen Heiligabend war.

Sie kaufte sich ein halbes Brathuhn, weil sie nach nichts mehr lechzte als nach einer richtigen Mahlzeit, und verspeiste es in einer windgeschützten Ecke des Parkplatzes. Lange blieb sie nicht allein. Der Obdachlose, der hin und wieder Zeitungen vor dem Supermarkt verkaufte, gesellte sich zu ihr und begann, sie mit allem Möglichen zuzuquatschen. Vieles, was er von sich gab, machte keinen Sinn, einiges dagegen schon. Dass durch die Regierungsmaßnahmen immer mehr Leute ihr Dach über dem Kopf verloren, glaubte auch sie. Dass in absehbarer Zeit auch keine neuen Jobs entstehen würden, lag angesichts des immer wieder verlängerten Lockdowns ebenso auf der Hand.

Milena nickte gelegentlich und brummte »Hmmm«, während der Mann redete und redete und sich in ihr die Angst ausbreitete: Was, wenn die Pandemie auch das nächste Jahr fest im Griff hatte? Was sollte aus ihr werden, so ganz ohne Einkommen und Aussicht auf Arbeit? Wovon sollte sie leben?

Sie wollte dieser Angst keinen Raum geben. Sie wusste, wenn diese sich erst einmal in ihr breitgemacht hatte, war es fast unmöglich, sie wieder los zu werden. Das würde sie daran hindern, kluge Schritte zu setzen. Denn Angst lähmte.

Sie atmete tief durch.

Jetzt in diesem Moment geht es mir gut, sagte sie sich selbst, während sie die abgenagten Hühnerknochen im nächsten Müllkorb entsorgte. In diesem Moment bin ich satt. In diesem Moment habe ich ein Dach über dem Kopf. Das war immerhin mehr, als der Obdachlose von sich behaupten konnte.

Für Planungen, die weit in die Zukunft hineinreichten, war nicht der richtige Zeitpunkt.