Für die nächsten anderthalb Jahre wohnten wir also, bis auf meine gelegentlichen kurzen Engagements als Sängerin in anderen Städten, in Westlake, und Guy fand Anschluss an eine Gruppe von Jugendlichen, die genügend Blödsinn anstellten, um ihren Drang nach Rebellion zu befriedigen, ohne die Toleranz der Nachbarn allzu sehr zu strapazieren.
Ich fing an zu schreiben. Zunächst beschränkte ich mich auf kurze Sketche, dann auf Songtexte, dann wagte ich mich an Erzählungen. Als ich mit John Killens in Verbindung kam, der sich gerade in Hollywood einquartiert hatte, um das Filmskript für seinen Roman Youngblood zu schreiben, erklärte er sich bereit, einen Teil meines »work in progress«, wie er es nannte, in Augenschein zu nehmen. Ich hatte inzwischen sechs selbstgeschriebene Songs bei Liberty Records eingespielt, dachte aber, bevor John seinen kritischen Blick auf meine Geschichten geworfen hatte, nicht im Ernst an eine Karriere als Autorin. Danach dachte ich an nichts anderes mehr. John war der erste Schwarze Autor auf dem Buchmarkt, mit dem ich wirklich in Berührung gekommen war. (James Baldwin hatte ich zwar in den frühen Fünfzigerjahren in Paris einmal getroffen, aber nicht wirklich kennengelernt.) »An deinen Texten muss ein bisschen gefeilt werden. Das ist auch nichts Besonderes, das geht jedem so. Aber Talent hast du, das steht fest«, meinte er. Und schloss an: »Am besten kommst du nach New York, du gehörst eigentlich in die Harlem Writers Guild.« Das war eine etwas verblümte Einladung, aber sie klang verlockend.
Jahre zuvor hatte ich die Sängerin Abbey Lincoln kennengelernt, und während meiner Zeit in Westlake hatten wir uns angefreundet. Inzwischen war sie nach New York gezogen, und jedes Mal, wenn wir telefonierten, schwärmte sie – wenn sie mit dem Schwärmen über ihre große Liebe Max Roach fertig war – von New York. Es sei der absolute Nabel der Welt, der einzig wahre Ort für einen intelligenten Menschen, der etwas aus sich machen will.
Wenn ich nach New York ging, dachte ich mir also, könnte ich doch ganz vielleicht auch meine Nische finden, sie ausbauen und erfolgreich werden.
Dass ich aus Los Angeles wegwollte, hatte nämlich noch einen Grund. Guy, mit dem ich früher so viel Spaß gehabt hatte, entwickelte sich allmählich zu einem hochaufgeschossenen, distanzierten Fremden. Unsere gemütlichen Abende mit Scrabble und Scharade gehörten für ihn uralten Zeiten an. Die Spiele aus der Kindheit fand er einfach nicht mehr spannend. Und wenn er sich an meine Hausregeln hielt, dann demonstrativ gelangweilt – rebellieren wäre einfach zu anstrengend gewesen.
Ich begriff damals nicht sofort, dass die Pubertät ihn heimgesucht und ihren Sack an Ängsten und Unsicherheit über ihm ausgekippt hatte. Mein schmächtiger Teilzeit-Liebhaber, der ganz in der Nähe wohnte, war zu fade und fromm, als dass er mir hätte begreiflich machen können, was mit meinem Sohn los war. Mit seinem Faible für fernöstliche Religionen, Vegetariertum und sexuelle Abstinenz war er für fast nichts zu gebrauchen außer für tiefschürfende Gespräche über den Sinn des Lebens.
Ich rief meine Mutter an, und sie hob nach dem ersten Klingeln ab.
»Hallo?«
»Lady?«
»Ach, hallo, Baby.« Sie sprach so frisch gebügelt wie eine Weiße.
»Ich möchte mich mit dir treffen. Ich ziehe nach New York und weiß nicht, wann ich wieder nach Kalifornien komme. Vielleicht können wir uns irgendwo treffen und ein paar Tage zusammen sein. Ich könnte ein Stück rauffahren, Richtung San Francisco …«
Sie überlegte keine Sekunde. »Natürlich können wir uns treffen, ich würde dich auch so gern sehen, Baby.« Gut eins achtzig groß, mit einem vierzehnjährigen Sohn, und immer noch hieß ich bei ihr Baby. »Wie wär’s mit Fresno? Das ist die halbe Strecke. Wir könnten in das Hotel dort gehen, du hast bestimmt davon gelesen.«
»Ja. Aber nicht, wenn es Ärger gibt. Ich will einfach mit dir zusammen sein.«
»Ärger? Ärger?« Da war sie wieder, die vertraute Schärfe im Ton. »Ich reib mir schon die Hände, Baby, du kennst mich. Das Hotel ist gesetzlich verpflichtet, Schwarze als Gäste zu empfangen. Ich kann vor Gott und fünf weiteren gestandenen Mannsbildern bezeugen, dass meine Tochter und ich Schwarze sind. Wenn sie uns trotzdem nicht reinlassen wollen …« – vor Vorfreude schnappte ihr fast die Stimme über – »tja, dann finden wir schon einen Topf, auf den wir sie setzen können.«
Damit war dieser Teil des Gesprächs beendet. Vivian Baxter witterte eine Konfrontation am Horizont – nichts und niemand würde sie davon wieder abbringen. Ich hätte einfach den Southern Pacific nach San Francisco nehmen und die zwei Tage in ihrem Haus in der Fulton Street verbringen sollen, um dann in Frieden wieder zurückzukehren und meine Sachen für den transkontinentalen Umzug zu packen, aber für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.
In wieder weicherem Ton brachte sie mich in puncto Familienklatsch auf den neuesten Stand und legte ein Datum für unser Treffen fest.
Fresno im Jahr 1959 war eine mittelgroße Stadt mit Palmen und einem dezidiert südstaatlichen Einschlag. Die meisten der weißen Einwohner kamen einem vor wie Nachfahren der Joads aus Steinbecks Früchte des Zorns, und die Schwarzen Bürger waren Farmarbeiter, die einfach die Holperpisten von Arkansas und Mississipi gegen die staubigen Straßen von Mittelkalifornien eingetauscht hatten.
Ich parkte meinen alten Chrysler in einer Seitenstraße und stiefelte mit meinem Köfferchen um die Ecke zum Desert Hotel. Meine Mutter hatte vorgeschlagen, dass wir uns um drei Uhr treffen, was bedeutete, dass sie ab zwei Uhr warten würde.
Die Hotellobby war mit Willkommensbannern für eine Verkäufertagung geschmückt. Unter tiefhängenden Kronleuchtern standen breitschultrige, rotgesichtige Kerle und flachsten mit korpulenten Frauen herum.
Als ich hereinkam, stockte ihnen der Sekt in den Gläsern. Alle Köpfe drehten sich, alle Blicke taxierten mich, erst ungläubig, dann entrüstet. Am liebsten wäre ich ins Auto gesprungen, zurück nach Los Angeles gerast und hätte mich hinter meinen viktorianischen Säulen verkrochen. Stattdessen straffte ich die Schultern, setzte eine gleichgültige Miene auf und trat an den Empfang. Die Uhr dahinter meldete Viertel vor drei. »Guten Tag. Wo ist bitte die Bar?« Ein junger Mann mit kindlichem Gesicht senkte den Blick und deutete hinter mich.
»Danke.«
Die Menge wich auseinander, und ich marschierte durch das Schweigen, in der Gewissheit, dass ich noch vor der rettenden Tür zur Lounge ein Messer in den Rücken oder ein Lasso um den Hals bekommen konnte.
Meine Mutter saß im braunen Samtkostüm und ihrem Dobbs auf dem Kopf an der Bar. Ich stellte mein Köfferchen hinter die Tür und gesellte mich zu ihr.
»Hi Baby«, strahlte sie mich mit blendend weißem Lächeln an. »Du bist aber früh dran.« Womit sie natürlich gerechnet hatte. »Jim?« Ich wiederum hatte damit gerechnet, dass sie den Barkeeper bereits kennengelernt und um den Finger gewickelt hätte. Der Mann grinste pflichtschuldig.
»Jim, das ist mein Baby. Hübsch, was?«
Jim nickte, ohne den Blick von meiner Mutter zu wenden. Sie beugte sich zu mir und drückte mir einen Kuss auf den Mund.
»Mach ihr einen Scotch mit einem Schuss Wasser und dir auch noch einen.«
Als er abwehren wollte, kam sie ihm zuvor. »Keine Widerrede, Jim. Auf einem Bein steht es sich nun mal schlecht.« Sie lächelte ihm zu, und er tat wie geheißen.
»Gut siehst du aus, Baby. Wie war die Fahrt? Hast du noch den alten Chrysler? Hast du die Leute in der Lobby gesehen? Da wird einem ja die Milch sauer, bei den Gesichtern. Wie geht’s Guy? Wieso zieht ihr nach New York? Findet er das gut?«
Jim stellte mir den Whisky hin und prostete mir mit seinem zu.
Meine Mutter hob ebenfalls ihr Glas. »Schau mir in die Augen, Jim.« Und zu mir: »Auf dich, Baby.« Sie lächelte, und mir wurde wieder bewusst, dass sie einfach die schönste Frau der Welt war.
»Danke, Mutter.«
Sie nahm meine Hände und rieb sie zwischen ihren.
»Die sind ja eiskalt. Dabei herrscht hier eine Affenhitze. Alles okay bei dir?«
Meine Mutter hatte vor nichts und niemandem Angst, außer vor Gewittern. Ihr konnte ich doch nicht erzählen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren mir wegen der Weißen in der Lobby fast in die Hose gemacht hätte.
»Alles gut, Mutter. Ist wahrscheinlich die Klimaanlage.«
Sie ließ mir die Lüge durchgehen.
»Okay, trinken wir aus und gehen aufs Zimmer. Es gibt eine Menge zu reden.«
Sie nahm die Barzettel, zählte sie durch und holte zwei Dollarscheine heraus.
»Um wie viel Uhr fängst du an, Jim?«
Der Barkeeper drehte sich grinsend zu uns um. »Ich schließe morgens die Bar auf, um elf.«
»Dann mach ich dir den Eintänzer. Scotch mit Wasser, nicht vergessen. Um elf. Das ist für dich.«
»Ach, das ist aber nicht nötig.«
Meine Mutter war vom Barhocker aufgestanden. »Eben. Umso lieber tue ich es. Bis morgen früh.«
Ich nahm mein Köfferchen und trottete ihr nach, raus aus der schummerigen Bar und rein in das Stimmengewirr der Lobby. Wieder ebbte es ab, aber meine Mutter nahm davon keine Notiz. Sie stöckelte durch die Lobby und trat an den Tresen.
»Mrs Vivian Baxter Johnson mit Tochter. Wir haben reserviert.« Trotz diverser Ehen hing meine Mutter an ihrem Mädchennamen; ob gerade verheiratet oder nicht, sie nannte sich einfach gern Vivian Baxter.
Das wirkte. »Und bitte rufen Sie den Pagen. Mein Koffer liegt im Wagen, hier ist der Schlüssel. Stell dein Gepäck da hin, Baby.« Wieder zu dem Mann am Empfang: »Den Koffer meiner Tochter möge er bitte ebenfalls auf unser Zimmer bringen.« Zögernd schob der Hotelangestellte ein Formular über den Tresen. Meine Mutter zückte ihren goldenen Sheaffer und trug uns ein.
»Den Schlüssel, bitte.« Wieder in Zeitlupe schob er meiner Mutter den Schlüssel hin.
»Zwei zehn, zweiter Stock. Danke. Komm, Baby.« Das Hotel hatte erst einen Monat zuvor seine Segregationspolitik aufgegeben, doch meine Mutter tat so, als verkehrte sie hier schon seit Jahren. Rechts von der Anmeldung führte eine geschwungene Treppe nach oben, und vor dem Lift stand ein Grüppchen entgeisterter Tagungsteilnehmer.
»Komm, nehmen wir die Treppe«, sagte ich.
»Wir nehmen den Aufzug«, erwiderte sie und drückte auf den Knopf. Die Wartenden blickten uns an, als hätte allein unsere Gegenwart sie jegliches Wertvollen im Leben beraubt.
Oben trat meine Mutter aus dem Lift, blickte sich kurz um und steuerte nach links auf die Nr. 210 zu. Sie schloss auf, warf ihre Handtasche aufs Bett und trat ans Fenster.
»Setz dich, Baby. Ich sag dir jetzt mal was, und schreib es dir bitte hinter die Ohren.«
Während sie die Vorhänge zurückzog, setzte ich mich auf den erstbesten Stuhl. Ihre Umrisse waren vom Sonnenlicht eingerahmt, ihre Miene war nicht zu deuten.
»Tiere wittern Angst. Sie können sie spüren. Und Menschen sind nun mal Tiere. Zeig nie einem anderen Menschen, dass du Angst hast, nie. Und einer Gruppe von Menschen schon gar nicht. Angst bringt die allerniedrigsten Triebe zum Vorschein. Du warst in dieser Lobby panisch wie ein Karnickel, das habe ich gespürt und diese ganzen Weißen genauso. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte die Meute zum Mob werden können. Aber irgendetwas an mir hat ihnen gesagt, wenn sie einer von uns blöd kommen, können sie sich einen neuen Hintern besorgen, denn was sie von ihrer Mama mitgekriegt haben, blas ich ihnen weg.«
Sie gackerte wie ein junges Mädchen. »Guck mal in meine Handtasche.« Ich klappte die Tasche auf.
»Das Desert Hotel soll sich mal lieber auf die Integration einstellen, sonst hab ich nämlich eine Überraschung parat.«
Unter dem Portemonnaie, halb verdeckt von ihrem Kosmetiktäschchen, lag eine dunkelblaue deutsche Luger.
»Zimmerservice? Hier ist die zwei zehn. Ich hätte gern einen Krug Eiswürfel, zwei Gläser und eine Flasche Teachers Scotch. Danke.«
Der Page hatte unsere Koffer gebracht und wir hatten geduscht und uns umgezogen.
»Den Cocktail nehmen wir hier, zum Abendessen gehen wir dann runter. Aber jetzt reden wir erst mal. Wieso New York? Da warst du doch 52 schon und musstest nach Hause geschickt werden. Wieso glaubst du, da ist jetzt alles anders?«
»Ich habe einen Autor kennengelernt, John Killens. Als ich ihm erzählt habe, dass ich auch schreiben will, hat er mich nach New York eingeladen.«
»Der ist doch Schwarz, oder?« Seit der Scheidung von meinem ersten Mann, einem Griechen, hoffte meine Mutter auf einen afroamerikanischen Schwiegersohn.
»Mutter, er ist verheiratet. Darum geht’s nicht.«
»Umso schlimmer. Neunundneunzig Prozent der verheirateten Männer lassen sich wegen ihrer Freundinnen garantiert nicht scheiden, und das eine Prozent verlässt die neue Frau wegen einer noch neueren Freundin.«
»Ehrlich, darum geht’s nicht. Ich kenne auch schon seine Frau und seine Kinder. Ich gehe nach New York, wohne ein paar Wochen bei ihnen, bis ich eine Wohnung gefunden habe, und dann hole ich Guy nach.«
»Und wo wird der die zwei Wochen wohnen? Nicht allein in dem Riesenhaus. Er ist doch erst vierzehn.«
Wenn ich jetzt erzählen würde, er solle bei dem Mann bleiben, von dem ich mich gerade trennte, würde sie in die Luft gehen. Für Vivian Baxter war ihr gesundes Misstrauen ein Überlebensmechanismus. Nie würde sie einem enttäuschten Liebhaber zutrauen, ihren Enkel fair zu behandeln.
»Ein Freund kümmert sich um ihn. Ist ja nur für zwei Wochen.«
In stiller Übereinkunft dachten wir beide daran, dass sie mich und meinen Bruder zehn Jahre lang in die Obhut meiner Großmutter väterlicherseits gegeben hatte. Wir blickten uns an, sie machte zuerst den Mund auf.
»Du hast recht, es sind nur zwei Wochen. Dann lass dir mal erzählen, was ich so vorhabe. Ich gehe zur See.«
»Aha. Und dann? Springst du rein oder wie?«
»Ich gehe zur Handelsmarine.«
Von weiblichen Seeleuten in der Handelsmarine hatte ich noch nie gehört.
»Als Mitglied der Gewerkschaft der Köche und Stewards zur See.«
»Wieso denn das?« Meine Stimme überschlug sich fast. Sie war ausgebildete OP-Schwester, Immobilienmaklerin, verfügte über eine Lizenz als Friseurin und besaß ein Hotel. Wieso wollte sie ausgerechnet zur See gehen und das raue, wenig glamouröse Matrosenleben auf sich nehmen?
»Weil es hieß, als Schwarze Frau kommt man nicht in die Gewerkschaft. Weißt du, was ich denen erzählt habe?«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich es mir ganz gut vorstellen konnte.
»›Wetten?‹ habe ich gesagt. ›Bis zur Hüfte kriege ich den Fuß in die Tür, bis nämlich Frauen jeglicher Hautfarbe über meinen Fuß latschen können, in die Gewerkschaft gehen, und ab aufs Schiff.‹« Es klopfte. »Herein.«
Ein Schwarzer in Uniform machte die Tür auf und erstarrte vor Schreck, als er uns sah.
»Guten Abend. Stellen Sie das Tablett einfach dorthin. Danke.«
Der Page stellte das Tablett ab und blickte uns an.
»Guten Abend. Ihr habt mich ja ganz schön erschreckt, also echt. Das hätte ich nicht erwartet, also echt.«
Meine Mutter ging mit ein paar Scheinen in der Hand auf ihn zu.
»Wen haben Sie denn erwartet? Queen Victoria?«
»Nein, Ma’am. Nein. Ich meine … zwei von uns … hier im Hotel … das ist einfach noch neu, dass wir hier … und so.«
»Das ist für Sie.« Sie gab ihm das Trinkgeld. »Wir sind ganz normale Hotelgäste, danke und gute Nacht.« Sie öffnete die Tür und wartete. Als er »Gute Nacht« murmelnd hinausging, machte sie mit Nachdruck hinter ihm die Tür zu.
»Mom, du warst ja fast unverschämt.«
»Baby, ich seh das so. Er ist Schwarz und ich bin Schwarz, aber deshalb sind wir noch lang keine Verwandten. Komm, unsere Drinks.« Sie lächelte.
Im Lauf der nächsten zwei Tage präsentierte meine Mutter mich auch einmal voller Stolz alten Freunden, mit denen sie zwanzig Jahre zuvor Karten gespielt hatte.
»Das ist mein Baby. Sie war schon in Ägypten, in Mailand, Italien, in Spanien und in Jugoslawien. Sie ist nämlich Sängerin und Tänzerin, müsst ihr wissen.« Als ihre Freunde meine Errungenschaften gebührend bewundert hatten, setzte sie dem Ganzen die Krone auf: »Übrigens gehe ich selbst in ein paar Tagen aufs Schiff.«
Zum Abschied umarmten wir uns in der leeren Lobby des Desert Hotel; die Tagung war am Tag vor unserer Abreise zu Ende gegangen.
»Pass auf dich auf. Und auf deinen Sohn. Und denk dran, New York ist auch nichts anderes als Fresno. Dieselben Pappnasen, bloß größere Häuser. Schwarze können sich nicht ändern, weil die Weißen sich nicht ändern wollen. Verlang, was du brauchst, und dann zahl, was es kostet.« Sie gab mir einen Kuss und flüsterte: »Lass mich vorausgehen. Menschen, die ich liebhabe, sehe ich nicht gern von hinten.«
Wir umarmten uns noch einmal und ich blickte ihr nach, wie sie mit wiegenden Hüften ins grelle Licht draußen davonstöckelte.
Zu Hause holte ich tief Luft und rief Guy, der auch ins Wohnzimmer kam, nicht ohne sich rückwärts an den Türpfosten zu lümmeln.
»Guy, bitte setz dich, ich möchte mit dir reden.« Derzeit setzte er sich nur, wenn es unbedingt sein musste, lieber stand er gelangweilt über den Dingen. Demonstrativ mir zuliebe ließ er sich breitschlagen.
»Guy, wir ziehen um.« Aha, ein interessiertes Zucken im Blick, das er schnell unter Kontrolle brachte.
»Schon wieder? Okay, ich brauche zwanzig Minuten zum Packen. Hab ich schon mal getimt.« Jetzt wäre beinahe ich schmerzhaft zusammengezuckt.
In den neun Jahren seiner bisherigen Schullaufbahn hatten wir in fünf verschiedenen Vierteln von San Francisco gewohnt, in drei Wohngegenden von Los Angeles, in New York, auf Hawaii und in Cleveland. Ich reiste meinen Jobs hinterher, und gegen den Rat eines besserwisserischen Schulpsychologen hatte ich Guy immer mitgenommen. Der Psychologe war weiß und gebildet, und schon von daher gut situiert. Was wusste der schon, was ein kleiner Schwarzer Junge in einer rassistischen Welt wirklich brauchte?
Wenn wir Geld hatten, wohnten wir in schicken Hotels und riefen den Zimmerservice. Dann wieder hausten wir in Pensionen, wo ich Bettlaken als Raumteiler aufhängte und unsere Lieblingsgerichte unerlaubt auf einer kleinen Kochplatte zubereitete. Weil wir so oft umgezogen waren, hatte Guy kaum die Chance gehabt, Freundschaften zu knüpfen, aber wir beide hatten es immer lustig gehabt und waren immerhin zusammen gewesen. Jetzt, da ihn die Spätpubertät am Wickel hatte, war uns die Flachserei vergangen, und schon wieder ein Umzug stellte fast eine Zumutung dar.
»Das ist das letzte Mal. Praktisch sicher.«
Seine Miene verriet, was er davon hielt.
»Wir ziehen nach New York.« Wieder leuchteten seine Augen auf, um gleich wieder zu erlöschen.
»Am Samstag fliege ich hin. John und Grace Killens suchen uns schon eine Wohnung. Ich wohne einstweilen bei ihnen, und in zwei Wochen kommst du nach. In Ordnung?« Als Elternteil wird einem die eigene Macht so selbstverständlich, dass nur die Kinder sie noch sehen. Ich bat ihn nicht um sein Einverständnis, und da er das wusste, gab er keine Antwort.
»Ich dachte, ich frage mal Ray, ob er für die zwei Wochen hier einziehen möchte. Damit du nicht allein bist. Okay?«
»Bestens, Mutter.« Er stand auf. Er war so ein langer Lulatsch, dass ihm die Beine scheinbar bis unter die Achseln reichten. »Und jetzt entschuldige mich bitte.«
Damit endete dieser unbefriedigende Familienplausch. Und das Gespräch mit meinem Kavalier stand noch aus.
In der Morgensonne aneinandergeschmiegt betrachtete ich Rays wundervoll geschnittene hellbraune Züge, die wie immer eine gütige Ruhe ausstrahlten.
»Ich fliege am Samstag nach New York.«
»Ach? Hast du einen Vertrag?«
»Nein. Noch nicht.«
»Ohne Vertrag nach New York, ich weiß nicht, ob ich das so gern mache …«
Jetzt musste es raus.
»Es gehen nur Guy und ich. Und wir bleiben dort.«
Ein Ruck ging durch seinen Körper, und seine Miene entgleiste. Zum ersten Mal dachte ich, ihm lag vielleicht doch etwas an mir. Man konnte zusehen, wie er sich wieder in den Griff bekam, und nach einer Weile öffnete er die Fäuste, die langgliedrigen Finger lockerten sich, und der harte Zug um die Mundwinkel verschwand.
»Kann ich dir bei irgendwas helfen?«
Er erklärte sich bereit, bei uns zu wohnen und Guy in zwei Wochen zu mir zu schicken. Danach konnte er selbst bei uns einziehen oder die Wohnung auflösen. Und selbstverständlich würden wir Freunde bleiben.