DER BIENEN-KRISTALL

Der Wunsch zu verstehen und zu erklären, wie die Waben der Honigbienen zustande kommen, hängt nicht zuletzt mit deren unglaublicher Präzision im Erscheinungsbild zusammen: eine Fläche vollkommen gleichmäßiger Sechsecke aus einem hauchdünn verarbeiteten, besonderen Material.

In der weiteren Verwandtschaft der Honigbienen finden wir durchaus Ähnliches, so z. B. die Brutzellen der staatenbildenden Wespen. Diese sind auch sechseckig, aber sie werden aus zerkautem Zellstoff gemacht und genügen dem hohen Anspruch an Genauigkeit in der Ausführung, wie die Bienen ihn haben, bei weitem nicht. Deren Waben sind derart exakt ausgebildet, dass der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler (1571–1630) den Bienen einen mathematischen Verstand zuschrieb, um ihre Leistung erklären zu können. Der französische Naturforscher René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683–1757) schlug vor, das Maß der Wabenzellen zur Grundlage eines einheitlichen Längenmaßes zu machen. Die Bienen wurden um diese Anerkennung ihrer Bauleistung gebracht, als am 26. März 1791 die verfassunggebende Versammlung in Paris den Meter als Standard-Längenmaß einführte.

PHÄNOMENALE EXAKTHEIT: MATHEMATISCHES TALENT DER BAUBIENEN?

Wie diese Regelmäßigkeit der Wabenzellen zustande kommt, wissen wir nicht genau. Schafft man es, im Gewühle der Bautrupps einzelne Bienen bei ihrem Tun zu beobachten, dann sieht man, wie sie mit Mundwerkzeugen und Beinen die Wände bearbeiten. Die Dicke dieser Wände ist über die gesamte Länge bis auf wenige tausendstel Millimeter fast gleichmäßig. Die Wände frisch gebauter Zellen sind perfekt glatt und überall gleich dick, die Winkel, unter denen die Wände zusammenstoßen, betragen exakt 120 Grad.

Darüber, wie diese Genauigkeit zu erklären ist, gibt es einige Theorien, die aber ineinander übergehen. Eine davon sieht ausschließlich das direkte Bauverhalten der Bienen als Erklärung an: Jede Baubiene bearbeitet eine Seite einer Zellwand, sie kennt also nicht die Beschaffenheit der Gegenseite, wo eine andere Biene arbeitet. Beide drücken mit ihren Fühlern gegen die Wand. Sie haben eine instinktive Vorstellung davon, wie weit die Wand diesem Druck nachgeben darf, wenn die Wanddicke stimmt. Durch ständiges Wachsabschaben vom Rohbau der Wand und kontinuierlichen Druckproben entsteht, so diese Theorie, nach und nach die optimale Zellwanddicke in größter Regelmäßigkeit.

Die Regelmäßigkeit der Zellen einer Wabe wird selbst dann kaum gestört, wenn, wie hier, die Wabe aus zwei aufeinander zulaufenden Baustellen hervorgeht.

Neuere Forschungsansätze weisen in eine andere Richtung. Wichtig für diese Sichtweisen ist, dass sie neue Untersuchungstechniken einsetzen können und bei der Entwicklung von Theorien nicht mehr allein auf den Augenschein angewiesen sind.

EIN FASZINIERENDES ZUSAMMENSPIEL

Betrachtet man mit einer Wärmebildkamera eine Wabenbaustelle im Naturwabenbau, dann erkennt man: Am Rand der Wabe liegen die neuen Zellen. Diese haben die Baubienen zunächst rund angelegt, wobei sie den eigenen Körper als Schablone benutzen können. In die frisch aufgebauten Zellen schlüpfen nun Heizerbienen, die die Wände und Böden auf eine Temperatur von über 40 °C bringen. Das erwärmte Wachs wird so geschmeidig, dass jetzt, während die Zellen in die Länge gezogen werden, ein physikalischer Vorgang in Gang kommen kann, der zu der exakten Ausbildung der sechseckigen Wabenstruktur führt.

Sechsecke entstehen in der unbelebten und in der belebten Welt überall da, wo gleichverteilte Kraftquellen gegeneinander wirken. Die innere mechanische Spannung der Wabenwände zieht jetzt das geschmeidig gewordene Wachs so zurecht, dass jede der dicht gepackten Zylinder-Zellen sechs gerade Wände ausbildet. Das Zusammenspiel der physikalischen Eigenschaften des bieneneigenen Baustoffes, dem Wachs, führt also zusammen mit der Fähigkeit der Bienen, das Wachs aktiv zu erwärmen, zu einem so faszinierend genauen Ergebnis (Karihaloo, 2013).

Hätte Johannes Kepler Wärmebilder des Wabenbaus sehen können, hätte er den Bienen wohl kaum mathematisches Talent zuschreiben wollen. Er hätte es dann nämlich auch Seifenblasen zugestehen müssen: Sie zeigen das gleiche Phänomen. Wenn zwei Seifenblasen zusammenstoßen, entstehen zwischen ihnen ganz von selbst exakt glatte und gleich dicke, vollkommen ebene Wände.