Mit Guys fortschreitender Genesung wurde Accra zu einer Stadt voller Wunder. Der riesige Makola-Markt zog mich an seinen wogenden wohlriechenden Busen und hielt mich stundenlang dort fest. Schwarze Frauen saßen vor ihren Ständen und boten ihre Waren feil: Erdnüsse, Erdnussbutter, Batikstoffe, Besteck, Pond’s Gesichtscreme, Dosenmilch, Sandalen, Männerhosen, Chilischoten, Chilisoße, Tomaten, Geschirr, Palmöl, Palmbutter und Palmwein.
Das Einkaufszentrum unter freiem Himmel, in dem geschrien wurde und Musik plärrte, Gerüche waberten und Kinder herumsausten, Kunden feilschten und Marktfrauen entschlossen gegenhielten, ließ Amerikas großartige Warenhäuser vergleichsweise farb- und leblos erscheinen.
Stundenlang konnte ich den Präsidentenpalast und das Parlament umrunden, wo Schwarze Menschen Pläne für die Zukunft des Landes diskutierten. Allein dieser Macht nahe zu sein, machte mich schwindelig. Als Guy über den Berg war, schrieb ich Mutter. Ich erzählte ihr von dem Unfall und dass ich mich jetzt erst meldete, weil sie sowieso nichts hätte tun können, außer sich mit mir zu sorgen.
Sie schickte mir postwendend einen ordentlichen Batzen Geld und schrieb, wenn ich sie hierhaben wolle, wäre sie schneller in Afrika, als ich bis drei zählen könnte.
Guy würde einen Monat im Krankenhaus bleiben und sich anschließend drei Monate zu Hause erholen müssen. Ich zog in den YWCA und schrieb einen Brief an Bahnti und Joe Williamson, denn ich konnte ja nun nicht nach Liberia, sondern würde in Ghana bleiben und mir hier einen Job suchen. Anna Livia überließ mir ihre Küche, so dass ich Guy täglich eine warme Mahlzeit kochen konnte. Zum Krankenhaus trampte ich, besorgte mir Mitfahrgelegenheiten oder nahm das Tro-tro (ein billiges Sammeltaxi). Das Geld zerrann mir unter den Fingern, und ich brauchte unbedingt eine Arbeit. Irgendwann kam Guy ja aus dem Krankenhaus, und dann musste ich ein Zuhause für ihn haben.
Julian wollte mich mit Efuah Sutherland in Verbindung bringen – Dichterin, Dramatikerin und Leitfigur des ghanaischen Theaters. Sie empfing mich mit großer Herzlichkeit. Wir setzten uns unter der Markise vors Haus und tranken mit Blick auf das grasbewachsene Gelände ihres Hofes Kaffee.
Oh ja, sie hatte schon von mir gehört. Und vom Unfall meines Sohnes. Wir seien schließlich in Afrika, da spreche sich so etwas herum.
Efua war tiefschwarz, und ihre schlanke Gestalt war in reinweißes Leinen gehüllt. In Ruhepose hatte ihr Gesicht etwas von der kühlen Schönheit der Nofretete-Büste, aber sobald sie lächelte, sah sie aus wie ein verschmitztes kleines Mädchen mit einem köstlichen Geheimnis.
Ich erklärte ihr, warum ich Arbeit suchte, und listete meine Referenzen auf. Sie verschaffte mir einen Termin bei Professor J.H. Nketia, Ethnomusikologe und Leiter des Afrikanistik-Instituts an der Universität von Ghana. Dr. Nketia rief seine Leute zusammen: Joseph de Graaf, Professor für Schauspiel und Theaterwissenschaft, Bertie Okpoku, Professor für Tanz und Grace Nuamah, Tanzmeisterin. Er stellte mich vor und kündigte an, dass sie sich besprechen und mir bald Bescheid sagen würden.
Noch bevor die Woche um war, rief mich Efuah an, ich hätte einen Job als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität von Ghana. Da ich keinen Universitätsabschluss hätte, könne ich nicht über die normalen Kanäle eingestellt werden, was heiße, dass ich nicht das Gehalt erwarten könne, das andere Ausländer erhielten, vielmehr würde ich als Ghanaerin bezahlt, also mit wenig mehr als der Hälfte dessen, was Ausländer bekämen. (Später sollte ich erfahren, dass Nicht-Ghanaer deshalb mehr bekamen, weil sie für alles doppelt so viel bezahlten wie die Einheimischen.)
Ich versuchte, ein Wort dazwischenzubekommen, doch Efuah fuhr fort: »Ein befreundeter Professor ist ein halbes Jahr auf Sabbatical, und wir haben es jetzt so arrangiert, dass du sein Haus haben kannst.«
Ich stieß einen Schrei der Dankbarkeit aus und hörte gerade noch Efuahs Stimme mit einem nüchternen: »Schwester, ich bin auch Mutter.« Dann legte sie auf.
Ich klaubte den Schrankkoffer, den ich bei Walter deponiert hatte, die im Gepäckraum des YWCA zurückgelassenen Koffer und die Tasche, aus der ich in letzter Zeit gelebt hatte, zusammen und zog in ein gemütlich möbliertes Haus auf dem Campus.
Als ich Guy aus dem Krankenhaus abholte, hatte er etwas von einem großen, stabilen Baum kurz vor dem Umstürzen. Er war noch mal ein paar Zentimeter gewachsen und hatte von der Herumliegerei zugenommen. Der Gips, der ihm wie eine Mönchskutte über Kopf und Schultern reichte, starrte vor Dreck, aber er musste ihn trotzdem noch drei ganze Monate tragen.
Wir feierten seine Entlassung mit gefülltem Brathähnchen, unser beider Lieblingsgericht. Er war blendend gelaunt. Er hatte das Schlimmste überstanden, Anna Livia meinte, die Brüche würden gut heilen, im Krankenhaus hatte er sich mit ein paar Leuten angefreundet, und bald käme er auf die Uni. Am nächsten Tag ging ich mit seinem Highschool-Zeugnis zur Einschreibung und erfuhr kurz und bündig, dass mein Sohn nicht anfangen könne zu studieren. Er hatte nicht die nötigen Zulassungsvoraussetzungen. Die Universität von Ghana funktionierte nach dem britischen System, angehende Studenten mussten also die sechste Klasse – oder wie die Amerikaner es nannten, das junior college – abgeschlossen haben. Man schickte mich entschieden wieder weg.
Nicht mit mir. Bei dem, was Guy alles durchgemacht hatte, konnte es nicht daran scheitern.
Conor Cruise O’Brien war Vizekanzler der Universität, und Nana Kobina Nketsia IV, ein hochrangiger afrikanischer Würdenträger, ehemaliger Vizekanzler. Ich ließ mir einen Termin bei Dr. O’Brien geben, und Efuah machte mich mit dem Nana bekannt.
Ich bat und bettelte, redete mit Engelszungen und argumentierte, versicherte, dass ich nicht auf ein Stipendium oder sonstige finanzielle Hilfen angewiesen war, sondern für seine Studiengebühren und sämtliche Bücher selbst aufkommen würde. Nachdem ich wochenlang die Büros belagert, Männer auf Korridoren in die Enge getrieben und auf Campuswegen verfolgt hatte, bekam ich endlich den Bescheid, sie hätten es sich überlegt, und es sei nicht fair, Schüler aus dem amerikanischen Schulsystem zu benachteiligen.
Sie hatten sich eine dreiteilige Prüfung überlegt, zu der Guy am Montag um neun Uhr morgens antreten sollte.
Da ich Guy nichts von dem steinigen Weg bis dorthin erzählt hatte, nahm er die Nachricht gelassen auf. »Okay, Mom. Ich bin dann bereit.«
Den ganzen Montagvormittag fühlte sich mein Schreibtisch an wie ein nasser Schwamm, und die Papiere darauf waren nicht zu lesen. Alle paar Minuten sah ich auf die Uhr. Efuah kam auf einen Schwatz vorbei, aber ich war so abgelenkt, dass das Gespräch immer wieder versiegte.
Schließlich kam Guy über den Campus gehumpelt, der Gipshelm von der Mittagssonne fast weiß getüncht. Ich zwang mich, sitzenzubleiben. Er kam herein und baute sich vor mir auf.
»Fertig.« Er hatte eine rosige Gesichtsfarbe, und die Augen blickten unbekümmert.
»Wie ist es gelaufen?«
»Super. Die Ergebnisse kriege ich erst in ein paar Tagen, aber es lief gut. Mom, wusstest du, dass Conor Cruise O’Brien das Kongo-Projekt der UN geleitet hat?«
Wusste ich.
»Genau, und eine meiner Fragen hieß: ›Welche Rolle kommt dem Europäer bei der afrikanischen Entwicklung zu?‹« Er gluckste vor Vergnügen. »Na, dem hab ich’s vielleicht gezeigt. Ich hatte sein Buch To Katanga and Back schon in Kairo gelesen.«
Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich treff mich jetzt noch mit ein paar Leuten im Junior Common Room.«
Sprachlos sah ich zu, wie er davonstürmte. Ich hatte gekatzbuckelt, den Tom gegeben und gebettelt, damit er diese Prüfung machen durfte, und der Kerl setzte alles in den Sand, bloß um seine Männlichkeit herauszukehren. Ich steigerte mich in eine heillose Wut.
Als ich eine Stunde später wieder einigermaßen sicher auf den Beinen stand und halbwegs zivilisiert sprechen konnte, ging ich über den Campus und stieß im Senior Common Room auf Dr. O’Brien. Ich bleckte die Zähne, bereit, sämtliche Register der Unterwürfigkeit zu ziehen – mein Volk hatte das Buch der Umgangsformen Weißen gegenüber schließlich nicht umsonst verfasst.
Ich hatte Brei in der Mundhöhle. »Dr. O’Brien, Guy hat mir erzählt, was er auf eine Ihrer Fragen geantwortet hat. Sie hatten sicher noch keine Zeit, seine Arbeit zu lesen …«
»Doch, doch, Miss Angelou, und seine Antworten sind prima. Die Formulare für seine Einschreibung werden Ihnen ins Büro geschickt. Solche Köpfe sind an unserer Universität gern gesehen.«
Ich bleckte wieder die Zähne und trat den Rückzug an.
Früher oder später würde ich mir wohl eingestehen müssen, dass ich Schwarze Männer oder Schwarze Jungs einfach nicht verstand, von weißen ganz zu schweigen.
Guy zog in die Mensa Sarba Hall. Für meinen Geschmack war sein Zimmerchen fürchterlich klein und fürchterlich dunkel, aber er war begeistert. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er allein leben, fern von Mutters Fuchtel, allein verantwortlich, für sich und vor sich. Meine Reaktion stand in krassem Gegensatz zu seiner Begeisterung. Auch ich würde zum ersten Mal im Leben allein sein. Zur Welt gebracht hatte ich ihn ja noch unter dem Dach meiner Mutter, und seitdem waren er und ich beisammen gewesen. Manchmal hatten wir bei anderen gewohnt, oder andere Menschen hatten bei uns gewohnt, aber der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens war bisher immer er.
Als er den alten Schrankkoffer Richtung Tür manövrieren wollte, hielt ich ihn auf.
»Du sollst so schwere Sachen doch nicht heben, du tust dir noch weh. Denk an deinen Hals. Pass auf.«
Er stellte den Koffer ab und drehte sich um. »Mom, ich weiß, ich bin dein einziges Kind und du hast mich lieb.« Er blickte mich ruhig an. »Aber merk dir eins, bitte: Es ist mein Hals und mein Leben. Und ich lebe mein Leben mit allem, was dazugehört, oder gar nicht.«
Er nahm mich herzlich in den Arm. »Ich hab dich lieb, Mom. Vielleicht kriegst du jetzt auch mal die Gelegenheit, erwachsen zu werden.«
Draußen hupte es. Guy machte die Tür auf und rief: »Kommt ruhig rein, ich bin fertig.« Zwei ghanaische junge Männer sprangen lärmend auf die Veranda und kamen ins Zimmer geplatzt. Als sie mich sahen, rissen sie sich zusammen.
Ich bot ihnen Getränke an, ein Bier, einen kleinen Imbiss. Zu gern hätte ich Guys Abreise hinausgezögert. Aber alle lehnten ab. Sie mussten ihrem Onkel das Auto zurückbringen, und Guy musste sein neues Leben beginnen.
Gemeinsam schleppten sie Guys Habseligkeiten zu einem nagelneuen Mercedes und luden sie ein. Guy drückte mich noch einmal, dann stiegen sie ein und fuhren ab.
Ich machte die Tür zu und hielt den Atem an. Jetzt musste doch eine Welle der Emotion kommen, mich überspülen, zu Boden werfen, mir die Luft rauben. Nichts passierte. Ich fühlte mich weder einsam noch verlassen noch trübselig noch trostlos.
Ich setzte mich, immer noch mit dem Damoklesschwert über mir. Doch der erste Gedanke, der mir kam, lautete perfekt ausformuliert und unmissverständlich: »Endlich kann ich beim Brathähnchen mal die ganze Brust allein essen.«