Eines Montagmorgens erzählte mir Hazel, sie habe am Wochenende einen südafrikanischen Freiheitskämpfer sprechen gehört. Er sei so in die Tiefe gegangen und so brillant gewesen, dass selbst der größte Dummkopf der Menschheitsgeschichte einsehen müsse, dass das Apartheidssystem von Übel sei und gestürzt werden müsse. Sein Name sei Vusumzi Make (ausgesprochen wie Mah-keh).
Ein paar Ehrenamtliche, die auf dem Korridor herumstanden, hatten den Vortrag ebenfalls gehört und steuerten ihre Komplimente bei.
»Der schlaueste und coolste Afrikaner, der mir je begegnet ist.«
»Bisschen dick, aber unglaublich süß.«
»Sieht eigentlich irgendwie Dr. King ähnlich.«
Ich fragte noch einmal nach seinem Namen.
Hazel meinte, sie habe ihn sich aufgeschrieben, der Mann sei in den Vereinigten Staaten, um sich bei den Vereinten Nationen gegen die südafrikanische Apartheidspolitik einzusetzen. Er spreche später in der Woche noch einmal, vielleicht könnten wir ja zusammen hingehen? Vielleicht, sagte ich.
In meinem Büro stand ein Berg von Pappschachteln an der Wand. Ich machte eine nach der anderen auf, und in jeder lag ein wunderschönes Gepäckstück, mit einem Zettel dazu: »Alles Gute für meine Braut.« Angenehm berührt trat ich an meinen Schreibtisch.
Frank Sinatra, Peter Lawford, Joey Bishop und Sammy Davis Jr. hatten sich bereiterklärt, bei einer Benefizgala für die SCLC in der Carnegie Hall aufzutreten. Jack O’Dell, ein hochangesehener Organisator, der zu uns gestoßen war, hatte sich über den Saalplan hergemacht, und nun sollten Stanley, Jack, Jack Murray und ich Sektionen einteilen und die Preise für die einzelnen Sitzkategorien festlegen.
Hotelzimmer für das berühmte »Rat Pack« und seine Entourage mussten gebucht, Vertreter der Musikergewerkschaft kontaktiert und Tickets entworfen sowie in Auftrag gegeben werden. Es galt, finanzstarke Schirmherren zu akquirieren und Kirchen anzusprechen, ob sie nicht blockweise Tickets abnehmen wollten.
Eines Freitags, als wir wie üblich spätnachmittags noch zugange waren, verabschiedete sich Hazel mit den Worten, heute spreche doch Make und sie wolle sich mit ihrem Mann frühzeitig treffen, damit sie gute Plätze bekämen. (Dass ich nicht mitkonnte, stand außer Frage, und das wusste sie.)
Als sie ging, bat ich sie, für mich mitzuschreiben und mir am Montag alles haarklein zu berichten.
Die Arbeit überwucherte auch mein Wochenende. Guy bekam ich überhaupt nur zu Gesicht, als er ins Büro kam, um sich einer Gruppe von Schwarzen und weißen jungen Helfern anzuschließen. Thomas machte Nachtschicht, sodass ich spät abends mit der U-Bahn nach Brooklyn fuhr und durch die stillen Straßen nach Hause lief. Guys Zettel auf dem Esstisch ließ mich wissen, dass er auf einer Party war. »Halb eins wieder zu Hause.« Halb eins war das absolute Limit, schließlich war er gerade mal fünfzehn. Ich war streng, und er normalerweise vernünftig. Ich würde mich also mit einem Buch aufs Bett legen und wach bleiben, um sicherzugehen, dass er sich an sein Versprechen hielt.
Am nächsten Morgen lag ich noch genauso da, und Guy schlief unschuldig in seinem Zimmer.
Make hatte sich noch eloquenter gezeigt als beim vorigen Mal. Ein Störer habe gefragt, warum sechzehn Millionen Afrikaner sich von drei Millionen Weißen schikanieren ließen, und Make darauf hingewiesen, dass wir Schwarzen Amerikaner lediglich ein Zehntel der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ausmachten, uns aber von Anfang an, seit wir als Sklaven hergebracht wurden, nicht alles hatten gefallen lassen, sondern uns gewehrt hätten.
Make sei einfach umwerfend gewesen, berichtete Hazel. Begonnen habe er mit dem Kampf der Schwarzen Amerikaner, und er kenne sich in der Geschichte besser aus als die meisten von uns. Er sprach über Denmark Vesey und Gabriel und all die anderen bekannten Anführer von Sklavenaufständen, er zitierte Frederick Douglass und Marcus Garvey, und er bezeichnete Dr. Du Bois gar als Vater des Panafrikanismus, da er den panafrikanischen Kongress in Paris nicht nur mitorganisiert, sondern dort auch klar und deutlich die Idee eines freien und vereinten Afrika propagiert habe. Anschließend habe Make systematisch dargelegt, wie Afrika durch die Sklaverei ausgeblutet worden sei, wie seine stärksten Söhne und Töchter geraubt wurden, um das Land der Sklaven aufzubauen. Der zweite demütigende Schlag für den Kontinent sei der Kolonialismus gewesen. Der Geist Afrikas sei lebendig, am stärksten allerdings in denjenigen seiner Nachkommen, die fern vom Mutterland ihren Kampf fochten. Zu Hause in Südafrika brauchten die Menschen Hilfe und Ermutigung von denjenigen von uns, die die Sklaverei am eigenen Leib erfahren hatten und den Unterdrücker als furchterregenden, aber nicht unbesiegbaren Feind erlebt hatten.
Ich notierte mir, dass ich Make beim nächsten Mal auch hören wollte. Wieder machten jedoch die Pflichten meiner Absicht einen Strich durch die Rechnung. Am Donnerstagvormittag rief dann John Killens an.
»Maya, ich war gestern auf einem Vortrag von Make. Dachte eigentlich, ich treffe dich da.«
Ich erklärte ihm, dass der Carnegie-Hall-Termin nun einmal näherrücke.
»Also, wenn du morgen Abend Zeit hast«, sagte er, »dann komm doch zu uns. Grace und ich haben ein paar Leute eingeladen, damit sie ihn kennenlernen können.«
»Morgen Abend sitze ich auch wieder lang im Büro.«
»Komm einfach, wann du magst. Wir fangen gegen acht an, und das Ganze geht sicher bis eins oder zwei. Make ist als Vertreter des Pan Africanist Congress hier, das ist zwar die radikale Organisation, aber er hat Oliver Tambo dabei, den Kopf des African National Congress, und der ANC verhält sich zum PAC wie die NAACP zu den Black Muslims. Die beiden Männer können aber miteinander. Schau doch, dass du es schaffst.«
Bevor ich am nächsten Morgen aus dem Haus ging, weckte ich Guy und bat ihn, zu John und Grace zum Abendessen zu gehen, wir würden uns um halb zehn dort treffen.
Das schlechte Gewissen, dass ich als Mutter unberechenbar und zu oft abwesend war, würde mich schon zu den Killens treiben.
Ich verließ das Büro ein bisschen früher, und als John mir die Tür öffnete, durchquerte ich auf dem schnellsten Weg die Menge von bekannten und unbekannten Gesichtern und traf Guy mit Chuck, Barbara und Mom Willie in der Küche an. Guy blickte hoch, dann auf die Uhr und grinste.
Mom Willie bot mir etwas zu essen an, aber ich lehnte ab, ich würde mal lieber losgehen und die Ehrengäste begrüßen.
»Er wird dich umhauen, Mom«, sagte Guy. »Wir haben uns ein bisschen unterhalten. Der ist verdaustiger wie alle glassen Wieben.« Dass Guy, der sich so bemühte, erwachsen zu wirken, seinen Lieblingsspruch aus »Alice hinter den Spiegeln« hier anbrachte, war mehr als erstaunlich. Make hatte bewirkt, dass mein reservierter Sohn sich entspannte und wieder blödelte wie ein Kind.
Ich ging ins Wohnzimmer und begrüßte Paule und John Clarke, Sarah Wright und Rosa.
Im ganzen Raum knisterte es wie in einem alten Radio. John Killens stellte mich einem kleinen gepflegten Mann mit dunkler Haut vor.
»Maya Angelou, ich möchte dich mit Oliver Tambo bekannt machen, einem Kämpfer aus Südafrika.« Tambo gab mir mit einer Verbeugung die Hand.
»Und ich möchte dich mit Vusumzi Make bekannt machen, ebenfalls ein südafrikanischer Kämpfer.«
Makes Aussehen traf mich unerwartet. Ich hatte ihn mir älter und sehr groß vorgestellt. Er war fast zehn Zentimeter kleiner als ich und hatte ein Babyface mit Speck ringsherum. Schultern und Hüften waren breit, das ganze Paket steckte in einem wunderschön geschnittenen Nadelstreifenanzug, und er war erst Anfang dreißig.
»Miss Angelou, wie schön, Sie kennenzulernen. Sie repräsentieren den Schwarzen Helden Martin King, so wie ich den südafrikanischen Schwarzen Helden Robert Sobukwe repräsentiere. Hazel Grey hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Auch ohne offizielle Vorstellung hätte ich Sie gleich erkannt, ich habe mich nämlich schon mit Guy unterhalten.«
Sein Akzent war hinreißend, das Resultat aus einer betont britischen Sprechweise, beeinflusst vom Rhythmus einer afrikanischen Sprache und der Anmut afrikanischer Lippen. Ich lächelte ihn an und ging weiter, da ich mich abseits hinsetzen und zu mir kommen musste. So ein Mann war mir noch nie begegnet. Er war intensiv und verhalten zugleich, und dass er entschieden Übergewicht hatte, ging offenbar völlig an ihm vorbei. Johns Formulierung hatte es wahrscheinlich auf den Punkt getroffen: Er war ein Kämpfer, sich seiner Feinde gewiss, aber auch seiner Waffen.
Rosa ließ ihren afrikanischen Diplomaten stehen und setzte sich zu mir auf die Couch. »Jetzt hast du Make also kennengelernt. Er hatte schon darum gebeten, dass ihr einander vorgestellt werdet. Take it easy, Kid.« Sie schenkte mir ihr schönstes Lächeln und gesellte sich wieder zu ihrem Begleiter.
Paule Marshall baute sich vor mir auf. »Hör mal gut zu, Maya Angelou, was hast du denn mit Make angestellt? Er will dich näher kennenlernen, sagt er.«
Ich hätte bloß hallo gesagt, erwiderte ich.
»Das muss ja ein Höllen-Hallo gewesen sein. Mich hat er jedenfalls gefragt, wie gut ich dich kenne und ob du verheiratet bist.« Paule zwinkerte mir lachend zu. »Ich habe natürlich kein Wort verraten. Liegt jetzt an dir.«
John und Grace scheuchten alle Gäste wieder ins Wohnzimmer, und jeder suchte sich eine Sitzgelegenheit. Als die Stühle und Sofas rar wurden, hockten sich die Leute auf Fußbänkchen oder quetschten sich zwischen Couches auf den Boden. John präsentierte Oliver Tambo, der knapp und mit verhaltener Wut über Südafrika, den ANC und seinen Präsidenten Chief Albert Luthuli referierte.
Wir applaudierten dem Mann und der Sache, die ihn in die USA gebracht hatte. Dann stellte John Mr Make vor, und meine Liebe war nicht länger in Händen von Thomas Allen.
Make sprach zunächst im Sitzen, doch dann ließ die Leidenschaft seine Stimme laut werden und hob ihn aus dem Sessel. Er war nach dem Sharpeville-Massaker des Hochverrats angeklagt worden. Die Afrikaner – Mitglieder von ANC und PAC, aber auch Menschen, die keiner Organisation angehörten – hätten sich 1958 zusammengetan, um gegen die Unterdrückung in ihrem Land Widerstand zu leisten. Martin Luther King und die SCLC hätten sie dazu inspiriert. (Er blickte zu mir und nickte.) Das Beispiel von Malcolm X und den Muslims wiederum hätte sie dazu ermuntert, sich von ihren Unterdrückern klar zu distanzieren.
Als er fertig war, öffnete er die Runde für Fragen, setzte sich und tupfte sich das Gesicht mit einer Wolke von weißem Taschentuch ab.
Meine erste Reaktion war, das weiße Taschentuch in seiner dunklen Hand sein zu wollen, um seine Stirn zu berühren und mich sanft in seine Mundwinkel zu schmiegen. Intelligenz hatte schon immer eine pornografische Wirkung auf mich.
Die erbetenen Fragen ließen nicht lange auf sich warten.
»Welche Organisation ist in Südafrika die beliebteste?« Ob er wirklich mit mir flirtete?
Ob sich Luthuli und Sobukwe vertrugen? Verhielten sich dicke Männer im Bett eigentlich so ähnlich wie dünne?
In welchem Alter Südafrikaner durchschnittlich politisch bewusst würden? Ob er verheiratet war?
Was wir als Schwarze Amerikaner dafür tun könnten, um den Kampf zu beschleunigen? Wie lang blieb er wohl in New York?
Make und Tambo teilten sich die Fragen und schossen ihre Antworten als Volleys hin und her wie Tennisprofis.
Make drehte sich zu mir. »Hat Miss Angelou nicht auch eine Frage?« Meine Bühnenerfahrung bewahrte mich davor, im Boden zu versinken. Alle Aufmerksamkeit ruhte plötzlich auf mir, ich stopfte meine echten Fragen in die hinterste Schädelecke und flötete: »Mr Make, wäre es denn möglich, das südafrikanische Problem durch die Anwendung gewaltfreier Mittel zu lösen?«
Er stand auf und kam zu mir her. »Was für Ihren Reverend King funktioniert, kann in Südafrika nicht funktionieren. Hier gibt es eine Verfassung, ob man sich an sie hält, ist eine andere Frage. Aber hier steht zumindest im Gesetz: Freiheit und Gleichheit für alle. Sie können vor Gericht ziehen und haben eine gewisse Chance auf Erfolg. Sehen Sie sich nur die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1954 an. In Südafrika sind wir Afrikaner schlicht vom Recht ausgenommen. In Gesetzestexten, die das Fair Play regeln, kommen wir schlicht nicht vor. Wir werden nicht nur de facto unterdrückt und entmenschlicht, wir sind de jure nicht vorhanden.«
Er stand vor mir, und ich kam mir vor wie ein Glückspilz. Was für ein Glück, Schwarze Amerikanerin zu sein und im Vergleich zu ihm und seinem Volk vom Rassismus nur leicht beeinträchtigt. Ein Glückspilz eben. Sein Blick hing an mir, und ich hätte schon naiver als ein neugeborenes Ferkel sein müssen, um nicht zu merken, dass ihn irgendetwas an mir faszinierte.
Ich lehnte mich mit verschränkten Armen zurück, während er seine Argumentation ausbaute. Als er fertig war, gab es stehende Ovationen, und in Sekundenschnelle war er von einem Grüppchen aufgeregter Leute umringt.
Über die Umstehenden hinweg trafen sich noch mehrmals unsere Blicke, aber er kehrte nie in meine Ecke zurück. Nach noch einem Drink machte ich mich auf den Weg zu Guy; meine Tage begannen ja früh und Guy hatte seinen Bäckereijob wieder angefangen.
An der Tür hielt Make uns auf.
»Moment mal, Miss Angelou. Guy, es wäre mir eine Ehre, deine Mutter nach Hause zu bringen.«
Make wusste genau, dass Guy um Erlaubnis zu bitten bei uns beiden gut ankommen würde. Mein Sohn lächelte und genoss die altertümliche Förmlichkeit, wie live aus den drei Musketieren oder den korsischen Brüdern.
»Danke, Mr Make. Ich bringe sie selber nach Hause.«
Ich hätte ihn zwicken können, bis er schrie.
»Selbstverständlich. Trotzdem besten Dank.« Der Fleischberg machte eine angedeutete Verbeugung aus der Hüfte. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, Miss Angelou. Gute Nacht. Gute Nacht, Guy.«
»Er weiß ja nicht, dass du verlobt bist, sonst hätte er nie gefragt, ob er dich nach Hause bringen darf.« Guy schnatterte den ganzen Weg nach Hause. »Aber er ist echt schlau. Er kommt aus dem Volk der Xhosa, du weißt schon, der Click Song von Miriam Makeba, also, das ist seine Sprache. Er war Barrister, also Anwalt, bevor sie ihn unter Bann gestellt haben und er aus Südafrika geflohen ist.«
»Wann hat er dir denn das alles erzählt?«
»Er kam in die Küche und hat sich mit Chuck und Barbara und mir unterhalten. Er kam einfach rein, stellte sich vor und setzte sich zu uns.«
Die meisten Politiker, die ich kannte, Martin Luther King mal ausgenommen, hielten es für eine Verschwendung ihrer Erwachsenenzeit, sich mit Jugendlichen abzugeben. Der Afrikaner gefiel mir immer besser. Und selbstredend würden wir uns nie wiedersehen, und falls doch, stand ja die heraufziehende Hochzeit zwischen Thomas und mir im Weg.
Am nächsten Morgen rief Paule an, um zu sagen, sie gebe am Abend eine kleine Party und ich müsse unbedingt kommen. Ich hatte wieder einen langen Abend in der Arbeit vor mir, und bis ich dann in Brooklyn war und mich umgezogen hatte, hätte ich bestimmt keine Lust, noch mal nach Manhattan zu fahren. Sie drängte mich, doch gleich nach der Arbeit vorbeizukommen, die Party werde ganz ungezwungen. Okay, ich würde vorbeischauen.
Am späten Nachmittag rief ich bei John an, ich hätte mich wirklich sehr gefreut, Make kennenzulernen, und er sei ja schon eine imposante Erscheinung. Das sei er, meinte John, übrigens könne ich ihn am selben Abend bei Paule schon wiedersehen; die Party finde zu Ehren von Oliver Tambo und Make statt. Stundenlang brütete ich über den verschiedenen Möglichkeiten. Wenn wir uns noch mal trafen und er sich wieder so ins Zeug legte, hätte ich dann die Kraft zu widerstehen, und wollte ich das überhaupt? Andererseits war gestern Abend lange vorbei, und womöglich brachte er ja eine Frau mit zu Paule. Wenn er hartnäckig blieb und ich weich wurde, würde ich mich von Thomas trennen müssen, und mein Traum von einem ruhigen Leben würde sich in Luft auflösen. Make würde das Land verlassen, und ich dürfte wieder bei null anfangen, oder schlimmer noch, einsam und mit einem gebrochenen Herzen.
Ich nahm die U-Bahn direkt zurück nach Brooklyn. Es war Freitagabend. Guy verschlang sein Abendessen und gab mir einen Kuss. Er wollte los zu einer Party, sei aber um halb eins wieder zu Hause.
Nachdem ich geduscht hatte, machte ich es mir mit einem Buch, einem Drink und einer Schachtel Zigaretten im Bett gemütlich. Der Geist von Paules Party fiel ins Zimmer ein. Lachende Schwarze Gespenster redeten durcheinander und umstellten mein Bett, Make mittendrin, sein hübsches Vollmondgesicht aufmerksam, die Wörter von seinem Akzent hinreißend verbogen, seine Logik unanfechtbar. Und wenn ich doch auf die Party ging … ich rief bei Thomas an. Er ging nicht ran. Ich hatte doch ein gutes, ziemlich neues Outfit, das ich anziehen könnte, und offene Sandalen mit High Heels. Es würde gar nicht so lang dauern, bis ich umgezogen wäre, und wenn ich dann die Subway zum Times Square nahm, könnte ich dort in den AA Local umsteigen und käme drei Blocks von Paule wieder raus. Eine halbe Stunde später stand ich bei ihr vor der Tür. Drinnen war die Party in bestgelauntem Gang. Der Plattenspieler lief auf moderater Lautstärke, und Jazzklänge untermalten das Stimmengewirr.
Ich drängte mich durch die überfüllte Diele und steuerte aufs Wohnzimmer zu. Auf Höhe der Küchentür hörte ich von links Makes Stimme.
»Miss Angelou.« Mit breitem, einladendem Lächeln kam er auf mich zu. »Ich hätte Sie beinahe schon aufgegeben.« Er nahm meine Hand. »Paule meinte, Sie kämen direkt von der Arbeit hierher. Aber wahrscheinlich sind Sie doch erst nach Hause, um sich frischzumachen.«
Ich nickte und entschuldigte mich, ich müsse Paule begrüßen. In Wahrheit musste ich mich aus dem Bannkreis dieses Mannes lösen. Funken schienen zwischen ihm und meinen Nippeln und Gehörgängen zu sprühen, meine Achseln prickelten, und mein Mageninhalt fiel ins Bodenlose. Ich war noch nie im Leben ohnmächtig geworden, aber in dem Moment hatte ich das Gefühl, in einen warmen, schwarzen, freundlichen Pool zu sinken.
Paule lachte, als sie mich sah. »Na, also das hast du ja wohl nicht in der Arbeit getragen. Du hast ein Auge auf ihn geworfen, stimmt’s oder hab ich recht, Maya Angelou?«
Ich war beleidigt und wies ihre Anschuldigung zurück. »Ich werde heiraten, Paule, ich bin doch kein kleines Flittchen.«
Das brachte nun wieder sie auf die Palme. »Na, entschuldigen Sie vielmals, Miss Saditty.« Sie drehte sich um und gesellte sich zu anderen Gästen. Ich Dussel. Jetzt hatte ich gelogen und gleichzeitig meine Freundin verletzt. Make machte keinen weiteren Versuch, mit mir zu sprechen.
Die Musik brach ab, und über dem leiser werdenden Geräuschpegel war Oliver Tambos Stimme zu hören. Er sprach knapp, inhaltlich eine Wiederholung der Rede vom Vorabend. Ken Marshall bat Make, auch ein paar Worte zu sagen, worauf der in die Mitte des Wohnzimmers trat. Statt ihm zuzuhören, nutzte ich die Gelegenheit, seine Gestalt unter die Lupe zu nehmen. Er hatte kurz geschnittenes, weich gekräuseltes Haar und glatte dunkelbraune Haut; große, runde schwarze Augen, deren Blick langsam, jede Einzelheit aufnehmend, über die Zuhörer schweifte. Am Kinn hatte er ein paar Härchen, durch die er sich beim Reden mit den Fingern strich. Über einer eingekerbten Taille erhob sich mächtig die Brust, die Hüften waren fast weiblich üppig; unter den scharfen Bügelfalten berührten sich dicke Oberschenkel, in blank polierten Schuhen steckten kleine Füße. Ich beendete meine Investigation mit dem Befund, Make war der ideale Mann.
Ich sandte ihm ein paar schmachtende Blicke und raste, kaum drehte er mir den Rücken zu, hinunter und hielt ein Taxi an. Die Kosten für die Fahrt nach Brooklyn rechtfertigte ich vor mir mit dem Argument, ich würde schließlich für meine Ehre bezahlen.
Am Samstagabend veranstaltete die Society for African Culture ihren jährlichen Black-Tie-Ball im Festsaal eines Hotels in Midtown, und von mir als Koordinatorin der SCLC wurde die Teilnahme dort erwartet. Da Thomas wieder bis spät in die Nacht arbeitete, traf ich mich mit Rosa und ihrer Begleitung in Manhattan. Ihr afrikanischer Diplomat der Stunde trug eine bestickte Hose mit dazu passendem wallendem, bodenlangem Gewand. Der Mann war tiefschwarz und sah umwerfend aus. Seine fraglose Würde strafte jede Vorstellung, Schwarze seien von Natur aus minderwertig, Lügen. Allein seine Ausstrahlung widerlegte den Gedanken, unsere Vorfahren seien vor dreihundert Jahren, als die Weißen sie auf dem afrikanischen Kontinent überfielen, nackte Untermenschen gewesen, die auf Bäumen lebten. Eine derartige Eleganz lernte man nicht in dreihundert Jahren.
Der Ballsaal war randvoll mit gekonnt geschminkten und frisierten Schwarzen Frauen in Dior und Balenciaga oder von der örtlichen Schneiderin heruntergeratterten Kleidern. Afrikanische Frauen glitten mit abgeklärter Miene in ihren bunten Nationalgewändern durch den Saal, und auch ein paar Weiße hatten sich unter die Schwarzen Smokingträger oder Männer in Gewändern wie Rosas Freund gemischt. Ich ließ meine Freunde stehen, um an dem Tisch vorbeizuschauen, der für die SCLC reserviert war. Die Greys sahen den tanzenden Pärchen zu; und als ich ihnen einen Gruß zurief, fuhr Hazel herum.
»Ach, da bist du ja. Dann hast du ihn also doch noch kennengelernt.« Ich wusste genau, wen sie meinte. »Er war vor ein paar Minuten hier und hat nach dir gefragt.«
Da kam er schon über die Tanzfläche herüber, wie ein Ozeandampfer durch eine Reihe von Schleppern auf den Pier zu. Er forderte mich zum Tanzen auf.
Für seine Körperfülle bewegte er sich erstaunlich geschickt, und seine Freude am Tanzen nahm ihm etwas von seinem Ernst. Als er mich an sich zog, war die Härte unter den Fettschichten zu spüren. Er lachte.
»Sie fürchten sich vor mir, stimmt’s? Eine erwachsene Frau wie Sie, eine kultivierte Amerikanerin, hat Angst vor einem kleinen Schwarzen Mann vom Dunklen Kontinent.«
»Wovor soll ich mich denn fürchten?«
Er lachte immer noch. »Vielleicht glauben Sie, ich halte Sie für eine Missionarin und fresse sie.«
»Ich glaube nichts dergleichen. Aber wenn mehr Afrikaner mehr Missionare gefressen hätten, wäre der Kontinent in einem besseren Zustand.«
Er blieb stehen und blickte mich anerkennend an. »Miss Angelou, Sie haben allen Grund zur Beunruhigung. Ich beabsichtige, Ihr Leben zu verändern. Ich nehme Sie mit nach Afrika.«
Ich straffte die Schultern und setzte eine wenig einladende Miene auf. »Mr Make, ich werde in zwei Monaten heiraten. Ihr Plan ist also zum Scheitern verurteilt.«
»Das habe ich gehört, aber wo ist denn der scheue Bräutigam? Ich bin Ihnen jetzt drei Mal begegnet, und bis auf Ihren Sohn waren Sie immer ohne männliche Begleitung.«
Ich verteidigte Thomas. »Mein Verlobter arbeitet.«
»Und welchen Beruf übt dieser eifrige Mann aus?«
Er grinste. Die Antwort kannte er schon.
»Er ist Kautionsagent. Und wir treffen uns heute Abend nach der Veranstaltung.«
Make packte meine Hand und führte mich an meinen Tisch. Er rückte mir den Stuhl zurecht, und dann beugte er sich zu mir herunter und flüsterte: »Ich bin es unserem Volk schuldig, Sie zu retten. Wenn Sie Ihren verdammten Verlobten sehen, richten Sie ihm aus, dass ich hinter Ihnen her bin und dass mit mir zusammen jeden Tag Samstagabend ist und dass ich Schwarz bin und gefährlich.«
Er ging, und mir stand fast das Herz still.
Früh und allein fuhr ich nach Hause. Guy schlief bereits; das Haus fühlte sich an wie eine gähnende Höhle.
Thomas ging ran. Ob ich mich auf dem Kostümball amüsiert hätte? Nein, er sei zu müde, um mich abzuholen. Nein, ich solle kein Taxi nehmen, schließlich würden wir uns ja am nächsten Tag sehen. Er hatte mich ins Kino eingeladen.
Der Schlaf kam nicht aus freien Stücken. Meine Gedanken rasten, jagten sich gegenseitig wie ausgelassene Kinder beim Fangenspielen. Einen Mann heiraten, mit dem ich noch nicht mal geschlafen hatte, und nach Afrika gehen. Martin King und meinen eigenen Kampf verlassen – aber die Schwarzen Kämpfe waren doch alle ein und derselbe, mit einem einzigen Feind und einem einzigen Ziel. Thomas würde mich mit seiner Dienstpistole erschießen. Wieso war Make so scharf auf mich? Er kannte mich doch gar nicht, genauso wenig meinen Hintergrund. Andererseits kannte ich ihn ja auch nicht. Und was war mit Guy? Make erwartete ja wohl nicht, dass ich meinen Sohn im Stich ließ. Eine Gelegenheit für Guy, in Afrika erwachsen zu werden. Und wenn der Mann zu dick war, um mit einem zu schlafen? Ich wusste von Schwarzen Frauen, die ihre Männer kastriert hatten, weil die keinen Sex wollten. So weit würde ich nicht gehen; andererseits würde ich wohl nicht bei einem Mann bleiben, der mich nicht befriedigen konnte. Solche Spekulationen waren Zeitverschwendung. Ich würde Thomas heiraten, und wir würden ein nettes, zufriedenes Leben in Brooklyn führen.
Der Film am nächsten Abend war sterbenslangweilig. Unter dem Vorwand, einen Softdrink zu holen, ging ich hinaus, und dann saß ich rauchend im Vorraum und fragte mich, was Make wohl gerade machte. Patrice Lumumba war ebenfalls in New York, Rosa wollte ihn und seinen Assistenten Thomas Kanza treffen, Abbey und Max traten im Village auf, Malcolm X sprach auf einer Versammlung in Harlem, und irgendwo ließ Make seine schillernden Worte auf die Zuhörer herabregnen. Guy war bei einer Jugendlichen-Demo im Washington Square Park. Die Welt stand in Flammen.
Thomas lenkte das Auto Richtung seiner Straße.
»Ich möchte nicht mit zu dir«, sagte ich.
Er wandte den Kopf, aber ich blickte weiter nach vorn.
»Alles in Ordnung bei dir? Du bist doch nicht schon wieder so weit, oder?«
»Nein, ich will einfach nur nach Hause.«
Nein, er habe mich nicht verstimmt. Nein, ich sei nicht krank.
Wir lebten in aufregenden Zeiten, sagte ich, und da die Vereinten Nationen in New York ansässig seien, fänden Afrikaner und Unterdrückte aus aller Welt hier eine Bühne, um für die Gerechtigkeit zu kämpfen.
»Ich habe in Afrika nichts verloren, und die haben in unserem Land nichts verloren. Von mir aus können die alle wieder da hin, wo sie herkommen. Außerdem habe ich in meinem Job genügend Aufregung, da will ich zu Hause wirklich nichts von Politik hören.«
Für Thomas war das eine lange Rede, und für unsere Beziehung eine desaströse. Ich konnte mir vorstellen, wie mir bei zukünftigen Gesprächen der Mund verboten würde. Tage, Wochen und Monate würden vergehen, ohne dass einer von uns mehr als Smalltalk von sich gab.
Zu Hause machte ich Abendessen und wartete allein, bis Guy wiederkam.
Die nächsten Tage brachten eine Fülle von bunten Blumensträußen und Vasen voll roter Rosen auf meinem Schreibtisch, so dass ich mich fühlte wie eine begehrte Kurtisane. Auf den Begleitkarten stand »Von Vusumzi Make für Maya Angelou Make.« Hazel wirkte beunruhigt, und Millie grinste, als hätten wir beide ein Geheimnis.
Thomas wiederum ließ zur selben Zeit weitere Hochzeitsgeschenke anliefern. Junge Männer in schäbigen Klamotten hievten Kartons die Treppe hoch und deponierten sie im Vorraum. »Von Tom für Maya.« Als ich die Schachteln öffnete, kamen ein mit feinem Leder bezogener Plattenspieler und noch zwei zum Set passende Gepäckstücke zum Vorschein. Es war ein schmeichelhaftes Geschenk, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass es sich um Hehlerware handelte.
Ich verweigerte Makes tägliche Einladungen zum Lunch und lehnte Thomas’ Angebot ab, bei ihm vorbeizukommen.
Ich hatte mich hoffnungslos verfranst und kannte mich selber nicht mehr aus.
Die Büropolitik tat ein Übriges, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Trotz aller Überstunden und meines – für meine Begriffe – eifrigen Engagements waren zwei weitere Männer ins Spitzenteam der Organisation berufen worden. Ich hatte in der Sache nichts zu sagen gehabt.
Nach einem Business Lunch mit der Präsidentin eines nationalen Clubs Schwarzer Frauen, bei dem wir den Ankauf eines größeren Ticketpakets diskutiert hatten, wurde mir nahegelegt, das Ergebnis an die zwei Neulinge zu berichten. Als ich mich weigerte und auf meiner Autonomie bestand, begannen sich die Loyalitäten zu verschieben. Ein freundliches Lächeln zur Begrüßung am Morgen verschwand hier und blitzte hell wie die Sonne dort. Grüppchen von Mitarbeitern scharten sich um die Schreibtische der Neuankömmlinge, während Hazel und Millie jede noch so kleine Gelegenheit nutzten, um zu mir ins Büro zu kommen, mit Kaffee oder Neuigkeiten, der frisch eingetroffenen Zeitung oder der Post.