FÜNF

18. November 2010

Roger Silbert versammelte die Mitarbeiter im Hof, kletterte auf die Ladefläche eines Trucks und hob ein Megafon an die Lippen. Er war dünn, roch nach Minzpastillen und redete zu schnell. An diesem Tag trug er eine Mütze mit der Aufschrift B. Barer & Sons , um trotz Jackett, Krawatte und goldener Manschettenknöpfe seine Verbundenheit mit der Belegschaft zu demonstrieren – auch wenn kein einziger der Arbeiter ein paar Manschettenknöpfe besaß oder auch jemals ein Hemd kaufen würde, das keine angenähten Knöpfe besaß, die den gleichen Zweck erfüllten.

Matt stand ziemlich weit vorn neben Andy. Rachel hatte sich unter die Leute aus dem Verkaufsbüro gemischt, die sich am Rand hielten. Die Barers selbst waren offensichtlich nicht da, sondern machten drei Wochen Urlaub in Palm Springs, wie sie es jeden Winter taten.

Silbert begann seine Rede damit, den Leuten die schlechte Wirtschaftslage vor Augen zu führen, den landesweiten abrupten Einbruch bei den Aufträgen für neue Häuser, die Einfuhr von billigem Holz aus anderen Ländern und all die anderen Probleme, mit denen ihre Industrie zu kämpfen hatte, als ob sie das nicht alles schon längst wüssten. Als wenn diese Sorgen sie nicht schon lange nachts nicht mehr schlafen ließen oder sie vor Wut nach ihren Hunden traten oder sich an den Wochenenden besoffen oder zu ihrem Arzt gingen, weil sie sich sorgten, was die Verhärtung unter der Haut oder der chronische Schmerz oder all das Blut im Stuhl wohl zu bedeuten hatte und sie eines Tages vielleicht kosten würde.

»Wir mussten unsere Firma einer strengen Prüfung unterziehen und uns auch für neue Technologien öffnen, die unsere Ausgaben senken, Energie sparen, höhere Erträge erzielen, unsere Arbeitsleistung steigern und uns flexibler machen«, sagte Silbert.

Andy wandte sich Matt zu. »Wie viele Männer hast du an der Säge, mit der du gerade herumspielst?«

Matt zögerte eine Sekunde, bevor er antwortete. »Zwei.«

»Scheiße!«, sagte Andy.

»Deswegen freue ich mich, Ihnen ankündigen zu können, dass wir unsere veralteten Sägen gegen Maschinen austauschen werden, die dem neuesten Stand der Technik entsprechen«, fuhr Silbert strahlend fort.

Andy meldete sich zu Wort. »Wenn Sie sagen, Sie senken die Ausgaben, dann bedeutet es doch, dass Sie Leute feuern.«

»Leider werden wir um die Verkleinerung der Belegschaft nicht herumkommen«, erwiderte Silbert. »Aber jene, die bei uns bleiben, haben dafür die Sicherheit, in einer schlankeren, stärkeren, effizienteren Firma zu arbeiten, die für die Herausforderungen der Zukunft weitaus besser aufgestellt ist.«

»Sie meinen damit, dass die Hälfte von uns, Männer, die zehn, zwanzig Jahre hier gewesen sind, Holzarbeiter durch und durch, auf die Straße gesetzt werden, um dort zu verhungern, während Sie sich einen Bonus in die Tasche stecken und weiterziehen, um bei der nächsten Firma einer völlig anderen Branche, von der Sie genauso wenig Ahnung haben, weitere hart arbeitende Männer rauszuschmeißen.« »Wir wollen die Dinge jetzt nicht überdramatisieren«, erwiderte Silbert. »Niemand wird verhungern. Wir bieten Umschulungsprogramme an, völlig umsonst und das für alle unsere Arbeiter, die vorübergehend freigestellt werden.«

»Und worin werden sie ausgebildet?«, rief jemand aus der Menge.

»Datenverarbeitung, Webdesign, Solaranlageninstallation, Computerreparatur«, erwiderte Silbert. »Und in vielen anderen interessanten Berufen mit Zukunft.« »Ich möchte mich gern in Ihrem Beruf ausbilden lassen.« Andy öffnete seine Hose, ließ sie herunter und zeigte Silbert seinen nackten Hintern. Er beugte sich vor und sah Silbert zwischen seinen Beinen hindurch an. »Ich muss ja nur herausfinden, wie ich mit meinem Kopf an meinen Arsch herankomme. Das reicht doch als Qualifikation.«

Die Menge johlte und lachte. Silbert schüttelte tadelnd den Kopf wie ein mahnender Vater und senkte das Megafon. Es gab nichts mehr zu sagen, und das wusste er. Matt schlug Andy auf die Schulter. »Zieh deine Hosen hoch. Du machst alles nur noch schlimmer.«

»Wir verlieren unsere Jobs, Matt. Wie kann es denn da noch schlimmer werden?«

»Du hättest deinen vielleicht behalten, bevor du diesen Quatsch gemacht hast.«

»Ja, klar«, meinte Andy und machte seine Hose zu.

Matt wandte sich an Silbert, der auf das Bürogebäude zuging, und rief ihm nach:

»Werden Sie Andy rausschmeißen?«

Silbert blieb stehen und drehte sich zu Matt um. »Bisher ist er der Erste und auch der Einzige, der auf der Liste steht. Heute Abend ist er hier verschwunden.«

»Wenn er gehen muss«, sagte Matt, »gehe ich auch.«

Erstaunt sah Andy seinen Freund an. Schweigen senkte sich über die Menge.

»Sie sind der beste Säger, den wir haben«, erklärte Silbert. Dann trat er ein paar Schritte auf Matt zu und sah ihm direkt in die Augen. Matt konnte das Zeug riechen, mit dem der Mann seinen Atem frisch hielt. »Aber das Schöne an der WM3500 ist, dass jetzt jeder der Männer unser bester Säger sein kann. Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück bei der Jobsuche.«

Silbert wandte sich ab und ging davon. Matt bemerkte, wie Rachel ihn anstarrte, aber nicht geschockt oder wütend, wie er es erwartet hatte, sondern zutiefst enttäuscht. »Dieses verfluchte Arschloch«, murmelte Andy, schnappte sich einen langstieligen Kanthaken von einem Holzstoß in der Nähe und näherte sich Silbert von hinten.

Matt rannte los und warf Andy zu Boden, als der den Kanthaken gerade hoch über den Kopf riss. Gemeinsam krachten sie hart zu Boden und wälzten sich in Schlamm und Sägemehl, während Matt den Kanthaken aus Andys Fingern wandt.

Andy zog Matt auf den Rücken, kniete sich über ihn und holte mit einer Faust aus, um sie ihm ins Gesicht zu hämmern.

»Andy!«, brüllte Matt.

Sein Freund erstarrte und blinzelte heftig, als würde er aus einem Tagtraum erwachen. Dann blickte er hinab auf Matt und völlig erstaunt auf seine hoch erhobene Faust, die er seinem Freund gerade auf die Nase hatte dreschen wollen. Langsam senkte er den Arm und öffnete die Finger.

Inzwischen hatten andere Holzarbeiter die beiden umringt. Sie zogen Andy von Matt herunter, der seinem Freund die Hand entgegenstreckte, damit der ihm aufhalf, um zu zeigen, dass er ihm die Sache nicht nachtrug.

Aber Andy wich nur immer weiter zurück, bis die Menge ihn verschluckte und er aus Matts Blickfeld verschwunden war.

Ein anderer der Männer ergriff Matts Hand und half ihm auf. Matt bedankte sich, klopfte sich den Dreck von den Kleidern und machte sich auf den Weg, um seinen Spind auszuräumen.

Das Longhorn sah aus wie eine Sägemühle, in der Getränke ausgeschenkt wurden. Die Wände waren mit Sägeblättern und altem Werkzeug für die Holzarbeit dekoriert, und als Rachel den Laden betrat, war fast jeder der Anwesenden ein Mitarbeiter von B. Barer & Sons oder, wie im Fall von Andy und Matt, ein Exmitarbeiter.

Andy befand sich eindeutig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er hielt Hof an einem Tisch, der überfüllt war mit Krügen und Gläsern, denn die Leute gaben ihm mehr Bier aus, als ein Mann überhaupt zu trinken imstande war, obwohl Andy wirklich sein Bestes gab.

Matt saß an der Bar, wo er sich seit einer Stunde an einem Bier festhielt, vor sich eine Schüssel mit Nüssen, während er träge zusah, wie die Männer Andys Wagemut feierten, der ihn seinen Job gekostet hatte.

Rachel schob sich auf den Barhocker neben ihn und trank einen Schluck von seinem Bier.

»Das war ziemlich dämlich, was du heute gemacht hast«, sagte sie.

»Da hast du Recht«, erwiderte Matt. »Silbert hätte es wahrscheinlich verdient, dass ihm jemand den Schädel einschlägt.«

»Du weißt genau, was ich meine, Matt. Du hättest nicht mit Andy unterzugehen brauchen.«

Matt zuckte die Achseln. »Es war sein gutes Recht, wütend zu sein, und er hat es nicht verdient, dafür gefeuert zu werden.«

»So ist es nicht gewesen. Andy ist unzuverlässig, verantwortungslos und ein Arsch-loch. Er wusste, dass es ihn als Ersten treffen würde, und deswegen hat er diese Nummer abgezogen, damit er wie ein Held vom Platz gehen konnte. Aber du hast ihm den Abgang kaputtgemacht. Er ist immer noch ein Arschloch, und du bist der Held.«

»Ich fühle mich aber nicht wie einer«, meinte Matt.

»Genau daran merkst du, dass du einer bist«, erwiderte sie. »Denn die echten Helden wissen, wie viel auf dem Spiel stehen muss, damit man einer wird. Womit willst du jetzt dein Geld verdienen?«

»Ich komme mit wenig zurecht«, erklärte Matt. »Außerdem kann ich ziemlich gut mit Hammer und Säge umgehen, und es gibt immer Leute, die einen Zimmermann brauchen.«

»Nur gibt es leider hier in der Gegend nicht so viele Leute, die sich das auch leisten können.«

»Dann arbeite ich eben im Tausch«, sagte Matt. »Ich decke einem Mechaniker das Dach, und der bringt mir dafür mein Getriebe in Ordnung.«

Sie betrachtete sein Gesicht und schien plötzlich etwas darin zu sehen, was ihr bisher noch nicht aufgefallen war. »Dir macht das wirklich nichts aus.«

»Ich nehme die Dinge, wie sie kommen«, sagte er.

»Was hat Andy Goodis jemals getan, um deine Freundschaft zu verdienen?« Bevor Matt darauf antworten konnte, kam Andy mit zwei bis zum Rand gefüllten Krügen herübergewankt und hatte auch gleich zwei Dutzend seiner Bewunderer im Schlepptau.

»Ich liebe diesen Mann«, erklärte Andy und stellte die beiden Krüge so hart vor Matt auf den Tresen, dass sie überschwappten. »Matthew Cahill ist der großartigste Mensch im nordwestlichen Pazifik. Habe ich Recht?«

Die Menge jubelte, grölte und pfiff, was Matt sichtlich peinlich war. Er zuckte nur mit den Schultern.

»Und wenn ihr toll findet, was er heute getan hat, dann hättet ihr ihn mal in der siebten Klasse sehen sollen«, fuhr Andy fort und wandte sich Matt zu. »Erinnerst du dich noch?«

»Niemand hat Lust, sich daran zu erinnern, was man mal in der Mittelschule getan hat«, sagte Matt. »Kann nicht jemand die Jukebox anschmeißen?«

Matt griff in seine Tasche, um etwas Kleingeld herauszufischen, aber so leicht wollte Andy sich nicht ablenken lassen. Er drehte Matt den Rücken zu, um die Menge mit seiner Geschichte zu ergötzen.

»Gleich in der ersten Stunde ist der Direktor hereingekommen und hat mir vorgeworfen, ich sei in sein Büro eingebrochen und hätte ihm einen Haufen Pferdekacke auf den Schreibtisch gelegt. Am Ohr hat er mich von meinem Stuhl hochgezerrt«, erzählte Andy. »Aber noch bevor wir an der Tür waren, wisst ihr, was Matt da getan hat? Er hat zugegeben, dass er es war.«

Rachel sah Matt verblüfft an. »Das hast du gemacht?«

Matt verzog das Gesicht und nickte.

»Er ist für volle drei Monate vom Unterricht ausgeschlossen worden, und als Matt nach Hause kam, hat sein Dad den Gürtel genommen und ihm den Hintern grün und blau gehauen«, erzählte Andy weiter. »Wobei man wissen muss, es war gar nicht Matt, der die Scheiße auf Ackermanns Schreibtisch gepackt hatte.«

»Und warum hast du dann die Schuld auf dich genommen?«, wollte Rachel von Matt wissen.

»Der Direktor ist immer grundsätzlich davon ausgegangen, dass hinter jedem Streich an der Schule Andy steckte, ob das nun stimmte oder nicht«, erwiderte Matt. »Ich hatte eine weiße Weste, deswegen wusste ich, mit mir würden sie nicht allzu hart ins Gericht gehen, aber wenn sie Andy wegen der Sache dran gekriegt hätten, wäre er von der Schule geflogen.«

»Und er hat gewusst, dass die Prügel, die ich von meinem Alten eingestrichen hätte, kaum so sanft gewesen wäre wie die, die er sich abholen musste«, sagte Andy. »So ist eben Matthew Cahill.«

Die Leute applaudierten erneut, hoben ihre Gläser und tranken einen weiteren kräftigen Schluck auf Matt. Einer der Holzarbeiter deutete auf Matt und rief dem Barkeeper zu: »Sein Geld ist hier nichts wert!«

»Das ist gut, denn nach dem heutigen Tag werde ich auch keins mehr haben«, erwiderte Matt.

Alle lachten und trollten sich wieder an ihre Tische, außer Andy, der an der Bar stehen blieb und neugierig Rachel betrachtete.

»Bist du hierher gekommen, um uns zu trösten?«, wollte er wissen.

»Nur weil ich im Büro arbeite, heißt das noch lange nicht, dass es mich nicht interessiert, was draußen im Hof passiert.«

»Das ist wirklich nett, aber ich bin jetzt ausreichend getröstet worden«, meinte Andy. »Mein Freund Matt hier allerdings hat eigentlich überhaupt noch keinen Trost bekommen. Und ich wüsste im Moment keinen anderen Mann, der eine gehörige Portion davon verdient hätte.«

»Verzieh dich, Andy«, sagte Matt.

Andy wollte gerade zurück an seinen Platz gehen, als Rachel ihm eine Frage stellte. »Und wer ist es nun wirklich gewesen?«

»Was gewesen?«, fragte Matt.

»Wer hat die Pferdeäpfel auf den Schreibtisch des Direktors gelegt?«, wollte sie wissen.

»Das haben sie nie herausgefunden«, erklärte Matt.

Andy grinste. »Sie haben es sofort gewusst.«

Matt sah Andy ehrlich überrascht an. »Du bist es wirklich gewesen?«

»Na klar«, erwiderte Andy. »Das hast du doch gewusst. Wer sonst hätte die Eier dazu gehabt?«

Andy lachte und wandte sich den anderen Holzarbeitern zu, die das alles offensicht-lich genauso komisch fanden wie er.

Schweigend erhob sich Matt von seinem Barhocker. Und als Andy sich erneut zu ihm umdrehte, drosch Matt ihm eine rechte Gerade mit der Wucht eines Backsteins ins Gesicht.

Der Schlag warf Andy so heftig zurück, dass er sich mit seinem Bier besudelte und gegen seine Freunde taumelte, die ihn auffingen, bevor er zu Boden krachen konnte. Der Krug zersplitterte auf dem Boden.

Matt warf ein paar Dollar auf den Tresen und sah dem Barkeeper in die Augen. »Das ist für den kaputten Krug«, sagte Matt und ging hinaus, ohne Andy noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Hätte er es getan, wäre ihm aufgefallen, dass der Schlag Andy nicht das Grinsen aus dem Gesicht gewischt hatte, obwohl seine Vorderzähne blutverschmiert waren.

»Siehst du?«, sagte Andy zu Rachel. »Er fühlt sich schon besser.«

»Du bist ein Arschloch«, sagte sie und folgte Matt zur Tür.

Andy sah ihr nach, wischte sich mit dem Arm das Blut vom Mund und wandte sich an seine Freunde.

»Bier her!«, brüllte er.

Und die Party ging weiter.