Gleich am nächsten Tag betrat ein großer, rothaariger Mann zögerlich die Küche, wo Fabienne gerade dabei war, Zwiebeln zu schneiden. Er räusperte sich und sagte: »Verzeihen Sie, dass ich einfach so hereinplatze – mein Name ist Bruno Pinot, ich bin der Cousin von Marie-Claire und Alain.« Er verbeugte sich tief.
Fabienne runzelte die Stirn. So unterwürfig musste ihr gegenüber nun wirklich niemand auftreten! Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und hielt die rechte dem Mann hin.
»Monsieur Pinot, es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie etwas steif, während sie ihn unauffällig musterte. Bruno Pinot war hochgewachsen, mit großen Füßen und großen Händen, die Narben aufwiesen. Seine roten Haare waren struppig, wie die von Marie-Claires Sohn August. Seine Augen waren graugrün, und Fabienne las darin von einem wechselvollen Leben. Er wirkte älter als die fünfundvierzig Jahre, die er laut Marie-Claire war.
»Sie möchten also Hilfskoch bei mir werden? Erzählen Sie mir etwas über sich, wo haben Sie das Kochen gelernt?«, sagte sie und spürte schlagartig ein seltsames Gefühl in ihrer Magengegend. Hatte einst nicht Noé genau diese Worte zu ihr gesprochen? Konzentrier dich!, ermahnte sie sich, schau nicht zurück, sondern nach vorn!
»Tja, wo soll ich da anfangen?« Bruno Pinot fuhr sich verlegen durch die Haare. »Am besten rücke ich gleich mit der Wahrheit heraus. Ich kann weder schreiben noch lesen.«
Fabienne stutzte. So viel Ehrlichkeit gleich in der ersten Minute?
»Und falls Sie mich jetzt nicht gleich wieder wegschicken, würde ich Ihnen gern meine Geschichte erzählen.«
Fabienne spürte, dass ihr der Mann schon jetzt gefiel. Vielleicht konnte er nicht lesen und schreiben, aber sein Wort galt, darauf hätte sie gewettet.
Sie zeigte auf den Küchentisch, schob Violaines Stifte und ihren Zeichenblock beiseite und sagte: »Setzen wir uns doch.« Noch während sie sprach, schenkte sie ihnen je ein Glas Wasser ein.
»Wie gesagt, Alain ist mein Cousin, Marie-Claire meine Cousine, unsere Väter waren Brüder. Doch da enden auch schon unsere Gemeinsamkeiten«, hob Bruno Pinot an. »Während Alain und Marie-Claire als nur zwei Geschwister sehr behütet aufwuchsen, waren wir zu Hause dreizehn Kinder. Mein Vater war ein fleißiger Mann, meine Mutter tat auch alles für unser Wohlergehen, doch wir waren schlicht zu viele Mäuler, als dass unsere Eltern sie satt bekommen hätten. Als mein Bruder Gabriel acht und ich sieben Jahre alt waren, entschieden meine Eltern sich dazu, uns fortzugeben. Wir kamen zu entfernten Verwandten nach Vienne in den Haushalt eines Müllers – dort würde es immer reichlich zu essen für uns Buben geben, glaubten meine Eltern.« Er zuckte mit den Schultern.
Fabienne, die ahnte, dass nun nichts Gutes kommen würde, schluckte. »Und dann?«, fragte sie, und ihre Stimme klang rau wie Schleifpapier.
Bruno lächelte schief. »Meine Eltern sollten recht behalten – zu essen bekamen wir genug! Doch dafür mussten wir von früh bis spät schuften wie Erwachsene. Mehlsäcke schleppen, das schwere Mühlrad anstoßen, wenn es mal wieder stotterte, die Hinterlassenschaften der Kutschpferde entfernen – und das waren nach einem langen Tag ziemlich viele. Wir haben das Mehl mit einem Leiterkarren zur Kundschaft gefahren, der Wagen war manchmal so schwer, dass wir ihn zu zweit kaum bewegen konnten. Aber das alles wäre noch erträglich gewesen …« Bruno verstummte und verzog stirnrunzelnd das Gesicht.
»Ja?«, sagte Fabienne leise. Was, wenn Victor auch in einer Familie gelandet war, die ihn viel zu schwer arbeiten ließ? Der Gedanke war zu schrecklich, als dass sie sich erlaubte, ihn weiterzudenken.
»Weder Gabriel noch ich durften die Schule besuchen«, sagte Bruno, und zum ersten Mal klang seine Stimme hart. »Wir waren unbezahlte Hilfskräfte und mussten den ganzen Tag zur Verfügung stehen.«
»Aber … das ist doch verboten! Kinder müssen in die Schule – ihr Fehlen wird doch jemandem von den Behörden aufgefallen sein!«, fuhr Fabienne auf.
Der rothaarige Mann schnaubte nur. »Oh, es kamen mindestens zwei Mal Leute vom Amt. Beide Male mussten wir uns verstecken, und der Müller hat uns Schläge angedroht für den Fall, dass wir uns zeigen. Er hat den Beamten dann irgendwelche Lügengeschichten aufgetischt und lautstark darauf hingewiesen, dass seine eigenen Kinder selbstverständlich die Schule besuchten.«
Fabienne schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber die Nachbarn, die Leute in Vienne, zu denen Sie das Mehl ausgeliefert haben – die wussten doch sicher auch Bescheid.«
»Natürlich. Aber wen kümmerte es? Gabriel und ich waren nicht die einzigen arbeitenden Kinder, die es in der Gegend gab. Bei einem Schweinezüchter schufteten ein Mädchen und ein Junge, keiner wusste so genau, woher sie kamen, nur dass es nicht die eigenen Kinder des Mannes waren. Und in der Schreinerei, die dem Bruder vom Bürgermeister gehörte, gab es auch zwei fremde Buben. Jeder wusste Bescheid, dass es Kinder wie uns gab, aber es kümmerte die Leute genauso wenig, wie unsere Eltern interessiert hat, wie es uns ergangen ist.«
»Wie schrecklich! Das, was Sie erleben mussten, tut mir von Herzen leid. Und warum Sie nicht lesen und schreiben können, weiß ich nun auch«, sagte Fabienne und schlug, als sie fortfuhr, einen betont munteren Ton an. »Aber ob Sie kochen können, das weiß ich noch nicht …«
Bruno Pinot lächelte sie verhalten an. »Ich glaube schon, Madame Mazeau. Jedenfalls habe ich in Restaurantküchen gearbeitet, seit Gabriel und ich aus der Mühle abgehauen sind – mein Bruder war fünfzehn, ich vierzehn. Ich fing als plongeur an und wurde dann Küchenjunge. Im letzten Restaurant durfte ich sogar als saucier arbeiten. Das war in Nizza!«, sagte er und klang stolz.
»Saucier? Heißt das – Sie kennen Auguste Escoffiers modernes Küchensystem der verschiedenen Posten?« Fabienne war erstaunt.
Bruno Pinot grinste. »Na klar. Ich kann zwar weder Rezepte lesen noch schreiben, aber außer des Postens eines sauciers hatte ich auch schon den eines légumiers und poissoniers inne.« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Kochen ist für mich das Schönste, das ich mir auf der ganzen Welt vorstellen kann!«, sagte er mit glänzenden Augen.
»Da sind wir schon zu zweit«, erwiderte Fabienne lachend. Was hatte Bruno wohl hierher in diese Gegend verschlagen? Hatte Alain Pinot ihn geholt? Das sähe dem Mann ähnlich – er rekrutierte gerade überall Leute, um aus Gruissan einen florierenden Ferienort zu machen. Doch bevor sie Bruno Pinot weiter ausfragte, musste sie erst einmal herausfinden, ob er überhaupt der Richtige für ihre Küche war. Und sie hatte dafür auch schon eine Idee …
Fabienne stand auf und holte einen Teller, auf dem ein halbes Dutzend schneeweiße Rochenflügel lagen. »Den Rochen hat unser plongeur André vorbeigebracht – sein Vater ist Fischer. Ich habe gestern Abend all meine Kochbücher durchgeblättert, aber kein Rochenrezept gefunden, das mich wirklich begeistert.« War es unsensibel von ihr, ausgerechnet jetzt von Kochbüchern zu sprechen? Egal! Brunos Fell war dafür gewiss dick genug.
Er hielt einen der Rochenflügel bewundernd gegen das durchs Fenster eindringende Sonnenlicht. »Ein Fisch ohne Gräten, was für ein Wunderwerk der Natur! Rochen schmeckt wunderbar, wenn man ihn einfach in guter Butter anbrät und mit ein paar Kapern und einem Spritzer Zitronensaft serviert. Aber ich nehme an, dieses Rezept ist Ihnen zu einfach?«
»Gegen einfache Rezepte habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil, solange sie in Perfektion zubereitet werden«, sagte Fabienne lachend. »Unsere Speisekarte soll aber auch den Süden Frankreichs widerspiegeln. Das sehe ich bei einem Rezept mit Kapern und viel Butter eher nicht gegeben.«
Bruno nickte nachdenklich.
Was würde Yves von ihm halten?, fragte sich Fabienne. Selbst wenn Bruno kochen konnte – bevor sie ihm eine Zusage machte, mussten die beiden Männer sich unbedingt erst kennenlernen. Noch einen Alleingang wie bei Suzanne durfte sie sich nicht leisten.
»Ich habe eine Idee«, sagte Bruno und schaute sie an. »Im Chez Martine, einem Restaurant in Cannes, wo ich eine Zeit lang gearbeitet habe, gab es einen portugiesischen Koch. Er hat eine caldeirada de raia gekocht, das war eine Art geschichteter Eintopf mit Rochen, Tomaten, angeröstetem Knoblauch und Kartoffeln. Das Gericht war deftig und leicht zugleich, und es war sehr beliebt bei den Gästen.«
Fabienne sagte lächelnd: »Erstaunlich – ich habe den Geschmack dieses Gerichts fast schon auf der Zunge! Dabei habe ich Rochen bisher immer nur mit hellen und feinen Zutaten wie Sahne, Zitrone oder weißen Champignons in Verbindung gebracht. Dass man ihn auch deftig mit Knoblauch, Kartoffeln und Tomaten kombinieren kann, habe ich bisher nirgendwo gelesen oder gehört. Doch genau diese Zutaten sind typisch für Südfrankreich. Monsieur Pinot – hätten Sie Lust, dieses Gericht für mich zu kochen?«
Bruno Pinot strahlte. »Nichts lieber als das!«
Gegen halb zwölf ertönte die Glocke über der Eingangstür, und Suzanne kam vorbei, so wie sie es jeden Tag tat, um sich vor der geplanten Eröffnung mit allen Gepflogenheiten des Pourquoi Pas vertraut zu machen. Fast im selben Moment trudelten Yves und Violaine ein.
»Sehr gut! Das Essen ist gleich fertig.« Fabienne schaute zufrieden in die Runde. »Suzanne, bitte deck einen Tisch für fünf Personen. Und dann kannst du das Essen auftragen, das Monsieur Pinot für uns gekocht hat. Ich bin gespannt, wie es euch allen schmeckt!« Sie schmunzelte in sich hinein – natürlich hatte sie längst von dem Rocheneintopf gekostet und wusste, dass er einfach wunderbar war. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass Yves den Koch genauso sympathisch fand wie sie.
Bruno ließ es sich nicht nehmen, das Eintopfgericht selbst zum Tisch zu tragen. »Guten Tag, alle miteinander«, sagte er in die Runde. »Mein Name ist –«
Weiter kam er nicht, denn sogleich fiel Violaine ihm ins Wort. »Ich weiß, wer du bist! Du bist der Onkel Bruno von August und Nicole! Die sind nämlich meine Freunde. Und sie sagen, dass du der beste Onkel bist und dass Maman dich unbedingt einstellen muss.«
»Violaine …«, kam es missbilligend von Yves. »Solche Entscheidungen überlässt du bitte immer noch uns Erwachsenen.«
»Schon gut«, sagte Violaine seufzend, dann zeigte sie auf Suzanne de Valmont. »Das da ist übrigens Suzanne. Sie ist schwanger, aber das Kind hat keinen Papa.« Sie schaute die Servierhilfe neugierig an.
Einen Moment lang herrschte Totenstille am Tisch. Yves sah aus, als ob er vor Wut gleich platzen würde. Fabienne wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihre Tochter hatte wirklich nicht das geringste Gefühl dafür, was sich zu sagen gehörte und was man besser für sich behielt!
»Warum seid ihr alle so still?«, fuhr Violaine unbekümmert fort. »So etwas kommt schon mal vor! Mein Papa ist in Wahrheit auch nicht mein echter Papa, aber er ist der beste Papa, den ich mir vorstellen kann.« Sie stand auf und drückte Yves einen dicken Schmatzer auf die Wange.
»Hiermit wäre nun alles geklärt«, murmelte Suzanne, und Fabienne sah zu ihrem Erstaunen, wie sie und Bruno einen amüsierten Blick tauschten. Wenigstens stürmte keiner von beiden beleidigt aus dem Raum, so wie der spanische Koch! Lächelnd hielt Fabienne den Servierlöffel in die Höhe. »Wem darf ich vom Eintopf geben?«
Yves war nicht nur von Brunos Kochkünsten, sondern auch von seiner bodenständigen, unkomplizierten Art angetan. Und so war es beschlossene Sache: Marie-Claires und Alains Cousin sollte ihr neuer sous-chef werden.
Von da an traf Bruno jeden Tag pünktlich um neun in der Küche ein. Und fortan machten Fabienne und er nichts anderes, als alle Gerichte der künftigen Speisekarte Probe zu kochen – natürlich war der Rocheneintopf auch dabei. Allerdings bestand Fabienne darauf, die Zutaten fast durchsichtig fein zu schneiden, wodurch das Gericht eine ganz neue Zartheit bekam, aber auch sehr viel mehr Zeit bei der Zubereitung in Anspruch nahm als die ursprüngliche Variante.
Wer bereitete was beim mise en place vor? Wer übernahm welchen Part bei welchem Gericht? Und sollten sie das Personalessen im täglichen oder besser im wöchentlichen Wechsel kochen? Es gab viel zu besprechen, damit alles wie am Schnürchen lief, wenn das Restaurant erst eröffnet war.
Bruno hatte nicht zu viel versprochen – er konnte wirklich kochen. Außerdem war sein Gedächtnis herausragend gut, und so merkte er sich jedes Rezept, nachdem Fabie und er es einmal gekocht hatten.
Auch André Decasse, der junge Tellerwäscher, stellte sich als wahrer Segen heraus. Ganz gleich, ob ein Fass Wein in den Keller zu tragen war oder ein Botengang erledigt werden musste – André war jeden Abend zur Stelle. Ob beim Geschirrspülen nach dem Probekochen oder bei zusätzlichen Aufgaben, die er freiwillig erledigte – immer hatte er einen fröhlichen Spruch auf den Lippen oder er pfiff ein Lied vor sich hin. »Wie kann ein Mensch nur ständig gute Laune haben?«, fragte Fabienne Andrés Mutter eines Tages lachend, woraufhin diese antwortete, dass er schon als kleines Kind eine solche Frohnatur gewesen war.
Yves und Suzanne kamen gut miteinander aus, trotz Yves’ anfänglicher Zweifel. Beim gemeinsamen Üben war Suzanne flink auf den Beinen, trug zwei Teller sicher von der Küchendurchreiche zum jeweiligen Tisch – wie Yves einen dritten Teller zu tragen, traute sie sich nicht zu.
Schon während dieser Wochen ließ Fabienne es sich nicht nehmen, jeden Mittag um halb zwölf eine Mahlzeit für ihre Familie und ihre Angestellten auf den Tisch zu bringen – einfache, nahrhafte Speisen wie ein Eintopf, Rührei mit Käse und Tomaten oder einfach eine große Pfanne Bratkartoffeln und dazu ein Salat. Beim gemeinsamen Essen lernten sie sich gegenseitig von Tag zu Tag besser kennen, und auch das Vertrauen wuchs. Jeder spürte, dass man sich aufeinander verlassen konnte.
Das harmonische Miteinander im Restaurant, Gruissan, das sich auf die Sommergäste vorbereitete und mit jedem Tag schmucker wurde. Violaine, die zum ersten Mal in ihrem Leben gern in die Schule ging, die neue Freunde gefunden hatte und mindestens so glücklich war wie auf der Obstfarm. Yves und sie, die sich blind verstanden. Manchmal hätte sich Fabienne am liebsten in den Arm gekniffen, um sicherzugehen, dass sie das wirklich gerade alles erlebte. »Was für herrlich süße Tage …«, murmelte sie oft vor sich hin. Nun, da ihr Traum vom eigenen Restaurant wahr wurde, fühlte sich alles noch schöner und besser an, als sie es sich je hätte ausmalen können.
Als eine Art Generalprobe lud Yves eine Woche vor der Restauranteröffnung ein paar »Probegäste« ein: Alain Pinot, seine Schwester Marie-Claire, einige Handwerker und zwei Gemeinderäte. Jeder durfte außerdem ein bis zwei Begleitpersonen mitbringen. Yves animierte die Gäste dazu, reichlich Gerichte der Speisekarte zu bestellen und dabei recht anspruchsvoll aufzutreten. Sie sollten außerdem das Serviermädchen und ihn mit allen möglichen Fragen zur Speisekarte und den Weinen, die sie im Ausschank hatten, löchern.
Unter viel Gelächter nahmen die Gäste ihre Aufgabe äußerst ernst. Doch sowohl Yves als auch Suzanne konnten versiert Auskunft über jedes Gericht geben und dazu den passenden Wein empfehlen.
Von Schwangerschaftsübelkeit oder anderen Beschwerden war bei Suzanne bisher nichts zu spüren, im Gegenteil – je mehr Arbeit sie hatte, desto mehr schien sie aufzublühen. Nun, da sie wusste, dass sie und ihr Kind nicht verhungern würden, trat an die Stelle ihrer Verzweiflung über die Schwangerschaft sogar eine Art Freude auf das Kind, die sich in ihrem ganzen Wesen niederschlug. Der freundliche Service kam bei den Gästen mindestens so gut an wie das gute Essen – jedem schmeckte es einfach vorzüglich! Und so war es nicht verwunderlich, dass alle Probegäste dem Restaurant eine rosige Zukunft vorhersagten.