Guy schloss die Highschool ab, griff sich dann einen Rucksack und machte mit ägyptischen Freunden einen Treck durch die Sahara. Meine Freundschaft zu Kebi und Bahnti wurde enger. Im Büro wurden weitere Frauen eingestellt, von denen etliche meine Anwesenheit unpassend und unzumutbar fanden. Ich sprach nur gebrochen Arabisch, rauchte in der Öffentlichkeit, war keine Muslimin und noch dazu Amerikanerin. An dem Tag, als Präsident Kennedy und Chruschtschow ihre Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit Kubas hatten, in den Stunden, als der nächste Weltkrieg über unseren Köpfen schwebte wie ausstehende Schulden, sprach kein Mensch mit mir. Die männlichen Angestellten ignorierten mich, als wären wir per Zeitmaschine wieder an meinem ersten Tag beim Arab Observer gelandet, die Frauen verhielten sich offen feindselig. Wenn sie mir Papiere an den Schreibtisch bringen mussten, ließen sie das den Kaffeekellner oder den Kopierjungen erledigen. Was Menschen Tausende von Meilen weit weg taten, Männer, die von meiner Existenz nichts ahnten und von denen ich Verständnis nie erwartet hätte, raubte mir den Seelenfrieden und machte mich zur hassenswerten Figur. Kennedy war Amerikaner, ich auch. Mir fehlte die Sprache, um zu erklären, dass man als Schwarze Amerikanerin etwas qualitativ anderes war als eine weiße Amerikanerin. Ich machte mir Sorgen wie alle und ließ mich im Büro möglichst selten blicken.

Vus gab sich Mühe, und ich auch, aber weder er noch ich konnten unserer welken Ehe einen Schuss Leben verpassen. Er nahm immer mehr zu, ich immer mehr ab. Die Matratze, auf die wir uns betteten, nahm immer mehr den Namen Gleichgültigkeit an, und so verkam unsere Sexualität zu bloßem, unschönen Gerubbel.

Ich hatte versprochen, ein halbes Jahr zu bleiben, und für unser beider Gefühl wurde die Zeit lang.

Bahnti und Kebi schickten ihre Fahrer mit Lebensmitteln und kistenweise Alkoholika zu mir. Auf Zetteln daran stand dann, sie hätten zu viel bestellt oder einfach keinen Platz im Haus dafür.

Ich wurde mehr und mehr abhängig von unserer Freundschaft. Fast jeden Abend verbrachte ich mit der einen, der anderen oder gar beiden. In unseren Unterhaltungen ging es um amüsante Geschichten von ihnen zu Hause, von ihren Familien, von den Männern, die sie liebten, von einem gnädigen Gott und manchmal von ihren heimlichen Fantasien. Der Name Vus fiel nie.

Nach fünf Monaten dachte ich allmählich über meine Zukunft und einen Studienplatz für Guy an einer afrikanischen Hochschule nach. Die Universität von Ghana galt als beste höhere Lehranstalt des Kontinents, allerdings bräuchte ich schon sehr viel Glück, um ihm einen Platz dort zu besorgen, denn ich hatte in Ghana keine Kontakte – aber immerhin Joe Williamson als Bruder. Ich besuchte ihn.

»Joe, ich gehe weg.«

Er zeigte sich nicht überrascht.

»Ich möchte nach Westafrika. Ich würde Guy gern an der Universität von Ghana einschreiben, und ich brauche einen Job.«

Er nickte.

»Und ich brauche deine Hilfe.«

Wieder nickte er und sagte, er hätte meine Entscheidung schon vorausgeahnt und Vorsorge getroffen. Auf ein White Paper zu Liberia hin, das ich für die Vereinigte Arabische Republik geschrieben hatte, hätte sich eine Stelle beim liberianischen Informationsministerium aufgetan. Er stand auf und umarmte mich.

»Schwester, du wirst eine Bereicherung für Liberia sein.«

Vus nahm die Nachricht von meiner Abreise mit unverhohlener Erleichterung entgegen. Wir hatten unsere Ehe aufgetragen, bis sie in Fetzen hing, und es wurde Zeit, sie wegzuwerfen. Er wollte uns Tickets bei den United Arab Airlines besorgen, er habe Freunde in Ghana, bei denen wir ein paar Tage wohnen könnten, und wenn ich je in Schwierigkeiten sei, könne ich immer auf ihn zählen. Die – inzwischen abbezahlten – Möbel könne ich alle nach Liberia schicken lassen.

Ich dankte ihm für das Flugarrangement und lehnte das Möbelangebot ab. Andere Frauen würden in unserer Wohnung sein, bevor meine Laken ausgekühlt wären, da machte ich mir keine Illusionen. Er grinste und umarmte mich.

Guy hatte ich ins Vertrauen gezogen, soweit das bei einem stolzen, distanzierten Siebzehnjährigen möglich ist. Er hatte natürlich mitbekommen, dass ich das ganze letzte Jahr unglücklich war. Nach dem Palaver hatte ich ihm gesagt, dass wir mindestens noch ein halbes Jahr in Kairo bleiben würden, er hätte also Zeit, seine Schule zu beenden.

Er wollte eine Party geben und alle Freunde einladen. Ob Vus und ich ihm die Wohnung für ein paar Stunden überlassen würden? Ob Omanadia Huhn und Lamm mit Reis nach ihrem Spezialrezept kochen würde? Vielleicht könnte er sich von den Williamsons ja Platten ausleihen, und eigentlich könnte er doch auch ein bisschen Bier servieren, oder? Seine plötzliche Unbeschwertheit machte mir deutlich, wie sehr er unter unserem freudlosen Zuhause gelitten haben musste. Es war lange her, merkte ich, dass ich dieses breite unschuldige Lächeln oder seine schönen dunklen Augen so strahlen gesehen hatte.

Bahnti und Joe veranstalteten eine Abschiedsparty für uns, Kebi und Jarra kochten ein authentisches äthiopisches Gericht für eine ganze ausgelassene Gesellschaft, David Du Bois führte uns alle in ein opulentes Restaurant in der Nähe der Pyramiden aus. Mit Hanifa Fathy und ihren Freundinnen traf ich mich zu einem Abschieds-Lunch, und schließlich kam der Tag, an dem wir Kairo verlassen würden.

Auf dem Flug nahm Guy meine Hand und flüsterte mir zu: »Es wird alles gut, Mom. Nicht weinen. Ich hab dich lieb, Mom. Und ganz viele andere Menschen auch.«

Ich versuchte erst gar nicht, ihm zu erklären, dass ich nicht aus Mangel an Liebe traurig war, und ganz bestimmt nicht über den Verlust an Zuneigung von Vus. Ich betrauerte meine Vorfahren. Ägypten war für mein Gefühl nie richtig Afrika gewesen, aber jetzt, da unsere Route uns über die Sahara führte, sah ich von meinem Fensterplatz aus hinunter auf Bäume und Büsche, Flüsse und dichten Wald. Und hier hatte alles begonnen. Das Elend bitterarmer Kinder, die in rattenverseuchten Mietskasernen oder Autoleichen schlafen mussten. Das gruselige Ächzen meiner Großmutter: »Brot des Himmels, Brot des Himmels, erquicke mich, bis ich satt bin.« Die Tage im Drogennebel und Nächte im Alkoholrausch von Männern, für die es von Anfang an keine Hoffnung gab. Die Einsamkeit von Frauen, die nie Wertschätzung oder auch nur ein Gramm Achtung erfahren würden. Hier, dort, an den Ufern dieses Flusses wurde jemand eingefangen, mit Stricken gefesselt, in Ketten gelegt und gezwungen, mit der doppelten Bürde abgrundtiefer Angst und eines eisernen Rings um den Hals wochenlang zu marschieren. In dieser großen Baumgruppe, aus der großen Höhe vom Flugzeug aus wie Moos anzusehen, waren Jungen und Mädchen gejagt worden wie Tiere, aneinandergefesselt wie Tiere – Opferlämmer auf dem Altar der Gier. Hier unten hatten sie begonnen, Amerikas Zeiten der orgiastischen Lynchmorde, hier, in der riesigen Savanne unter mir.

Jedes Übel, das mir zu Hause widerfahren war, jeder hasserfüllte Blick in einem weißen Gesicht, jede abscheuliche Ablehnung aufgrund meiner Hautfarbe, der Spott, die Entmündigung, die Klagen und das laute Geheule um eine verlorene Welt, um eine nicht wiederzuerlangende Sicherheit, die ganze lange, beschwerliche Reise ins Unglück, die noch immer andauerte, hatte hier unter unserem Flugzeug begonnen. Ich weinte. Guy stand von Zeit zu Zeit auf und brachte mir frische Taschentücher, aber ich traute mich nicht, ihn an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Ich gab keinen Laut von mir. Wenn ich den Mund aufmachte, bekam ich ihn womöglich nicht wieder zu – Schreie würden durch die Luft gellen, und ich würde durch die Gänge rasen wie eine Besessene.

Ich krampfte die Lippen aufeinander, bis sie am Saum fast verschmolzen, und erlaubte mir als einzigen Gefühlsausdruck die warmen Tränen, die mir die Wangen hinunterrannen wie Honig.

Der Flughafen in Accra klang wie ein Spielplatz für Erwachsene und sah aus wie ein Fest. Einzelne Reisende in westlichen Anzügen oder Kleidern, die auch in New York als modern gegolten hätten, standen inmitten von Horden von Glückwünschenden, eingehüllt in Blumendrucke oder die üppigen geometrischen Muster des Kente cloth. Sprachen verwandelten die Luft in herzhafte Klangwolken voller Leben. Der Anblick von so vielen Schwarzen Menschen rührte an meine tiefsten Emotionen. Zu lange war ich von den Farben abgeschnitten gewesen. Guy und ich grinsten uns zu und sahen auf einmal etwas, das uns erstarren ließ. Drei Schwarze Männer in Airline-Uniformen gingen an uns vorbei, mit Schirmmützen, weißen Hosen und Jacketts, die vor Epauletten nur so starrten. Schwarze Piloten? Schwarze Flugkapitäne? Wir schrieben das Jahr 1962. In unserem Heimatland, der Wiege der Demokratie, dessen Nationalhymne sich brüstete, »Land der Freien, Heimat der Tapferen« zu sein, tauchten Schwarze am Flughafen nur auf, um Flugzeuge zu betanken, Kabinen zu putzen, Bordmenüs einzuladen oder sich als Gepäckträger ein Trinkgeld zu verdienen. Guy stieß mich an, denn weiter hinten lief noch mal ein Grüppchen von Afrikanern in Uniform seelenruhig auf das Gate zu, das zur Rollbahn führte.

Ghana war genau der Ort, an dem mein Sohn aufs College gehen sollte. Mein toby (bei Schwarzen in den Südstaaten das Wort für Glücksbringer) hatte »den richtigen Riecher« gehabt. Guy konnte nun seinen Verstand schärfen und seine Fähigkeiten schulen, ohne dass ihn rassistische Diskriminierung behinderte.

Auch am Zoll freuten wir uns wie die Kinder, dass unser Gepäck einfach von Schwarzen kontrolliert wurde. Der Taxifahrer war Schwarz. Die dunkle Nacht kam mir freundlich vor, und immer, wenn die Taxischeinwerfer einen Fußgänger streiften, kam ein Schwarzes Gesicht zum Vorschein. Als wir schließlich bei der Adresse ankamen, die Vus mir mitgegeben hatte, hatte sich ein Knoten in meinem Bauch gelöst, der mich gedrückt hatte, so weit ich zurückdenken kann. Seit mehr als einer Stunde hatte ich kein einziges weißes Gesicht gesehen. Es war ein leichtes und ausgesprochen eigenartiges Gefühl.

Vor einem weitläufigen weißen Bungalow, der in der schwarzen Nacht etwas fluoreszierend Unheimliches hatte, hielten wir an. Auf Guys Klopfen hin kam ein kleiner, reservierter Mann an die Tür. Er bat uns herein und stellte sich als Walther Nthia vor, und nachdem er uns beide umarmt hatte, führte er uns in Räumlichkeiten auf der Rückseite des Hauses. Ich gesellte mich schnell wieder zu ihm ins Wohnzimmer, um ihm zu versichern, dass wir nicht lange bleiben würden. Ich würde nicht länger als eine Woche brauchen, um die College-Formalitäten für meinen Sohn zu erledigen und ihm ein Zimmer auf dem Campus zu besorgen, und dann müsse ich ohnehin weiter nach Liberia, wo ein Job im Informationsministerium auf mich wartete.

Walter erwiderte, Bro Vus sei der Stolz des PAC, und mir eile mein Ruf auch voraus. Wir könnten so lange bleiben, wie es nötig sei. Er war Wirtschaftswissenschaftler und arbeitete für die Ghanaische Regierung, war geschieden und lebte allein. Er gebe nicht oft Gesellschaften, aber für den Abend habe er ein paar Südafrikaner und in Ghana lebende Schwarze Amerikaner als Begrüßungskomitee für uns eingeladen.

Die Gäste kamen alle auf einmal. Ein großer schmaler Yoruba mit seiner kanadischen Frau, die als Richard und Ellen vorgestellt wurden, ein Südafrikaner, dessen Name ich nicht entschlüsseln konnte, und drei Schwarze aus Amerika. Frank mit seiner kupferfarbenen Haut, seinem Zahnlückenlächeln und seinen munteren Augen umarmte uns gleich wie Verwandte; Vicki Garvey, klein und hübsch, das schwarze Haar in weichen Locken, hatte einen festen Händedruck und eine direkte Art; und bei Alice Windom ging mir vom ersten Moment an das Herz auf. Sie hatte einen Midwest-Akzent und ein hüstelndes Lachen; ihre Haut war dunkelbraun, wie schwarz gepudert, und ihr Blick unerschrocken. Außerdem hatte sie die schönsten Beine, die ich je gesehen hatte.

Wir tranken den mitgebrachten Gin, und ich erzählte von Ägypten. Dabei fiel mir auf, dass ich mich durch meine Freunde und meinen Mann in Liberia, Südafrika und Tansania eigentlich besser auskannte als in Kairo. Politik interessierte alle, und wenn sie von Kwame Nkrumah sprachen, dem Präsidenten von Ghana, dem Osagyefo, bekamen sie leuchtende Augen und überschlugen sich vor Komplimenten.

»Warum gehen Sie denn nach Liberia? Da ist doch nichts los. Bleiben Sie lieber in Ghana.« Alices Einladung wurde allgemein bekräftigt.

»Genau. In Ghana spielt die Musik.«

»Kwame Nkrumah Mann vor Mann, Eisen durch Eisen.«

Guy kapierte sofort und erklärte: »Er ist ein Mann, der andere Männer übertrumpft, und ein Eisen, das so stark ist, dass es Eisen durchschlägt.«

Frank klopfte Guy auf die Schulter. »Schlaues Kerlchen, kleiner Bruder. Immerhin du bleibst hier, da bin ich schon froh.«

Vickie fragte, ob ich Julian Mayfield kennen würde und ob ich wisse, dass er mit seiner Frau in Accra lebte. Julian, James Baldwin, Rosa Gray, John Killens und ich hatten bei Paule Marshall in New York oft ganze Nächte hindurch diskutiert, getrunken, gejauchzt und gejammert.

Alice verkündete, dass ich am nächsten Abend bei Julian eingeladen sei.

Richard und Ellen trugen wenig zur allgemeinen Unterhaltung bei, außer dass sie Guy und mich zu einem Picknick am übernächsten Tag einluden; die anderen kämen auch. Der Mann hatte mich allerdings herzlich wenig bezaubert, und seine Frau war trocken wie altes Brot. Ich lehnte dankend ab, wir seien zu müde. Das ließ Guy nicht so stehen. »Mutter spricht hier für sich, ich komme gerne.«

Der ganze Raum inklusive meiner Wenigkeit begriff, dass ich mich danebenbenommen hatte. Mein Sohn überragte alle anderen im Raum, war außerdem fast erwachsen, und ich hatte ihn behandelt wie ein Kleinkind. In der sich ausbreitenden Stille verabredeten Richard, Ellen und Guy, dass die beiden ihn frühmorgens abholen würden. Mitbringen brauche er nichts, er solle nur bereit sein.

Frank versprach, uns am nächsten Tag abzuholen und zu Julian zu fahren. Als die Gäste weg waren, spürte ich einen neidischen Stich. Sie befanden sich alle zu einer aufregenden Zeit in einem aufregenden Land. Kwame Nkrumah war der Held Afrikas. Er hatte den Marxismus mit dem angestammten afrikanischen Sozialismus vermählt und war bei Schwarzen auf der ganzen Welt so beliebt wie bei weißen Machthabern verhasst und gefürchtet. Aber Joe Williamson hatte sich nun mal für mich und meinen Job in Monrovia ins Zeug gelegt, außerdem hatte ich ihm mein Wort gegeben, dass ich dorthin gehen würde und er stolz auf mich sein könnte.

Julian Mayfield sah so gut aus, dass man als junge Frau Herzklopfen bekam. Er war groß und breitschultrig, Schwarz, geistreich, attraktiv und verheiratet. Anna Livia Cordero Mayfield war eine kleine, dunkeläugige puerto-ricanische Ärztin mit einem Eigensinn wie eine Lokomotive auf Abwegen.

Unser Wiedersehen gestaltete sich stürmisch. Wir erzählten uns die alten Geschichten und tauschten neue Storys aus. Anna Livia gab mir Namen an der Universität, Julian versprach, mich dorthin zu begleiten. Der Abend endete mit Gelächter darüber, wie Julian die amerikanischen Behörden ausgetrickst und auf verschlungenen Pfaden erfolgreich Asyl in Afrika beantragt hatte. Guys wichtigtuerische Bemerkungen kamen bei den Leuten gut an, wenn auch weniger bei mir, und Julian meinte, ich könne ruhigen Gewissens nach Liberia gehen, er würde schon ein Auge auf meinen Sohn haben. »Hör mal, Junge«, fuhr er fort, »in Ghana nennen die jungen Leute jeden Menschen, der ein halbes Jahr älter ist als sie, Auntie oder Uncle. Ich kümmere mich um dich, aber wehe, du Riesenlulatsch mit dem großen Mundwerk nennst mich je ›Onkel Julian‹. Ich bin dein großer Bruder, alles klar?« Wir umarmten uns lachend zum Abschied und verabredeten uns für die nächsten Tage.

Frank setzte uns bei Walter ab. Guy und ich wünschten uns knapp eine gute Nacht, denn ich war ganz und gar nicht amüsiert von seiner großspurigen Einmischung, und ihm hatte mein Missfallen missfallen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Haus leer. Richard und Ellen hatten Guy zu ihrem Picknick abgeholt, und Walter war schon unterwegs.

Ich sortierte Guys Klamotten aus, legte zur Seite, was man flicken konnte und was nur noch zum Staubwischen taugte. Seine zwei guten Anzüge hängte ich auf, damit sie für die Termine an der Uni knitterfrei waren. Aus meinem Koffer packte ich nur zwei Kleider und die Unterwäsche aus, denn ich blieb nur so kurz, da hob ich die edlen afrikanischen Gewänder, die Bahnti mir geschenkt hatte, lieber auf. Sie hatte Stein und Bein geschworen, dass ich in der liberianischen Gesellschaft damit als Liberianerin durchgehen würde.

Ich kochte, aß, faltete Wäsche und las die Titel in Walters Bücherregal, bis es dunkel wurde.

Gegen sechs Uhr beschlich mich allmählich ein ungutes Gefühl, als hätte ich eine Verpflichtung vergessen oder aus Versehen etwas von Wert zertreten. In der Küche stieß ich auf Walters Ginflasche. In Gesellschaft trank ich gern mal etwas, allein eher nicht. Ich schenkte mir ein kleines Marmeladenglas randvoll mit Gin ein.

Es klingelte. Alice Windom stand vor der Tür, hinter ihr Frank.

»Hi Maya, anscheinend sind wir die Ersten. Die anderen kommen auch gleich.« Ich bat die beiden herein und schenkte Saft aus, da weder sie noch er Alkohol tranken. Mein leeres Ginglas goß ich wieder voll.

Wir saßen ganz entspannt im Wohnzimmer. Frank, der den Blick kaum von Alices Gesicht, Figur oder Beinen wenden konnte, erzählte bruchstückhaft von dem Picknick.

»Massig zu essen. Gute Sachen. Oder, Alice?«

Sie lächelte schwach.

»War lustig, hat Spaß gemacht. Oder, Alice?«

Sie grimassierte noch einmal gutmütig, ins Blaue hinein.

»Wann meint ihr, dass Guy nach Hause kommt?«

»Wir haben sie bei Winneba überholt«, sagte Alice. »Richard hat zu viel getrunken, deshalb saß Guy am Steuer. Sie müssten in den nächsten paar Minuten hier sein.«

Mein Verstand sortierte sich. Wenn Guy selber fuhr, dann war alles in Ordnung. Er hatte seine ersten Fahrstunden in einem uralten Citroën im Gewühl der Kairoer Straßen absolviert; er konnte mit einem Auto umgehen.

Reifenquietschen in der Einfahrt.

»Da sind sie«, sagte Alice.

Unbeeindruckt von den Ozeanen zwischen uns meldete sich der alte toby aus Arkansas. Ich sprang auf, holte Guys Pass aus seinem Zimmer, dann meinen von gegenüber und etwas Geld und wartete, bis Alice die Tür geöffnet hatte.

Gemurmel drang durch den Korridor. Plötzlich eine Stimme.

»Wo ist seine Mutter? Seine Mutter muss doch hier sein?«

Ich schob mir unsere Pässe und die englischen Pfund in den BH und ging nach vorn. Im Wohnzimmer stand Ellen, zerzaust und blutüberströmt. Als sie mich sah, stieß sie einen Schrei aus.

»Maya, es war nicht unsere Schuld. Sonst ist niemand verletzt, außerdem lebt er ja noch.« Ich verstand jedes Wort und die Absicht hinter ihren hysterischen Satzfetzen und ging weiter, bis ich ihr direkt ins blutverschmierte Gesicht blickte. Wo ich herkomme, ist man Gewalt gewohnt, und Verluste sind üblich.

»Wo ist mein Sohn, Ellen? Ich muss sofort zu ihm.« Ich legte dieselbe Beherrschung in meine Stimme wie meine Großmutter, wenn sie von einem Lynchmord gehört hatte.

Ellen heulte sich an Alices Schulter aus. »Im Korle-Bu-Krankenhaus. Aber er hat noch geatmet, ich schwör’s.«

Im Auto bat ich Ellen, mit dem Gewinsel aufzuhören. Es ging weder um ihr Leben noch um ihren Sohn. Wir fuhren so schnell wie möglich zum Krankenhaus und in einer Stille, die nur von Ellens gelegentlichem Schniefen unterbrochen wurde.

Die Notaufnahme im Korle Bu war schmerzhaft hell erleuchtet. Ich marschierte los und fand mich in einem weißen Tunnel wieder, an dessen Ende ein einziges besetztes Rollbett an der Wand stand. Als ich dort war, lag mein Sohn in voller Länge ausgestreckt unter einem weißen Laken, seine sattgoldene Haut aschgrau, die Augen geschlossen und der Kopf in einem sonderbaren Winkel.

Ich wand mich von Alice los und befahl Ellen, ihr bescheuertes Geschniefe sein zu lassen. Als die beiden zurückwichen, hatte ich freien Blick auf meinen Sohn, mein einzig wahres Leben. Mit siebzehn hatte ich ihn zur Welt gebracht. Als er zwei Monate alt war, zog ich mit ihm von meiner Mutter weg, und bis auf ein Jahr, das ich ohne ihn in Europa verbrachte, und einen Monat, als er von einer geisteskranken Frau entführt worden war, hatten wir unser Leben zusammen verbracht. Mein ganzes Erwachsenenleben lag ausgestreckt auf diesem Bett vor mir, steif wie ein Sargbrett, in einem fremden Land, das Gesicht blutverkrustet, die Kleider blutgetränkt.

Richard packte mich von hinten an den Schultern. Ich fuhr herum und wäre fast erstickt an der Whiskeyfahne vermischt mit dem Gestank nach schlechten Zähnen.

»Maya, es war nicht meine Schuld.«

Er lallte und sabberte. Meine Beherrschung war dahin. Ich wollte ihm an die Gurgel, an die Augen, die Nase, aber noch bevor meine Hände ihn erreichten, streichelten mir Hände über den Rücken, legten sich auf meine Hüften.

»Schwester, bitte. Üb Geduld.«

Ein fremdes Ehepaar stand hinter mir, alt und mit weisen, liebevollen Gesichtern.

»Ist das dein Sohn?« Ich nickte. »Schwester, wir haben ihn am Straßenrand gefunden und ins Korle Bu gebracht.«

Ihre Freundlichkeit brach meinen Panzer auf. Ich brüllte los und sie schlossen mich in die Arme. »Schwester, schau doch. Er atmet.«

Sie zwangen mich hinzusehen, wie seine Brust sich langsam und im Rhythmus hob und senkte.

»Schwester, bitte danke Gott.« Die Frau hatte mich immer noch um die Hüften gefasst, der Mann hielt meine Hände.

»Ein Lastwagen hat ihn angefahren. Das Auto blieb stehen, der Motor ging aus. Sonst wäre dein Sohn tot.«

»Wir kamen, da hatten die anderen Leute im Auto ihn herausgezogen und an den Rand gelegt.«

»Wir haben das Autowrack gesehen, da haben wir ihn nach Korle Bu gebracht.«

»Jetzt danke Gott, dass er am Leben ist.«

Ich blickte hinüber zu meinem bewusstlosen Sohn und sagte: »Ich danke Gott. Und ich danke euch.« Das Paar umarmte mich und trat zu meinem Sohn ans Bett. Eine Krankenschwester tauchte auf. »Wer ist hier verantwortlich?«

»Ich. Ich bin seine Mutter.«

Sie war effizient und ohne Zartgefühl. »Sie sind beide Schwarze Amerikaner?« Ich nickte, mit der Frage im Hinterkopf, ob unsere Herkunft in Ghana wohl dieselben negativen Auswirkungen hätte wie unsere Hautfarbe in unserem Heimatland. Die Schwester rasselte ihre Litanei herunter. »Wir müssen ihn röntgen. Einer unserer Röntgenassistenten ist auch Schwarzer Amerikaner. Ich rufe ihn an, aber erst müssen Sie Ihren Sohn am Empfang aufnehmen lassen und an der Kasse bezahlen.«

Guy sollte nicht unbeaufsichtigt auf dem Korridor herumliegen. Ich blickte mich nach dem ghanaischen Ehepaar um, aber es war verschwunden.

»Ich bleibe bei ihm, Maya.« Alice legte mir die Hand auf den Arm. Sie blickte gerade feierlich genug, um mich wissen zu lassen, dass es ihr ernst war, aber nicht so tragisch, dass sie meine Hysterie noch verstärkt hätte.

Ich brachte die Aufnahme hinter mich und eilte hinter einer Menschenschlange her, die dem Rollbett mit meinem Sohn folgte. Der Röntgenassistent und ich machten uns miteinander bekannt, und er schob Guys Liege vor eine Tür.

Wir traten ein. Der besoffene Richard, seine lautstark zerknirschte Frau, Alice und noch ein paar fremde Gestalten lümmelten an der Wand. Der Röntgenassistent schickte alle weg außer Alice und mir.

»Ich brauche jemanden, der ihn umpositioniert und festhält. Er ist bewusstlos, und ich muss seinen ganzen Körper röntgen.«

Alice und ich schoben Guys willenlosen Körper auf eine weitere Liege. Wir drehten ihn um, legten ihm die Arme ordentlich an die Seiten, arrangierten seine Beine, betteten seinen Kopf um, bis jeder Zentimeter seines Körpers dem unheilvollen Röntgenauge ausgesetzt war. Dann schoben wir ihn wieder auf seine Rollliege, und ich bat den Röntgenassistenten um ein Wort.

»Wie lange wird er noch bewusstlos sein?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich glaube, er hat einen Schock, aber vielleicht liegt er auch im Koma. Die Bilder sind morgen fertig. Kommen Sie vormittags wieder. Vielleicht wissen wir da schon was.« An der Tür wurden wir von zwei Schwestern empfangen, die Guy rasch wegschoben. Ich wollte ihnen schon nachlaufen, aber Alice hielt mich auf.

»Lass sie. Sie wissen am besten, wie sie es ihm bequem machen. Das ist ihr Beruf.«

Ich blickte dem Bett nach, mit dem der mir am nächsten stehende Mensch auf der Welt verschwand.

Zurück in Walters Haus machte ich mir eine Kanne Kaffee und trank eine Tasse nach der anderen, die kochend heiße Flüssigkeit mit Gin auf Trinktemperatur gebracht. Alice fuhr nach Hause, Walter ging irgendwann ins Bett, und am nächsten Morgen suchte ich mir in aller Herrgottsfrühe ein Telefonbuch und rief ein Taxi.

Am helllichten Tag wirkte das Krankenhaus wie eine ganz normale Klinik. Man wies mir den Weg zu Guys Zimmer, er erkannte mich, und meine Lebensgeister erwachten.

»Hi Mom, was ist passiert?«

Seine Stimme war schwach und seine Haut blass wie eine Gewächshauszitrone.

Ich erzählte ihm von dem Unfall, aber noch bevor ich fertig war, hatte er das Bewusstsein schon wieder verloren. Eine Stunde lang blieb ich an seinem Bett sitzen und versuchte, ihn innerlich zum Aufwachen zu bewegen, strich ihm immer wieder mit dem Kopfkissenzipfel übers Gesicht. Was, wenn er sterben würde, wie sollte ich dann bloß weiterleben, wo könnte ich hin, wofür würde es sich lohnen zu leben?

Draußen vor seinem Zimmer nahm mich ein Arzt in Empfang.

»Sie sind Mrs Angelou?« (Ich hatte den Anmeldebogen mit meinem alten Namen ausgefüllt.)

»Ja, Herr Doktor, wie geht es ihm? Wird er überleben?«

»Er hat einen gebrochenen Arm, eine Beinfraktur und möglicherweise innere Verletzungen. Aber er ist jung. Ich glaube schon, dass er durchkommt.«

Ich blieb den ganzen Tag bei Guy im Zimmer und sah zu, wie er immer wieder aufwachte und wegsank. Wenn ich irgendwann ein Taxi zu Julian nahm, dann nur, weil die Schwestern mich explizit aufgefordert hatten zu gehen. Die Besuchszeiten waren angeschlagen, und alle musste sich daran halten.

Anna Livia öffnete, und ich sank ihr in die Arme. Sie hatte von dem Unfall gehört, und als sich meine Hysterie allmählich legte, sagte sie, sie sei zwar am Korle Bu nicht tätig, aber sie würde noch am selben Abend bei Guy vorbeischauen. Ich solle mich in der Zeit ausschlafen. Sie fuhr mich bei Walter vorbei. Die Tür zu Guys Zimmer starrte mich unheilschwanger an, trotzdem klopfte ich und erhoffte mir insgeheim ein »Ja, Mom, bin grade noch beschäftigt, komm aber gleich«.

Ich wandte mich um und setzte mich auf mein Leihbett. Dann merkte ich erst wieder etwas, als mich Walter an der Schulter rüttelte. »Schwester Maya. Schwester, Dr. Codero ist am Telefon.«

Ich folgte ihm wie in Trance. Weder kannte ich eine Frau Dr. Codero noch diesen Menschen, der mich geweckt hatte, noch dieses Haus, durch dessen Korridor ich torkelte.

»Guten Tag. Hier Maya Angelou.« So förmlich meldete sich Vus immer am Telefon, mit seinem vollen Namen.

»Maya, ich bin’s, Anna Livia. Ich habe noch mal Röntgenbilder machen lassen. Ich bin jetzt im Korle Bu. Der Unfall war schlimmer, als die anderen Ärzte dachten. Guy hat Brüche in der Halswirbelsäule.«

Der Unfall, mein bleicher Sohn, seine scheußlich klamme Haut, meine Liebe zu ihm – all das flutete zugleich zurück in meinen Kopf.

»An drei Stellen. Ich habe angeordnet, dass er verlegt wird. Er kommt in einen Ganzkörpergips. Bist du noch da, Maya?«

Ich war nirgendwo. Ganz sicher nirgendwo, wo ich schon einmal war. »Ja, natürlich«, sagte ich.

Sie habe Beziehungen zu einem Militärkrankenhaus, erklärte sie, und sobald der Gips trocken sei, würde Guy dort hingebracht. Es sei ihm ziemlich an die Nerven gegangen, es sei also besser, wenn er sich erst etwas beruhigte, bevor ich kam.

»Ich komme sofort«, sagte ich.

Sie meinte es gut, aber sie kannte meinen Sohn nicht. Kannte nicht den übermütigen Jungen, der tagtäglich damit fertigwerden musste, dass sein Vater ihn ablehnte, kannte nicht den jungen Mann, für den weiße Anmaßung eine Selbstverständlichkeit war und das Weiterziehen von einer Schule zur anderen, von Küste zu Küste nichts Neues, und der sich schließlich auf einem ganz neuen Kontinent und in lauter neuen Kulturen hatte zurechtfinden müssen. Sicherheit gab ihm einzig und allein, dass seine Mutter, ob nun hilfreich oder nicht, nie weit war.

»Ich komme sofort.«

Ich wartete auf den Korridoren, im Garten und in der Kantine des Krankenhauses, bis der Gips ausgehärtet war, und fuhr dann mit meinem Sohn im Krankenwagen in die neue Klinik. Der noch feuchte Gips sonderte einen säuerlichen Geruch ab, doch mein sedierter Sohn sah aus wie ein fahlgoldener Engel in einem langen, weißen Gewand.