Kapitel 24

»Was war denn das?«, sagte Lucy, kaum dass sie wieder im Auto saßen. »Der Mann hat uns ja regelrecht weggejagt!«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, murmelte Fabienne, noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, den Austernhändler endlich mal selbst zu treffen. Und nun das … »Vielleicht gefällt es ihm nicht, dass ich als Frau ein Restaurant besitze?«

Lucy runzelte die Stirn. »Ich hatte eher das Gefühl, er wurde erst seltsam, als du von diesem Noé gesprochen hast. Vielleicht waren die beiden Männer sich gar nicht so freundschaftlich zugetan, wie du dachtest?«

»Meinst du? Das kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen …« Fabienne schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich ist dem Mann einfach nur eine Laus über die Leber gelaufen. Von launischen Männern könnte ich dir ein Lied singen«, sagte Lucy grimmig, ehe sie freundlicher fortfuhr: »Aber von so einem Dummkopf lassen wir uns nicht den Tag verderben, einverstanden?«

Fabienne schaute ihre Schwester dankbar an. »Einverstanden! Weißt du, was? Wir fahren jetzt einfach weiter zur Saline von Gruissan. Obwohl sie gleich neben den Fischerhütten liegt, wo ich meinen Fisch hole, war ich noch nie dort. Irgendwie sind meine Tage immer zu kurz für all meine Aufgaben!«

»Jedes Salz schmeckt anders, dies können Sie nachher bei ein paar Kostproben selbst feststellen. Übrigens – schon hundert Jahre vor Christi Geburt wurde hier in Gruissan Salz gewonnen«, sagte Bastien Petit, der Besitzer der Saline, stolz, während er mit den beiden Frauen in Richtung der quadratischen Salzbecken am Ufer ging. »Das wertvolle Fleur de Sel wird bei uns nur in der Zeit von August bis September geerntet. Denn nur dann ist das Zusammenspiel vom Tramontane-Wind und der Sonne so stark, dass sich die Salzkristalle auf dem Wasser absetzen. Unsere sauniers ernten dieses wertvolle Salz übrigens nur von Hand – es werden keinerlei Maschinen eingesetzt.«

Beeindruckt betrachteten Fabienne und Lucy die Becken mit dem zartrosafarbenen Wasser, auf dem die Salzkristalle glitzerten wie Eiskristalle im Winter.

»Warum ist das Meerwasser so rosa? So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Lucy staunend.

»Die Farbe kommt von einer Alge, die in salziger Umgebung besonders gut wächst. Sie wird vom sogenannten Salinenkrebs verzehrt, der deshalb auch rosa ist. Und diese Krebse wiederum gehören zur Lieblingsspeise der wild lebenden Flamingos – nun wissen Sie, woher deren rosa Gefieder stammt!« Bastien Petit zeigte lächelnd auf einen kleinen Schwarm Flamingos, der just in diesem Moment westwärts über die Saline flog.

Die beiden Schwestern schauten sich an. So unergiebig der Besuch der Austernfarm gewesen war, so informativ und aufregend war es hier in der Saline!

Die Verkostung der verschiedenen Salze war ebenso interessant. Fabienne kaufte ein kleines Holzkistchen mit feinstem Fleur de Sel und außerdem ein Salz, das mit den Kräutern der Garrigue versetzt war. Nachdem sie sich bei dem Salinenbesitzer herzlich für seine Zeit bedankt hatte, verabschiedeten sie sich.

Sie waren schon auf dem Weg zu ihrem Automobil, als ein anderer Wagen auf den Hof fuhr. Darin saß Alain Pinot. Als er Fabienne erkannte, leuchteten seine Augen auf. Ohne die Tür zu öffnen, machte er einen leichtfüßigen Sprung aus dem Auto.

»Madame Mazeau, Madame Sutter …« Er deutete eine Verbeugung an, doch schon im nächsten Moment umarmte er Fabie und küsste sie drei Mal auf die Wangen.

»Sie waren einkaufen?« Er zeigte auf das Kistchen in Fabiennes Hand.

Fabienne nickte. »Und Sie? Wenn ich gewusst hätte, dass sie ebenfalls Salz benötigen, hätte ich Ihnen welches mitgebracht.«

»Sie sind nicht nur eine herausragend gute Köchin, Sie haben auch noch ein Herz aus Gold!« Alain stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Nun übertreiben Sie nicht …« Fabienne lachte, ein wenig peinlich berührt. Es war nicht das erste Mal, dass Alain ihr Komplimente machte, meist geschah dies allerdings nur, wenn sie allein waren.

»Wir Menschen mit Visionen müssen übertreiben! Denn wie sonst könnten wir unsere Träume wahr werden lassen?«, sagte Alain überschwänglich. Er nahm Fabienne beim Arm, drehte sie sanft in Richtung der Lagerhalle der Saline. »Sagen Sie mir bitte, was Sie sehen, Madame Mazeau!«

Fabienne lachte verwirrt auf. »Ich sehe eine verwitterte Lagerhalle«, erwiderte sie und konnte die kleinen Härchen auf seinem Arm spüren.

»So wird es wohl den meisten ergehen. Ich jedoch sehe einen attraktiven Verkaufsraum, ein kleines Fischrestaurant und außerdem sehe ich noch ein Museum, das den Besuchern die Historie der Salzgewinnung mithilfe von Gemälden und historischen Werkzeugen näherbringt.« Er wandte seinen Blick von der Lagerhalle ab und Fabienne zu. »So wie Ihr Restaurant inzwischen eine Attraktion in Gruissan ist, so wie meine Stelzenhäuser etwas Besonderes sind – so soll auch die Saline zu einem Anziehungspunkt werden!« Er schaute die beiden Schwestern Beifall heischend an. Als weder Fabienne noch Lucy gleich antworteten, fuhr er fort: »Gibt es in Nizza eine Saline? Oder in Cannes? Sehen Sie«, sagte er, als die beiden den Kopf schüttelten. »Unser wunderschönes Gruissan ist nun mal ein ganz besonderer Ferienort.«

Fabienne war beeindruckt. Und dass er ihr Restaurant als eine Attraktion bezeichnete, freute sie. Als Alain Pinot ihren Arm wieder losließ, war sie fast ein wenig enttäuscht. Sie hätte ihm und seinen Plänen von der Zukunft gern noch ein wenig zugehört. Doch Pinot nahm ihre Hand, küsste sie galant und sagte: »Meine Damen, ich muss mich nun leider entschuldigen. Vor mir liegt eine wichtige Aufgabe – ich muss den lieben Bastien Petit davon überzeugen, dass er nichts sehnlicher will, als ein Museum zu erbauen und ein Fischrestaurant zu eröffnen!«

Die beiden Frauen lachten – wenn das einer hinbekam, dann war es Alain Pinot.

»Wie lange kennst du Monsieur Pinot schon?«, sagte Lucy, kaum, dass sie wieder allein waren.

»Ungefähr seit einem Jahr«, sagte Fabienne. »Gleich am ersten Tag sind wir ihm über den Weg gelaufen. Er war es auch, der den Vorschlag machte, dass ich hier ein Restaurant öffne. Irgendwie war diese Begegnung schicksalhaft«, endete sie lächelnd.

»Mir scheint, Monsieur Pinot sieht das genauso. Der Mann ist ja ganz vernarrt in dich! Wenn er bei uns im Restaurant zu Gast ist, besteht er jedes Mal darauf, dass du zu ihm an den Tisch kommst – was du dann ja auch jedes Mal machst …«

Fabiennes Kopf schoss zu ihrer Schwester herum. »Warum sagst du das so anzüglich? Zwischen Alain und uns gibt es halt immer etwas zu bereden. Er ist ein Freund und Geschäftsmann, wir ziehen alle an einem Strang, wenn es um Gruissan als Ferienort geht.«

»Der will dich noch ganz woanders hinziehen, nämlich in sein Bett«, sagte Lucy mit geschürzten Lippen. »Du solltest dich ein wenig von ihm fernhalten – nicht, dass er das, was du als Freundschaft bezeichnest, missversteht.«

Fabienne schwieg. Wenn sie ehrlich war, waren ihr solche Gedanken auch schon durch den Kopf gegangen. Und manchmal … nachts im Bett … dachte sie darüber nach, wie es wohl wäre, wieder einmal große Gefühle in den Armen eines Mannes zu empfinden. Bis auf die kurze Zeit mit Noé vor elf Jahren hatte die Leidenschaft in ihrem Leben keine große Rolle gespielt. Yves und sie küssten sich hin und wieder flüchtig, manchmal nahm er sie kurz in den Arm oder es gab eine kleine zärtliche Berührung im Vorbeigehen, doch mehr wurde nie daraus. Aber deshalb bei einem anderen Mann suchen, was ihr zu Hause fehlte? Sicher, Alain war ein attraktiver Mann, sein rascher Geist, seine Tatkraft – all das war anziehend, stellte Fabie fest, während sie ihn hinten bei den Salzbänken heftig gestikulieren sah. Wahrscheinlich erklärte er dem Salinenbesitzer gerade seine Visionen …

»Eine Affäre ist das Letzte, wonach mir der Sinn steht«, sagte sie jedoch aus tiefstem Herzen. »Mir reicht die Leidenschaft, die ich empfinde, wenn ich am Herd stehe.«

Sie wollte schon ins Auto einsteigen, doch dann zögerte sie. Sinnend schaute sie ihre Schwester an. War der staubige Parkplatz der richtige Platz für das Gespräch, das sie schon so lange vor sich herschob? Andererseits – es würde wahrscheinlich auch nicht einfacher werden, wenn sie bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen …

Und so gab sie sich einen Ruck und sagte: »Apropos Männer – was ist denn eigentlich mit dir und Gregory? Versteh mich nicht falsch – wir sind überglücklich, dich bei uns zu haben! Aber mich wundert, dass du so gar nicht von zu Hause sprichst …« So, jetzt war es raus. Fabienne erschrak, als sie sah, wie Lucys sonst so beherrschte Miene vor ihren Augen wie eine eingeschlagene Fensterscheibe in tausend Stücke zerbrach. Wut, Hass, Verzweiflung, Panik, Ratlosigkeit, Kummer – dass ein Gesicht so viele Gefühle auf einmal vermitteln konnte, erschreckte Fabienne regelrecht. Gleich würde die Schwester in Tränen ausbrechen, fürchtete sie und hatte zugleich Angst vor dem, was sie zu hören bekommen würde.

»Mein Zuhause? Ich habe kein Zuhause mehr! Gregory hat mich verlassen. Schon vor einem halben Jahr«, sagte Lucy tonlos. »Die Neue ist jünger und interessanter. Eine Theaterschauspielerin! Gregory sagt, ich hätte mich immer nur für die Kinder und den Haushalt interessiert und das wäre für einen Mann auf Dauer langweilig.« Tränen kamen keine, sie klang hasserfüllt und bitter.

Fabienne glaubte, nicht richtig zu hören. »Aber … dass du dich einzig um die Mädchen kümmerst, war doch der ausdrückliche Wunsch deines Mannes!«

»Das scheint er vergessen zu haben.« Lucy schnaubte. »Vor vielen Jahren hatte man mir in der örtlichen Reitschule eine Stelle als Kontoristin angeboten. Das Kontor, in dem ich Schreibarbeiten hätte erledigen sollen, lag direkt neben der Reitbahn, ich hätte jeden Tag all die schönen Pferde gesehen! Die Mädchen waren zu dieser Zeit schon aus dem Gröbsten heraus, es hätte alles gepasst. Doch Gregory hat mir verboten, arbeiten zu gehen. Dabei wusste er ganz genau, dass Pferde schon immer meine große Leidenschaft waren!«

Fabienne nickte. Bereits früher, als sie noch alle in der Schleusenstation wohnten, hatte die Schwester leidenschaftlich gern die Pferde der Barkenschiffer versorgt.

»Wahrscheinlich hätte ich mich damals mehr wehren sollen, ja. Aber ich wollte keinen Streit, außerdem nahm ich meine Pflichten als Ehefrau ernst. Bin ich wirklich so dumm, wie Gregory meint?«, schob Lucy leise hinterher.

Fabienne schüttelte den Kopf. »Fang bloß nicht mit solchen Gedanken an«, sagte sie streng. »Du hast nichts falsch gemacht, im Gegenteil – wahrscheinlich warst du die beste Ehefrau, die ein Mann sich wünschen kann.« Trotz ihres Zuspruchs schossen ihr ein Dutzend Fragen durch den Kopf. Hast du um deine Ehe gekämpft? Seid ihr schon geschieden? Wie steht es um deine finanzielle Versorgung? Was sagen deine Töchter zu all dem? Die beiden Mädchen waren längst verheiratet und hatten eigene Familien. Doch das Schicksal der Mutter konnte sie schließlich nicht unberührt lassen. Alles zu seiner Zeit, dachte Fabienne.

»Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Gregory hat das Haus, in dem wir gewohnt haben, verkauft. Ich bin sozusagen obdachlos«, flüsterte Lucy. »Dass mir so etwas mal passiert, hätte ich nie im Leben geglaubt. Damals, als Lily an diesen schrecklichen Pierre geraten ist, war ich so hochnäsig! Als Noah und du Mitleid mit Lily hattet, konnte ich das nicht nachempfinden. Jeder macht sich schließlich selbst das Bett, in dem er später liegen muss, habe ich mir damals gedacht. Hätte Lily sich halt auch einen guten Mann gesucht! Ich habe mir ach so viel darauf eingebildet, die Frau eines angesehenen Lehrers zu sein! Dabei – was war ich denn? All die Jahre hat Gregory seine schlechte Laune, die er aus der Schule mitgebracht hat, an mir ausgelassen. All die Jahre habe ich mir sein Gejammer und Gezeter anhören müssen, wenn der Schulleiter Gregorys Anstrengungen nicht entsprechend würdigte. Dass mein Mann sich einmal für meine Belange interessiert hätte, kam nie vor … Ich war die Putzfrau, die Köchin, die Waschfrau und diejenige, die dafür sorgte, dass seine Hemden faltenlos gebügelt sind!« Lucy schaute Fabienne an. »Ich stehe vor den Scherben meines Lebens, Fabienne.«

»Es liegt nicht alles in Scherben, im Gegenteil – du hast zwei wunderbare Töchter, die nun ihren eigenen Weg gehen. Darauf kannst du stolz sein!«, sagte Fabienne heftig. Sie nahm die Schwester in den Arm und hielt sie für einen langen Moment fest.

»Auch wenn sie nach außen versucht, die Contenance zu bewahren – innerlich ist Lucy völlig verzweifelt, und nicht nur das. Sie ist außerdem mittellos, Gregory hat sie anscheinend mit ein paar Francs abgespeist! Das Haus, das er verkauft hat, gehörte ihm allein, vom Verkaufserlös hat er Lucy keinen Centime abgegeben. Er erhebt außerdem Ansprüche auf sämtliche Ersparnisse. Schließlich sei er derjenige gewesen, der all die Jahre das Geld nach Hause gebracht habe. Was für eine bodenlose Frechheit! Er konnte seiner Lehrertätigkeit doch nur in Ruhe nachgehen, weil Lucy sich daheim um alles gekümmert hat!« Fabienne schluckte hart.

Es war kurz vor Mitternacht, Yves und sie lagen im Bett, endlich konnte sie ihm von dem Gespräch erzählen. »Und dann hat der Trottel doch tatsächlich noch zu Lucy gesagt, dass er die Ersparnisse brauche, um den luxuriösen Lebensstil seiner Geliebten finanzieren zu können.« Sie stieß einen Knurrlaut aus und schlug mit der rechten Faust auf die Bettdecke. »Ich bin so wütend! Am liebsten würde ich nach Toulouse fahren und den Mann zur Rede stellen!«

Yves strich ihr beruhigend über den Arm.

Fabienne rappelte sich auf und schaute ihn auf einen Ellenbogen gestützt fragend an. »Was meinst du – könnte Lucy nicht einfach bei uns bleiben? Sie ist uns schon jetzt eine große Hilfe, und wenn Suzanne im November ausfällt, werden wir sie wahrscheinlich noch dringender brauchen …« Das Serviermädchen würde Anfang November niederkommen, hatte die Hebamme, zu der Suzanne erst kürzlich gegangen war, gemeint. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen rechnete Fabie damit, dass die junge Frau mindestens eine Woche vor und eine Woche nach der Geburt nicht würde arbeiten können.

Yves trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das er immer auf dem Nachttisch stehen hatte. »Natürlich kann Lucy bleiben!« Er schaute Fabienne an und fügte lächelnd hinzu: »Dass ich immer eine Schwester dazubekomme, wenn ich mit dir lebe, bin ich ja schon gewöhnt.«