Am Donnerstagvormittag ließ ich mich darauf ein, mich mit Make ein paar Blocks vom Büro zum Lunch zu treffen. Ich würde ihm erklären, warum er meine Absage akzeptieren musste.
Wells’ Restaurant, der Stolz von Harlem, an der 132sten Straße Ecke Seventh Avenue, war seit den zwanziger Jahren populär, damals ein Lieblingsstopp auf der Route von Weißen, die sich den von ihnen immer wieder so genannten »Nigger Heaven« anschauen wollten.
Das Essen war nach wie vor gut, auf der Karte standen nach wie vor ein paar weiße Gerichte wie Steaks und Lammkoteletts, aber die Hauptattraktionen Brathähnchen, Schweinekoteletts mit Soße oder Short Ribs mit Brötchen schmeichelten dem Gaumen vor Ort.
Als ich eintrat, stand Make auf. Er trug wieder einen anderen gutsitzenden Anzug mit Maßhemd. Auf die Schuhe musste ich gar nicht schauen, um zu wissen, dass sie blitzten wie neu. Bevor ich mich setzen konnte, fing er schon an zu reden.
Er freue sich, dass ich meine Schüchternheit überwunden hätte. Dass ich gekommen sei, zeige meinen Mut, eine unabdingbare Tugend im Kampf, eine Voraussetzung. Er habe mit Paule Marshall telefoniert und ihr erzählt, dass er vorhabe, mich zu heiraten und mit nach Afrika zu nehmen. Ich konnte mich zwar nicht auf die Speisekarte konzentrieren, aber wir bestellten trotzdem. Er redete weiter und ich kaute irgendetwas, das ich weder sah noch schmeckte.
Er war in Südafrika aus politischen Gründen verhaftet worden. Als er von Staats wegen freikam, brachte ihn die Polizei in ein abgelegenes Wüstengebiet nahe Südwestafrika und ließ ihn dort, hunderte von Meilen von den nächsten Menschen entfernt, laufen. Als Stadtkind, dem das offene Land fremd war, war er über Felsgrate geklettert und auf Wasser gestoßen; er zupfte Raupen aus Büschen und aß sie (sie schmeckten ähnlich wie Shrimps), und als er einer Gruppe von jagenden Buschmännern begegnete, bekam er, weil er ein paar Wörter ihrer Sprache konnte, Trockenfleisch und einen kleinen Wasserbeutel von ihnen. Große Städte mied er, und mit den Sternen als Orientierung schlug er sich zu Fuß von Südafrika nach Betschuanaland durch. Da der lange Arm der Buren auch dorthin reichte, hielt er sich meist im Wald auf. Mit einer selbstgebastelten Schleuder fing er Kleintiere und aß sie roh, sofern die Lage nicht sicher genug schien, um ein kleines Feuer zu entfachen, ansonsten auch gebraten. Mit den Fellen polsterte er seine ausgetretenen Schuhe oder steckte sie sich ins Hemd, um sich zu wärmen. Tage vergingen, an denen er nichts sah, was sich bewegte, nur die hoch oben am Himmel träge kreisenden Geier. Er durchquerte Süd- und Nordrhodesien, hatte spärlichen Kontakt mit Revolutionären, von denen er gehört hatte, die sich aber ihrerseits versteckten oder auf der Flucht waren. Den ersten freien Atemzug konnte er tun, als er in Äthiopien eingetroffen war.
»Ich war das erste Mitglied des panafrikanischen Kongresses, dem die Flucht gelang. Aber, Miss Angelou, als ich ohne Wasser oder Lebensmittel unterwegs war, hatte ich fest vor, nach Äthiopien zu kommen. Als ich mich auf die Reise in die Vereinigten Staaten machte, hatte ich das feste Vorhaben, eine starke, schöne Schwarze Amerikanerin zu finden, die mir Beistand sein würde, der der Kampf vertraut war und die keine Angst hatte, selber zu kämpfen. Ich habe von Ihnen gehört, und Sie klangen genau danach. Dann habe ich Guy kennengelernt und war beeindruckt von seinem erwachsenen Auftreten und seiner Intelligenz, offensichtlich Ihr Werk, und dann sah ich Sie.«
Quer über den Tisch nahm er meine Hand. Seine kurzen braunen Finger verjüngten sich nach vorn, hin zu kleinen weißen Fingernägeln. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese erlesenen Hände zappelnde Raupen zum Mund führten.
»Sie sind genau das, wovon ich auf meinem langen Marsch geträumt habe. Sie brauchen Liebe, Sie sind bereit zu kämpfen und Sie brauchen Schutz. Und nicht den Schutz eines verdammten Kautionsagenten.«
O Gott, apropos.
»Mr Make, ich habe mich auf ein Mittagessen mit Ihnen eingelassen, um Ihnen zu sagen, dass ich den verdammten Kautionsagenten heiraten werde.«
Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht zurück, und sein Gesicht verschattete sich resigniert.
»Sie brechen mir das Herz. Ich bin ein Afrikaner mit großen Aufgaben. Ich habe meinen Vater und meine Mutter in Jo’burg zurückgelassen, und wenn es so weitergeht, sehe ich sie nie wieder. Wenn nicht noch zu meinen Lebzeiten die Revolution stattfindet, sehe ich auch das Land nie wieder. Für einen Afrikaner sind die Familie und das Land … ich brauche Sie. Ich möchte Sie heiraten.«
»Es tut mir leid.« Und das meinte ich weiß Gott ehrlich.
»Morgen ist meine Mission bei den Vereinten Nationen beendet. Übermorgen fliege ich nach Amsterdam, eine offene Stadt, wo angeblich der Whiskey billig ist und einem einsamen Mann allerlei Ablenkung zur Verfügung steht.«
Ich sah diese zarten Hände über den Körper und durchs Haar weißer Frauen wandern. Aber weiße Lippen würde er doch nicht küssen?
»In Amsterdam bleibe ich vier oder fünf Tage, und dann reise ich weiter nach Kopenhagen, auch eine offene Stadt. Mein Verlangen nach Ihnen ist umfassend, Miss Angelou, ich begehre Ihren Geist, Ihre Seele und Ihren Körper. Ich mag ein Afrikaner mit einer Mission sein, aber ich bin auch ein Mann. In zehn Tagen werde ich auf einer Konferenz in London erwartet, und davor muss ich versuchen, die Gedanken an Sie aus meinem Kopf zu vertreiben.« Er hielt inne und ich wartete noch ein paar Sekunden ab, dann entschuldigte ich mich.
Wells’ hatte nichts von seiner Eleganz aufs Damenklo verschwendet. Zwei kleine Kabinen mit Toiletten und ein winziger Vorraum, kaum groß genug für zwei Personen, standen zur Verfügung.
Eine Frau auf dem Weg heraus rannte mich fast um. Sie sah die Tränen auf meinem Gesicht.
»Hoppla, alles in Ordnung? Ist Ihnen nicht gut?«
Ich schüttelte den Kopf und trat in den Vorraum. Sie steckte den Kopf herein. »Sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«
Ich schüttelte noch einmal den Kopf und bedankte mich.
Der kleine Spiegel über dem Waschbecken war blind vor Staub, aber das Elend in meinem Gesicht war scharf umrissen. Wenn ich das mit der Hochzeit mit Thomas durchzog, würde ich unsere Ehe so mit Enttäuschung belasten, dass das Gebäude nicht standhalten würde. Er war ein zu guter Mensch, als dass ich ihn missbrauchen dürfte, und ich würde die Fakten nie vergessen oder ausblenden können, das wusste ich genau. Seinetwegen hätte ich auf Make verzichtet, auf ein Leben voller Abenteuer, und auf Afrika. Afrika. Ich würde ihm das nie verzeihen. Und Make. Make brauchte mich, ich würde ihm eine Hilfe sein, ich hatte doch Mut. Abbey hatte einmal gesagt, ich sei zu verrückt, um Angst zu empfinden. Ich wäre ja dumm, wenn ich Make einem Haufen nuttiger weißer Weiber in Amsterdam überließ. Womöglich wäre das sogar Verrat an der Sache, das konnte ich nicht machen. Und dann Guy. Guy hätte die Chance, einen afrikanischen Vater zu bekommen. Ein Schwarzer amerikanischer Junge konnte keine großartigere Zukunft haben, als einen starken, Schwarzen, politisch engagierten Vater zu bekommen. Dass der Afrikaner war, machte das Ganze perfekt.
Wenn ich mir jetzt endlich eingestand, was ich schon auf dem Kostümball beschlossen hatte, würde ich Makes Antrag annehmen.
Von einem Münztelefon rief ich Abbey an. Sie nahm ab.
»Wollte bloß schauen, ob du da bist.«
»Was ist denn los?«
»Noch nichts, ich ruf dich gleich noch mal an.«
»Alles okay bei dir?«
»Ja, doch, schon. Ich ruf dich in ein paar Minuten noch mal an.«
Make stand wieder auf, als ich an den Tisch zurückkam. Ich setzte mich und nahm die Serviette. Die Worte wollten sich nicht in eine Ordnung fügen.
»Mr Make, ich mach es. Ich mache es. Ich gehe mit Ihnen mit.«
Sein Gesicht öffnete sich aufs Wunderschönste. Ein brauner Mond brach auf und zeigte seinen weißen Kern. Sein Lächeln und sein liebevoller Blick ließen den ganzen Raum erstrahlen.
»Ich werde Sie heiraten, Miss Angelou. Ich werde Sie glücklich machen. Wir werden als glücklichste Familie Afrikas bekannt werden.« Er kam um den Tisch und zog mich hoch, um mich zu küssen. Plötzlich fielen mir die anderen Restaurantbesucher ein, und ich wich zurück.
Make lachte und drehte sich zu den Schwarzen an den Tischen ringsum, die uns ungeniert beobachteten.
»Alles gut. Sie hat gerade meinen Heiratsantrag angenommen.«
Applaus und Gelächter. Geschichten mit Happy End mochten die Leute immer.
Er hielt meine Hand hoch, als hätte ich gerade ein Rennen gewonnen. »Hier vereinen sich Afrika und Amerika! Zwei große Völker sind wieder zusammen.«
Ich wollte mich wieder setzen. Er hielt jetzt offenbar eine Rede. Ein dröhnendes Lachen bahnte sich den Weg aus seiner Brust ins Freie.
»Nein. Ich bestehe auf meinem Verlobungskuss.«
Seine Lippen waren voll und weich. Erschüttert von der körperlichen Berührung setzten wir uns wieder. Die Frau, die mir auf der Toilette ihre Hilfe angeboten hatte, kam an unseren Tisch.
»Honey, das hätt ich mir ja denken können, dass du nicht vor Traurigkeit geweint hast.« Sie lächelte. »Trinkt doch einen mit uns. Wir sind seit achtzehn Jahren verheiratet, und es waren die besten meines Lebens.«
Eine Männerstimme rief quer durchs Restaurant: »Ernestine, du sollst den beiden bloß einen Drink anbieten, und dann kommst du wieder her.«
Die Frau grinste. »Seht ihr, wie gut wir uns verstehen? Er schafft an, ich gehorche – manchmal.«
Make und ich lachten, während sie an ihren Tisch zurückstolzierte.
Nach ein paar Minuten der Nervosität, weil wir nicht sagen konnten, was alles zu sagen war, fragte ich Make, ob er am Nachmittag etwas vorhabe. Hatte er nicht. Ich entschuldigte mich und ging zum Telefon.
»Diesmal hab ich’s getan, Ab.«
»Was getan?«
»Es. Ich habe Vusumzi Make gesagt, dass ich ihn heiraten werde.«
»Wen heiratest du?« Der Schock war ihr anzuhören.
»Einen südafrikanischen Freiheitskämpfer. Er ist brillant, Abbey, und sieht super aus. Wunderschön ist er, muss man sagen. Und wir haben uns verliebt.«
»Verdammt nochmal, Maya Angelou, und was ist mit Thomas?«
»Das will ich ja mit dir besprechen.«
»Das solltest du vor allem mit ihm besprechen. Oder täusch ich mich da?«
Im Augenblick kam mir die Aufgabe nicht mehr ganz so unheilschwanger vor.
»Komm doch zu Wells’ und lern ihn kennen, und nimm ihn mit zu euch. Ich muss wieder ins Büro, aber nach der Arbeit komm ich vorbei. Okay?«
Sie brauchte keine Sekunde Bedenkzeit.
»Natürlich komme ich. Willst du warten, oder soll ich einfach nach dem Afrikaner fragen, der Maya Angelou heiraten wird?«
Ich berichtete Make, dass meine Freundin Abbey Lincoln ihn abholen würde.
Er erkannte ihren Namen sofort und erzählte mir, wie die Max-Roach/Abbey-Lincoln-Platten nach Südafrika geschmuggelt und dann von Hand zu Hand gereicht würden wie heiße revolutionäre Ware, was sie ja auch waren. Er kannte sämtliche Namen von ihren Stücken und zu den meisten Songs sogar die Texte. Der Mann war in der Tat ein Wunder.
Als Abbey draußen ihren Lincoln in doppelter Reihe vor dem Restaurant parkte, gingen wir hinaus. Abbey stieg aus und reichte meinem jüngsten Verlobten die Hand. Die beiden fuhren davon, und der Rest des Nachmittags spulte sich ab wie ein Film in Zeitlupe mit einer Wildfremden in der Hauptrolle. Ich ging ans Telefon, unterschrieb Briefe, sprach mit Ehrenamtlichen, aber mit dem Kopf war ich irgendwo zwischen der Serengeti, Thomas’ Brooklyner Wohnung und dem süßen Duft nach Patchouli, der jedes Mal aufstieg, wenn Mr Make seinen schweren Körper bewegte.
Bei meiner Ankunft in dem Apartment an der Columbus Avenue unterhielten sich Max und Mr Make, und Abbey machte Abendessen. Sie rief einen Willkommensgruß aus der Küche, und die beiden Männer umarmten mich.
»Ah, hier kommt meine bildschöne Frau«, sagte Make stolz.
Max nickte. »Maya, diesmal hast du zu Recht zugeschlagen. Das ist ein Mann.«
Das Abendessen erlebte ich wie in Trance. Max und Abbeys Wohnung wirkte auch nicht echter als mein Büro den ganzen Nachmittag. Ein Mann, den ich seit genau einer Woche kannte, strahlte mich besitzergreifend über den Tisch hinweg an. Max, dessen Lebenserfahrung ihm eine gesunde Portion Misstrauen mitgegeben hatte, fand den Fremden gut. Und als ich Abbey später beim Abtrocknen half, meinte sie, in ihren Augen passte ich besser zu dem unbekannten Make als zu dem bekannten Thomas. Und bei meiner Wildheit würde es wahrscheinlich genau funktionieren.
Nach dem Essen rückte Make mir auf der Cordcouch näher.
»Ich bin müde und möchte mich ausruhen. Max hat gesagt, ich könnte in dem Zimmer da die Füße hochlegen.« Ich sollte mich wohl anschließen. Ich hätte auch nichts lieber getan, als seine Hand gepackt und ihn ins Bett gezerrt, musste aber bremsen. »Mr Make, ich …«
»Bitte, wir wollen doch heiraten. Ich heiße Vus.«
»Vus, zuerst muss ich die Sache mit Thomas bereinigen.« Make lehnte sich zurück und schwieg für ein paar Minuten.
»Ja, da hast du recht. Aber wenn du mit ihm sprichst, möchte ich dabei sein. Er macht vielleicht Schwierigkeiten.«
»Ich werde morgen Abend allein mit ihm sprechen. Und dann …«
»Soll ich wirklich nicht mitkommen? Es könnte gefährlich werden.«
Ich lehnte sein Angebot ab. Mit Thomas zu sprechen, war meine Verantwortung. Meine idiotische Wichtigtuerei hatte mich in diese Bredouille gebracht, und mit meiner kopflosen Emotion setzte ich jetzt noch mal eins drauf. Ich spürte sogar eine leise Vorfreude auf die Konfrontation, die da kommen mochte.
»Gut, dann spreche ich aber mit Guy. Ich werde sein Vater, und wir müssen unsere Beziehung auf dem richtigen Fuß beginnen.«
Vus setzte mich in ein Taxi nach Brooklyn.
Guy hatte Felsbrocken im Kiefer und Feuersteine im Blick. Er hatte im Büro angerufen und die Auskunft bekommen, ich hätte früher Schluss gemacht. Daraufhin ging er zu den Killens, aber die hatten keinen Anhaltspunkt, wo ich sein könnte. Thomas hatte nichts von mir gehört, und Paule Marshall wusste auch nicht, wo ich war. Abbeys Nummer hatte er nicht gefunden. Er schimpfte, das sei unfair, ich könne doch nicht darauf bestehen, dass er aus Rücksicht zu Hause anrief, wenn ich ihn so kaltschnäuzig und gleichgültig behandle. Es war schon fast elf.
Drei Männer erhofften sich von mir den Beweis meiner Hingabe.
Mein Sohn erwartete Wärme, Essen, eine Wohnung, Kleidung und Stabilität. Das meiste davon bekam er verlässlich, egal wohin das Schicksal mich trieb. Stabilität allerdings war in meiner Welt nicht möglich, daher gab es sie auch nicht in seiner. Zu oft hatte ich ein unspielbares Blatt, mir zugeteilt von einem launenhaften Leben, zurückgeben müssen und mir neue Karten geholt, um überhaupt weiterspielen zu können. Mein Sohn konnte auf meine Liebe bauen, aber nie erwarten, dass unser Leben blieb, wie es war.
Thomas war ebenfalls auf Ausgeglichenheit aus. Er suchte eine nette Frau, die gut kochte und weder so hübsch war noch so hässlich, dass sie die Blicke auf sich zog. Ich rief noch einmal bei ihm an. Ich musste ihm sagen, dass er sein Pendant noch nicht gefunden hatte. Er nahm nicht ab.
Vus betrachtete mich als seinen fleischgewordenen Jugendtraum. Von mir bekäme er die Vitalität des Jazz und das Stehvermögen eines Volkes, das dreihundertfünfzig Jahre Sklaverei überlebt hatte. Mit mir im Bett würde er der Einsamkeit des Exils entrinnen. Mit meinem Mut, zu seinem dazu, würde es ihm gelingen, die unsägliche weiße Vorherrschaft in Südafrika zu beenden. Und wenn ich die von ihm benötigten Eigenschaften noch nicht hatte, würde ich sie eben entwickeln. Vor lauter Verliebtheit vertraute ich auf meine Fähigkeit, mich im Sinne der Wünsche meines Geliebten neu zu erschaffen. Für ein Showgirl doch kein Problem.
Im Morgengrauen ging Thomas dann ans Telefon. Er wollte mich vom Büro abholen und die Hochzeitsgeschenke nach Hause transportieren. Wir würden bei mir vorbeischauen, mit Guy zu Abend essen und dann zu ihm fahren, auf eine Runde »du-weißt-schon-was«.
Der Tag ruckelte sich stockend bis zum Abend voran. Die Zeit verging entweder überhaupt nicht oder raste im Sturmtempo.
Schließlich und zu früh stand Thomas bei mir in der Bürotür und bleckte gutgelaunt die Zähne.
»Hey Baby, wo sind denn die Sachen?«
Ich erwiderte seinen Gruß und deutete auf die Schachteln an der Wand. Während ich mich von der Belegschaft verabschiedete, trug er seine Geschenke hinunter, und als ich unten zu ihm stieß, lud er sie ins Auto.
Er strahlte immer noch. Wie sollte man sich um Himmels willen von einem strahlenden Mann verabschieden?
»Gefällt dir das Gepäck, Baby?«
»Ja. Wo hast du es denn gekauft?«
Die Frage wischte ihm das Strahlen vom Gesicht. »Wieso?«
»Ach, bloß falls ich noch was nachkaufen will.«
Er entspannte sich, und das Strahlen erschien wieder so sonnig wie zuvor. »Ich hab’s von einem Kumpel. Und wenn du noch was nachwillst, besorg ich es dir.«
Als die Supermarktschachteln bei mir im Büro aufgetaucht waren, hatte ich schon geargwöhnt, dass das Gepäck gestohlen war, und Thomas hatte meinen Verdacht soeben bestätigt. Da ich sämtliche Gekränktheit, die ich aufbringen konnte, für die anstehende Abschiedsszene brauchte, hielt ich den Mund und wartete ab.
Zu Hause saß Guy vor dem Fernseher und Thomas las den Sportteil, während ich Abendessen kochte. Abgesehen von meinem schockierenden Vorhaben spielten wir hier, das war mir bewusst, die Szene unserer Zukunft. Bis in alle Ewigkeit würde Guy in seinem Zimmer über I Love Lucy lachen, Thomas an den Chancen eines Athleten oder der Baseball-Nationalmannschaft herumtüfteln, und ich stünde am Herd und würde ein Essen für die »Goldene Stunde des Abendbrots« zubereiten. Bis in alle Ewigkeit.
Wir aßen freudlos, und Guy ging mit einem »Gute Nacht« in sein Zimmer.
Thomas stand auf, um das Gepäck hereinzutragen, aber ich hielt ihn auf.
»Ich möchte etwas mit dir besprechen. Setzen wir uns doch zu einem Drink zusammen.«
Langsam und leise begann ich zu sprechen. »Ich habe einen Südafrikaner kennengelernt. Er ist über die Wüste aus dem Land geflohen. Hat Würmer gegessen, um zu überleben. Die Weißen wollten ihn krepieren lassen, aber er hat überlebt. Er ist gerade in den USA, und er verdient unsere Unterstützung.« Ich blickte zu Thomas, der sich in eine Sumpfschildkröte verwandelt hatte, den großen Kopf eingezogen, die Augen blicklos und starr.
Ich spann meine Geschichte weiter, dieser Mann sei inspiriert von Dr. Martin Luther King und hergekommen, um sich bei den Vereinten Nationen für sein Volk einzusetzen. Ich machte kurze Sätze mit einfachen Wörtern, als würde ich einem Kind ein Märchen erzählen. Thomas erlag dem Zauber nicht.
»Es findet bald eine große Konferenz in London statt«, sagte ich, »da treffen sich noch andere, die aus Südafrika entkommen sind, und werden gemeinsam eine Organisation für den Freiheitskampf gründen.« So weit hatte ich nichts Unzutreffendes erzählt, doch da ich nicht den Mut hatte, Thomas zu sagen, dass ich ihn verlassen würde, war ich natürlich dabei, mich in Lügen zu verstricken.
Der Mann vor mir war zu einem großen roten Felsen erstarrt, dunkelbraun traten die Sommersprossen auf seinen Wangen hervor.
»Inder vom South Africa Indian Congress und Afrikaner aus Südafrika und Südwestafrika werden zwei Wochen lang an einer gemeinsamen Charta feilen. ›In der Einheit liegt die Kraft‹, wissen wir ja …«
Jegliches Licht in Thomas’ Augen war erloschen.
Wir saßen in dräuendem Schweigen.
Ich kratzte all meinen Mut zusammen. »Jedenfalls, dieser Afrikaner, den ich kennengelernt habe, hat mich gebeten, zu der Konferenz mitzukommen. Sie hätten gern eine Schwarze Amerikanerin, die das Prinzip der Gewaltfreiheit erklären kann.« Das kam der Sache schon näher.
Thomas stemmte sich kurz hoch und ließ sich dann noch tiefer in den Sessel sinken. Seine Augen verrieten immer noch keine Regung.
»Ich habe mich entschlossen, die Einladung anzunehmen und einen Vortrag über Dr. Martin Luther King zu halten.«
Von dieser Erfindung war ich selber überrascht. Den ganzen Tag und während ich zuvor am Herd stand, hatte ich vergeblich überlegt, wie ich das zu Sagende sagen sollte, und nichts war mir eingefallen. Offenbar hatte die Anspannung meine Fantasie beflügelt.
»Ich weiß noch nicht, wie lange ich weg sein werde, aber wahrscheinlich fliege ich danach nach Afrika.«
Mit einer unerwartet schnellen Bewegung saß Thomas plötzlich aufrecht da. Er hatte verstanden und blickte mich verächtlich an.
»Du hast nen neuen Nigger.« Ohne die Stimme zu erheben. »Der ganze Quatsch bloß, um mir zu erzählen, dass du dir nen neuen Nigger zugelegt hast.«
Der gefürchtete Moment war gekommen, der Moment, dem ich durch Lügen hatte aus dem Weg gehen wollen.
»Sag’s. Sprich es aus. Sag: ›Thomas‹« – er äffte meinen Tonfall nach – »›Thomas, ich hab mir nen neuen Nigger zugelegt.‹ Sag’s.«
Er war der Verhörende, ich die Verdächtige.
»Also, ein Nigger ist er schon mal nicht.«
»Er ist doch Afrikaner, oder? Dann ist er ein Nigger wie du und ich. Außer dass du rumstöckelst wie ne gottverdammte kleine Bleichnase. Dabei bist du genau so ein Nigger wie ich. Und dein gottverdammter heiliger Martin Luther King genauso, ein scheiß Schwarzer Nigger.«
Er wusste, wie sehr mir das Wort verhasst war und dass ich es in meinem Haus nicht duldete. Mit jedem Mal, da er es nun aussprach, spitzte er es zu und stieß es mir wie einen Degen in den Körper.
»Thomas« – ich zwang mich zu einem ruhigen, freundlichen Ton – »Thomas, ich glaube, mehr gibt es nicht zu sagen.«
Er wollte nicht wahrhaben, dass wir ans Ende unseres Gesprächs und unserer Beziehung gelangt waren. Ich käme mir als was Besseres vor, würde überheblich tun wie meine versnobten Freunde, die über die Freiheit laberten und dämliche Bücher schrieben, die kein Mensch las. Ich hielt mich wohl für weiß, brachte ja auch meinem Sohn lauter aufgeblasene Wörter bei und erzog ihn zu einem Weißen. Seine Schwester hätte ihn vor mir gewarnt, ich tat ihm nicht gut, ich hielt mich für was Besseres als seine Verwandten.
Ich rührte mich nicht, griff nicht einmal nach meinem Glas. Seine Abneigung gegen mich und seine Beschimpfungen füllten den Raum bis zur Decke.
Er würde sich nicht wundern, wenn dieser Afrikaner mich in London oder Afrika stehen ließ und ich auf meinem Arsch wieder angerobbt kam und so tat, als wäre es eine Gnade, mich zu ficken. Aber da hätte ich mich schön verrechnet, seine Telefonnummer könnte ich gleich zerreißen, morgen würde er sie ändern lassen.
Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass er schon von morgen sprach. Seine Schultern sackten zusammen, und er lehnte sich erschöpft in seinen Sessel. Ich rührte mich immer noch nicht.
Er stand auf und ging hinaus, ich ihm nach. Seine große Gestalt nahm den ganzen Vorraum ein. Mit einem jähen Ruck zog er die Gardine vor dem ovalen Fenster in der Tür zurück.
»Komm her.« Nicht zu gehorchen schien mir zu gefährlich, also quetschte ich mich neben ihn. »Siehst du die Frau da drüben?«
Gegenüber ging unter dem Dunstkegel einer Straßenlaterne eine einsame Schwarze Frau mit zwei vollen Einkaufstüten vorbei. Ich kannte sie nicht. Thomas zog seine Waffe aus der Jackentasche.
»Weißt du, was? Ich könnte der Schlampe das Hirn wegblasen und käme keinen einzigen Tag in den Knast.«
Er steckte die Pistole wieder ins Halfter, machte die Tür auf und ging die Stufen hinunter zu seinem Auto.
Ich schenkte mir noch einen Drink ein und dankte Gott zum hundertsten Mal für seinen Segen. Ich hatte Thomas’ Ego verprellt, ihm aber nicht das Herz gebrochen. Er war nicht so verletzt, dass er tätlich würde, er wollte mich einfach nie wiedersehen.
Stanley und Jack Murray nahmen meine Neuigkeiten gelassen auf. Sie hätten ohnehin nie erwartet, dass ich bleiben würde. Als Entertainerin würde ich die Organisation doch verlassen, sobald ich einen guten Vertrag in einem Nightclub oder eine Rolle am Broadway angeboten bekäme. Daher hätten sie ja bereits andere engagierte Kräfte eingestellt, die meinen Job übernehmen könnten. Ich ließ sie wohlweislich in ihrem Glauben.
Grace Killens lachte mich einfach aus.
»Du hast ihn letzte Woche bei uns kennengelernt, oder? Und diese Woche heiratest du ihn. Wild West Woman, was!?« Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
John nahm die Nachricht mit feierlicher Miene auf. Er legte die Stirn in Falten und presste ein paar Sätze hervor.
»Er meint es ernst mit dem Kampf, aber was wissen wir sonst über ihn? Wirst du seine zweite oder dritte Frau? Wie will er für dich sorgen? Und was ist mit Guy? Du quartierst ihn da bei einem fremden Mann ein, dabei ist er selber schon fast ein Mann. Wie findet er das?«
Da Guy mir am wichtigsten war, hatte ich ihn bis zuletzt aufgehoben. Vus hatte gesagt, er würde gern als Erster mit ihm reden, und ich nahm sein Angebot gern an. Männer unter sich – da hielt man sich als Frau, selbst als Mutter, lieber zurück und ließ die Männer ihre Männerprobleme auf ihre Art lösen.
Guy übernachtete bei Chuck, und da Abbey und Max einen Auftritt hatten, überließen sie Vus und mir ihre Wohnung. Er kochte ein aufwändiges Abendessen mit Roastbeef und Pfannengemüse und schenkte uns einen köstlichen Wein ein. Später konnte ich mich dann davon überzeugen, dass er ein Meister im Spiel mit der Lust war.
Am Esstisch breitete er Afrikas Licht und Schatten vor mir aus. Faszinierend reihten sich zunächst die Glorien auf. Kriegerinnen mit blauweißen Perlenhalsketten führten Armeen gegen marodierende Europäer an. Nubiermädchen tanzten zur Feier der Siege von Zulu-König Shaka. Die afrikanische Erde selbst war »Schwarz und stark wie die Mädchen zu Hause« und schimmerte vor Gold und Diamanten. Afrikanische Männer behängten ihre Angetrauten mit kostbaren Edelsteinen und einem extra gewebten Stoff. Ich möge ihm bitte verzeihen, dass sein Geschenk an mich so gering sei, und bitte verstehen, dass er, wenn wir in den Schoß von Mutter Afrika zurückkehrten, mich mit Reichtümern ohnegleichen würde schmücken. Als er mich ins abgedunkelte Gästezimmer führte und mir eine Perlenschnur umlegte, vibrierten alle meine Sinne. Ich hätte einen Monat ohne Wasser in der Sahara nicht nur akzeptabel gefunden, sondern aufregend. Die amberfarbenen Perlen auf meiner nussbraunen Haut fingen Feuer. Im Spiegel sah ich genau, was ich sehen wollte, und noch viel mehr, was er sehen sollte: eine afrikanische Jungfrau, geschmückt für ihren Chief.
Am nächsten Tag sagte ich Guy, der Südafrikaner, den wir bei den Killens kennengelernt hätten, käme zum Abendessen zu uns. Guy nahm die Neuigkeit so gelassen auf, dass ich schon dachte, er wüsste nicht mehr, wer Make war. Er ging in sein Zimmer und legte Platten auf, während ich nervös den Tisch deckte.
Als es klingelte, kam er aus seinem Zimmer geschossen wie ein Korken aus der Flasche und wirbelte durch die Küche.
»Ich mach auf.«
Noch bevor ich die Herdplatten herunterdrehen konnte, hörte ich schon unverständliches Stimmengewirr.
Ich kam gerade rechtzeitig ins Wohnzimmer, um zu sehen, wie Vus sich in Guys Lieblingssessel niederließ. Er stand wieder auf und wir gaben uns die Hand. Ich bot ihm das doch so viel bequemere Sofa an, aber Guy schüttelte mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf. »Der ist schon auch bequem, Mom.«
Von frühester Kindheit an hatte Guy bestimmte Möbelstücke als seinen Privatbesitz betrachtet. Bevor er in die Schule kam und bis zum Alter von ungefähr acht fing er allabendlich mit seinem Spielzeuglasso Tische oder Stühle ein, um anschließend seine »Pferde« zu ermahnen, über Nacht nur ja im Corral zu bleiben. Auch als er aus der Fantasie längst herausgewachsen war, betrachtete er manches noch als sein Eigentum, und das wurde von allen respektiert.
Vus setzte sich also in Guys Sessel, und ich dachte mir, o je, das kann ja heiter werden.
Guy erbot sich, die Getränke zu bringen, und kaum war er aus dem Zimmer, sagte Vus: »Kein Grund, nervös zu werden. Guy ist ein Mann wie ich, er wird es verstehen.« Ich nickte. Vus glaubte, er könnte sich in Guy einfühlen, aber ob er das Temperament meines Sohnes tatsächlich richtig einschätzte, würde sich zeigen.
Ich setzte mich züchtig aufs Sofa gegenüber. Guy kam mit einem Tablett zurück, über das eine Serviette gebreitet war, darauf Eis, Gläser und eine Flasche Scotch.
»Mom, es riecht, als würde da was ankleben.« Er trat zu Vus. »Wie trinken Sie Ihren Whisky?«
Vus stand auf und mixte sich auf dem Tablett in Guys Händen seinen Drink. Die beiden schienen in ein atavistisches Ritual vertieft, und ich war nicht mehr der Nabel der Welt.
»Also, ich kümmere mich dann mal ums Essen.«
Vus warf mir einen Blick zu. »Gut. Guy und ich müssen reden.« Guy nickte, als ahne er schon etwas.
»Guy, kommst du bitte einen Moment in die Küche?«
Er zögerte, da er unseren Gast nicht allein lassen wollte.
»Jetzt, Mom?«
»Ja. Bitte.«
Wir standen nebeneinander vor dem warmen Herd, und ich breitete die Arme aus. Er wich argwöhnisch zurück.
»Komm, bitte. Ich will dich einfach umarmen.«
Er wirkte unsicher, und jung und verletzlich. Widerwillig ließ er sich in den Arm nehmen.
»Ich hab dich lieb, bitte vergiss das nie.« Flüstern hatte ich eigentlich nicht wollen.
Er machte sich los. »Das klingt irgendwie nach Abschied, Mom.«
Die Sinnlichkeit zwischen Eltern und Kindern ist oft so intensiv, dass nur die jahrhundertealte Kontrolle durch die Gesellschaft verhindert, dass eine sexuelle Komponente mit hineinkommt. Bei alleinerziehenden Eltern des anderen Geschlechts ist die Situation noch heikler. Wie soll man Liebe spüren und Zuneigung zeigen, ohne im jungen, unschuldigen Geist den Gedanken an Sex aufkommen zu lassen? Bestürzt über die Gefahr, Inzestgedanken in ihren Kindern zu fördern, ziehen sich viele Eltern zurück und vermeiden jeglichen Körperkontakt, der den jungen Menschen dann aber fehlt, und was ihr Selbstwertgefühl untergraben kann.
Guy und ich hatten jahrelang auf dem dünnen Eis getanzt.
In seinem zwölften Sommer waren wir einmal auf einer Party in Beverly Hills. Um die Kinder wurde sich an einem Ende eines Swimmingpools von olympischen Ausmaßen gekümmert, ich trank am anderen mit den Erwachsenen Margaritas.
Als wir am Abend nach Hause in den Laurel Canyon zurückfuhren, verblüffte mich Guy mit folgendem Kommentar:
»Weißt du, Mom, alle reden von Marilyn Monroe und ihrem tollen Körper. Aber wir haben heute mal geguckt, und alle Jungs fanden deine Figur viel besser.«
Als er im Bett war, überlegte ich, was nun zu tun sei. Er war ja alt genug fürs Masturbieren, und wenn ich jetzt in seinen sexuellen Fantasien auftauchte, wäre er fürs Leben gezeichnet, und ich hätte seinem ohnehin nicht einfachen Leben noch eine weitere Bürde aufgeladen.
Noch am selben Abend ging ich meinen Kleiderschrank durch und sortierte sämtliche provokanten Kleider aus, zugunsten der braveren, eher mütterlichen. Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Riesenpaket bei der Heilsarmee vorbei und kaufte fortan nie wieder ein hautenges Kleid oder eine Bluse mit tiefem Dekolleté.
Ich machte mich wieder an die Zubereitung des vorehelichen Festmahls und redete mir gut zu, Guy würde die Sache schon gelassen aufnehmen.
Beim Tischdecken verschloss ich absichtlich die Ohren und summte einen Song vor mich hin. Bald bekam ich einen Ehemann, und zu diesem Geschenk gehörte, dass ich Verantwortung genauso wie Schuldgefühle würde teilen können.
Als die beiden zu Tisch kamen, konnte ich an Guys Miene ablesen, dass Vus ihm noch nichts von unseren Heiratsplänen erzählt hatte.
Wir setzten uns, und ich kaute Stroh.
Gesprächsfetzen wirbelten um mich herum, ohne dass sie mich gestreift hätten: Fußball sei genauso gefährlich wie American Football, Sugar Ray Robinson sei ein Gentleman, Ezzard Charles eher der Mann aus dem Volk, Malcolm X habe die richtigen Ideen, und Martin Luther Kings Taktiken seien bisher bloß in Indien erfolgreich gewesen. Afrika sei die eigentliche »Alte Welt«, und Amerika werde in dem Zitat von George Bernard Shaw treffend beschrieben: Es sei »das einzige Land, das von der Barbarei gleich zur Dekadenz übergegangen ist, ohne Zwischenstopp bei der Zivilisation.«
Guy war entspannt und mischte dem Austausch seinen jugendlichen Witz und Scharfsinn bei. Die beiden lachten gegenseitig über ihre Witze, und mir drehte sich der Magen um.
Ich stapelte das Geschirr, und als Guy aufstand, um mir hinaustragen zu helfen, hielt Vus ihn auf.
»Nein, Guy, ich muss mit dir über unsere Zukunft reden. Und ich möchte das jetzt tun. Können wir in dein Zimmer gehen?«
Panik überschattete Guys Blick. Er blickte mich prüfend an, versuchte, meine Gedanken zu erfassen. Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen.
»Natürlich. Bitte kommen Sie mit, hier lang.«
Er führte Vus in sein Zimmer; hinter den beiden knallte die Tür zu.
Ich klapperte mit dem Geschirr, schepperte mit den Töpfen, veranstaltete mit dem Besteck eine klirrende Kakophonie, um nur ja meine Gedanken und jegliche Sounds, die unter Guys Tür hervordringen, über den Küchenboden schliddern und an meine Ohren dringen mochten, zu übertönen.
Wenn Guy jetzt den Mann und unsere Pläne nicht guthieß? Er konnte sich ja immerhin weigern. Da die weiße Welt auf jede erdenkliche Art demonstrierte, dass er als Schwarzer Junge innerhalb der mörderischen Grenzen ethnischer Einschränkungen leben musste, hatte ich in seiner Erziehung betont, dass er bei der Gestaltung seines Lebens sehr wohl ein Wort mitzureden hatte, und, von Unfällen mal abgesehen, beim Wie und Warum seines Todes ebenfalls. So gerüstet konnte er aber nun nicht nur auf seine eigene Zukunft Einfluss nehmen, sondern auch auf meine.
Die Küche war sauber, sämtliche Gläser abgetrocknet und das Geschirr aufgeräumt. Ich setzte mich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch und hielt die beiden konkurrierenden Impulse in Schach, entweder ohne zu klopfen in Guys Zimmer zu stürmen oder mir meine Handtasche zu schnappen, aus dem Haus zu rasen und bei Ray’s einen dreifachen Scotch on the rocks zu kippen.
Gelächter hinter Guys Tür holte mich in die Realität zurück. Guy hatte Vus akzeptiert, ergo war ich so gut wie verheiratet und auf dem Weg nach Afrika.
Von einem Ohr zum anderen grinsend kamen die beiden aus dem Zimmer. Guys hellbraunes Gesicht war vor Freude gerötet, und Vus wirkte zufrieden.
»Gratuliere, Mom.« Diesmal breitete Guy die Arme aus und bot mir Zuflucht an. »Ich hoffe, du wirst sehr glücklich.«
Ich stand in Guys Umarmung da und Vus lachte. »Jetzt darfst du dich um zwei starke Männer kümmern. Wir drei werden die einzigen Eroberer sein, die Mutter Afrika willig ans Herz drückt.«
Der Abend setzte sich dann mit viel Lachen und Pläneschmieden fort. Als Vus nach Manhattan zurückfuhr, hatte Guy noch ein offenes Wort für mich.
»Mit Mr Allen wärst du nie glücklich geworden.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weiß ich halt.«
»Weil er Kautionsagent ist?«
»Nein, weil er dich nicht geliebt hat.«
»Und Mr Make liebt mich?«
»Er hat Achtung vor dir. Und bei einem Afrikaner ist das vielleicht sogar noch mehr wert als Liebe.«
»Schlauer Kerl.« Ich versuchte erst gar nicht, meinen Stolz zu verbergen.
»Klar, ich bin doch ein Mann.«
Die nächsten Tage leuchteten, da meine Freunde, nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatten, einen wahren Mardi Gras an Partys veranstalteten. Rosa schmiss eine karibische Fete, auf der ihre afrikanischen, afroamerikanischen und weißen liberalen Freunde vor Bergen ihres berühmten ›Reis mit Bohnen‹ lachten und diskutierten. Connie und Sam Sutton, ein unprätentiöses Intellektuellenpaar, luden Kollegen von der Uni zu einem ruhigen Abendessen ein, das bald zu einem übermütigen Gelage ausartete. Quer durch New York umarmten mich Wildfremde, tätschelten mir die Wange und lobten meinen Mut. Alte Freunde fanden mich durchgeknallt, konnten aber gleichzeitig ihre Bewunderung und ihren Neid kaum verbergen.
Am Ende all der Feierlichkeiten brachen Vus und ich nach England auf, und Guy zog so lange zu Pete und T. Beveridge, die ein paar Straßen weiter von uns in Brooklyn wohnten.
Händchenhaltend saßen wir im Flugzeug, küssten uns und sahen unsere Zukunft als Reich des Kampfes und des ewigen Sieges vor uns. Vus schlug vor, dass wir in Oxford heiraten sollten, das sei so eine hübsche kleine Stadt.
Ich erwiderte, dass ich bei meiner Hochzeit meine Mutter und meinen Sohn dabeihaben wollte, und fragte, ob wir nicht warten könnten. Er tätschelte mir die Wange und meinte: »Aber klar. In London sagen wir einfach, wir hätten in Amerika geheiratet, und wenn wir wieder in New York sind, sagen wir, in England. Unsere Hochzeit wird so sein, wie du das willst und wann du es willst. Ich heirate dich jetzt, in diesem Moment. Gibst du mir das Jawort?«
Gab ich ihm.
»Dann sind wir verheiratet.«
Das Wort Hochzeit fiel zwischen uns nie wieder.