Noch nie war die Zeit so schnell verflogen wie in diesem Jahr – darin waren sich alle einig. Der Mai war wie ein Geist davongehuscht und auch der Juni verabschiedete sich schon wieder, als hätte er nur kurz auf der Durchreise vorbeigeschaut.
Der Juli kam und mit ihm die Urlauber aus nördlicheren Gefilden wie Lyon oder Paris – Alain Pinot hatte nicht zu viel versprochen. Die Gäste in Fabiennes Restaurant bestellten ihr Essen mit wallonischem Akzent, manche sprachen elsässisch, die allermeisten jedoch den stets ein wenig arrogant klingenden accent parisien. Schon ab der ersten Juliwoche waren Alain Pinots Stelzenhäuser allesamt ausgebucht, jedes Bett in der Pension von Madame Bougis war belegt. Und in der kleinen Wohnung in Marie-Claires Haus, in der zuvor Fabienne und ihre Familie gewohnt hatten, hatte sich eine Familie aus Belfort mit zwei Kindern für die ganze Sommerfrische eingenistet. Während die Eltern im Pourquoi Pas ein Glas Champagner tranken, Boule auf dem Marktplatz spielten oder einfach auf einer der Sitzbänke die Sonne genossen, waren die Gastkinder zusammen mit Violaine und Marie-Claires Kindern auf Entdeckungstour. Anfangs noch war die Mutter besorgt darüber, dass sie so viel allein unterwegs waren, ohne Lehrer, ohne Kindermädchen, ohne jegliche Kontrolle – so etwas wäre in der großen Stadt Paris undenkbar! »Machen Sie sich keine Sorgen, hier in Gruissan hat jeder ein Auge auf die Kinder. Wenn sie etwas anstellen oder sich womöglich in Gefahr bringen, würde einer von den Leuten im Dorf eingreifen. Zumindest ist das meine Erfahrung, und ich finde es äußerst beruhigend«, versicherte Fabienne der Pariserin. Sie war froh, dass Violaine sich so gut selbst beschäftigen konnte, denn Zeit war während des Hochbetriebs im Restaurant Mangelware. Dessen ungeachtet bot Fabienne ihrer Tochter trotzdem immer wieder an, ihr in der Küche helfen zu dürfen.
»Wenn du magst, zeige ich dir, wie man die leckeren kleinen Bratkartoffeln macht«, versuchte Fabienne ihre Tochter zu locken. Oder auch: »Möchtest du lernen, wie man köstliche profiteroles herstellt? Wir könnten sie gemeinsam mit einer Vanillecreme füllen …« Doch anstatt mit freudig glänzenden Augen auf Fabiennes Angebot einzugehen, winkte Violaine jedes Mal gleichgültig ab. »Es reicht doch, wenn du das alles kannst. Wenn ich später einmal eine Hühnerfarm habe, brauche ich das alles nicht.«
Eine Hühnerfarm! Fabienne blieb nichts anderes übrig, als kopfschüttelnd und auch etwas enttäuscht zuzusehen, wie Violaine nach einem gemeinsamen Frühstück allmorgendlich die Küche verließ. An manchen Tagen beschäftigte sie sich von früh bis spät mit den Hühnern, an anderen Tagen war sie mit den Kindern am Strand, baute Sandburgen und verzierte diese mit Muscheln. Manchmal durfte sie auch mit André Decasse und seinem Vater auf dem Boot mitfahren.
Viel mehr Gedanken an ihre Tochter konnte Fabienne in der Regel nicht verschwenden, denn gleich nach dem Frühstück begannen die Vorbereitungen fürs Mittag- und Abendessen. Und obwohl Lucy an den meisten Tagen mithalf und Bruno und Fabienne nach dem modernen Küchensystem von Auguste Escoffier arbeiteten – effizient, gut organisiert, zeitsparend –, gab es Tage, an denen sie mit ihren Vorbereitungen nicht rechtzeitig fertig wurden. Es gab täglich so viel zu parieren, filetieren, sautieren! Jedes Stückchen Gemüse wurde kunstvoll in Form geschnitten, bevor es in die Pfanne kam, jedes Stück Fleisch von jedem Fitzelchen Fett befreit. Wenn sie mit ihrem Mise en place mal wieder hinterherhinkten, fiel das Personalessen aus – dann griff jeder nach einem Stück Baguette und biss zwischen Tür und Angel einen Happen davon ab.
Zur Arbeit in Küche und Restaurant kam noch das ganze Drumherum: Die Einkäufe, die Bestellungen, der ganze Papierkram, der mit der Führung eines Restaurants zusammenhing – all das erledigten Fabienne und Yves nebenher, in ihrer sogenannten freien Zeit. Trotzdem blieb Post liegen, wurden Briefe viel zu spät beantwortet. »Manchmal frage ich mich, warum ich dir überhaupt schreibe, wo du mir doch so selten antwortest«, schrieb Lily eines Tages vorwurfsvoll.
Das war kein Zustand auf Dauer, befand Fabienne, doch im Augenblick ließ sich nichts daran ändern. Das Allerwichtigste war, die Gäste glücklich zu machen – und das gelang ihnen allemal!
Und dennoch – dass sich das Ganze als dermaßen anstrengend entpuppen würde, hätte Fabienne nicht gedacht. An manchen Abenden taten ihr die Füße und der Rücken so weh, dass sie sich am Geländer die Treppe ins erste Stockwerk hochziehen musste. Ihre Hände waren schrundig wie zu der Zeit, als sie noch in Carcassonne als Spülhilfe gearbeitet hatte. Dagegen war die Arbeit im Marseiller Bistro ein Kinderspiel gewesen. Aber damals hatten sie auch sehr viel weniger Tische gehabt und eine wesentlich kleinere Speisekarte.
Auch Yves und Suzanne de Valmont stöhnten, wenn niemand es hörte. Sie waren von früh bis spät auf den Beinen, deckten Tische, servierten das Essen, räumten die leeren Teller wieder ab. Wie lange würde die Schwangere dies wohl noch durchhalten?, fragte sich Fabienne besorgt, und der Gedanke, dass sie vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte, indem sie Suzanne einstellte, beschlich sie mehr als einmal.
Zum Glück hatte Lucy neben vielen kleinen Aufgaben auch noch das Waschen der Tischdecken und Servietten übernommen – wann sie das hätte erledigen sollen, war Fabienne schleierhaft. Dass die Schwester nicht schon längst wieder abgereist war, war ein wahrer Segen. Fabie fragte sich im Stillen zwar, was bei Lucy zu Hause los sein mochte, aber eine ruhige Gelegenheit für ein Gespräch wollte sich im allgemeinen Trubel einfach nicht ergeben. Und so war sie nur dankbar für die Unterstützung, die sie in Lucy hatte.
»So gut, wie das Pourquoi Pas inzwischen läuft, können wir es uns leisten, einen Tag in der Woche freizumachen«, sagte Yves eines Abends, als sie gemeinsam den Kassensturz machten.
»Bist du verrückt?« Regelrecht erschrocken schaute Fabienne von ihren Bons auf. »Wir sind mitten in der Saison, da können wir doch nicht einfach einen Tag zumachen!«
Yves griff in den Packen Geldscheine, ließ sie von oben auf die Tischplatte segeln. »Schau dir doch an, wie viel Geld wir jeden Tag verdienen! Wenn das so weitergeht, sind wir eines Tages steinreich, aber so erschöpft, dass wir das Geld gar nicht mehr ausgeben können.«
»Alles im Leben hat seinen Preis«, lag es Fabienne auf der Zunge zu sagen, doch sie verkniff sich die Bemerkung. Vielleicht war ein Tag, an dem zwar das Restaurant geschlossen hatte, sie sich dafür aber in Ruhe um alle anderen Dinge kümmern konnte, gar nicht so schlecht? »Freitag ist es immer ein bisschen ruhiger als sonst«, murmelte sie vor sich hin, dann schaute sie Yves an. »Ab wann würdest du diesen freien Tag denn einführen wollen?«
»Nun, ein bisschen Vorlauf brauchen wir …« Yves schaute auf den Kalender an der Wand. »Wie wäre es mit Anfang August? Wenn wir den Gästen die neue Regelung von nun an mit auf den Weg geben, steht niemand vor verschlossener Tür, wenn es so weit ist!«
Und so kam es, dass das Pourquoi Pas am Freitag, den ersten August, zum ersten Mal seit seiner Eröffnung geschlossen hatte.
Während Yves unten in der Küche laut singend Kaffee kochte, saß Fabienne noch vor ihrer Spiegelkommode und bürstete ihre Haare. Ihr Blick fiel auf den kleinen Kalender an der Wand. Kommenden Dienstag, am fünften August, war es wieder so weit, dachte sie, und ihr Herz war so schwer wie ihre Beine.
Wie jedes Jahr überfiel sie eine nervöse Unruhe – mehr noch, sie hatte das Gefühl, vor lauter Verzweiflung aus der Haut fahren zu müssen. So erging es ihr immer in den Tagen vor Victors Geburtstag. Doch dieses Jahr war ihre innere Unruhe noch schlimmer.
Nächste Woche wurde Victor einundzwanzig Jahre alt. Ihr Sohn war volljährig. Es gab keine neue Spur, keinen Hinweis, dem sie hätte nachgehen können. Sogar Violaine schien ihren Bruder wieder vergessen zu haben – jedenfalls erwähnte sie Victor und die Suche nach ihm mit keinem Wort mehr, dachte Fabienne traurig, während sie sich einen Zopf flocht. Ihre neuen Freunde, die Bekanntschaften mit den Urlauberkindern, Krabbenfischen und die Hühner im Garten – alles schien wichtiger zu sein als der Bruder. Aber vielleicht war das gut so. Die Vorstellung, dass ihre Tochter genauso leiden würde wie sie, war ihr unerträglich.
»Unser erster freier Tag – fühlt sich das nicht großartig an?«, fragte Yves und streckte zufrieden seine Arme in die Höhe, während sie bei Croissants und Milchkaffee zusammensaßen. »Was würdet ihr davon halten, wenn wir nachher zu Noah fahren? Vielleicht kann ich ihm ein bisschen bei der Renovierung der alten Passagierbarke, die er vor Kurzem gekauft hat, helfen. Und wer weiß, vielleicht lässt er uns sogar mal eins der Boote durchschleusen?« Er zwinkerte Violaine zu.
»Au ja!«, rief die Elfjährige sogleich. »Der Canal du Midi ist einfach toll!«
Fabienne musste unwillkürlich grinsen. »Ihr hört euch an wie echte gens de l’eau. Aber Noah können wir auch ein andermal besuchen, ich würde heute gern zum Étang de Leucate fahren.«
»Du willst ausgerechnet an unserem einzigen freien Tag zu einer Austernzucht?« Yves klang ungläubig.
»Wann sonst habe ich dafür Zeit?« Fabienne lachte. »Du hast ja schon länger vorgeschlagen, dass wir Austern mit auf die Speisekarte nehmen. Da wäre es doch sinnvoll, wenn wir langsam mal Kontakt zu einem Lieferanten aufnehmen. Vielleicht kann man in diesem Étang sogar baden? Dann könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – einen Lieferanten gewinnen und uns einen schönen Tag machen.« Sie schaute ihren Mann und ihre Tochter aufmunternd an. Die Vorstellung, mutterseelenallein an den Ort zu fahren, wo Noé ums Leben gekommen war, ängstigte sie selbst nach all den Jahren noch.
Doch Yves schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber an unserem ersten freien Tag seit Monaten will ich keine zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich will einfach nur die Stunden genießen – das Geschäft hat uns morgen früh genug wieder!«
Fabienne schwieg. Während Violaine hinaus in den Garten ging, um die Hühner zu füttern, schenkte Yves ihnen beiden Kaffee nach. »Du weißt genau, dass ich das Restaurant genauso ernst nehme wie du. Aber wir haben auch noch ein Privatleben, Fabienne! Irgendwie muss es uns gelingen, die Arbeit und das Private zu trennen.«
Fabienne nickte. »Du hast ja recht«, sagte sie kläglich. »Aber ich wäre wirklich froh, wenn wir das mit den Austernlieferungen endlich geklärt hätten.« Von selbst erledigten sich solche Dinge nämlich nicht, fügte sie stumm hinzu.
»Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit! Wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann fahr zu den Austernhändlern. Vielleicht hat Lucy ja Lust, dich zu begleiten. Ihr könnt das Automobil nehmen, Violaine und ich fahren mit den Fahrrädern.« Resolut stand Yves auf.
»Und du bist mir wirklich nicht böse?«, hakte Fabienne unsicher nach. Auch sie hatte Noah und Elodie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, und Sehnsucht nach dem Canal du Midi hatte sie auch ein bisschen …
»Ich kenne dich doch! Würdest du uns zuliebe mitgehen, wärst du eh den ganzen Tag mit deinen Gedanken woanders.« Yves drückte ihr einen Kuss auf die Wange, dann ging er davon.
Einen Moment lang blieb Fabienne noch am Frühstückstisch sitzen und genoss die Stille, die fremd und angenehm zugleich war. Es war doch gut, dass sie von nun an einen freien Tag pro Woche hatten, dachte sie und begann, das Geschirr einzusammeln und zu spülen.
Mit jeder Tasse, mit jedem Teller, den sie sauber machte, fiel die Anspannung, die sie am Morgen noch bei dem Gedanken an Victors nahenden Geburtstag empfunden hatte, weiter von ihr ab. Dies hier war ihr Reich. Hier hatte sie alles unter Kontrolle. Hier bestimmte sie die Regeln. Und vor allem: Hier konnte sie kochen, wie sie wollte. Ihre Gerichte wurden nicht, wie die Speisen vieler männlicher Köche, erschlagen von zu viel Speck, Fleisch und Sahne. Bei ihr gab es auch keine Innereien oder deftigen Krautgerichte, wie die Mères Lyonnaises sie zubereiteten. Wenn die Gäste des Pourquoi Pas das Restaurant verließen, sollten sie sich so leicht fühlen wie die sanfte Meeresbrise, die immer zu ihnen in den Ort hereinwehte. Fabienne lächelte und fragte sich wieder einmal, was ihre Mutter wohl zu ihrer erfolgreichen Tochter sagen würde.
Violaine hatte bei ihren Einkäufen auf dem Markt von Sallèles auf jeden Sou achtgeben müssen, Fabienne hingegen musste sich beim Einkauf nicht zurückhalten. Für ihre Gäste wollte sie nur den besten Fisch, das zarteste Huhn, die reifsten Früchte. Sie verwendete feinstes Fleur de Sel, auch wenn es drei Mal so teuer war wie einfaches Salz. Sie wählte Essig aus einer kleinen Manufaktur in der Nähe, und beim Dijonsenf kam für sie auch nur der beste infrage.
»Nur, wenn man etwas herausragend Gutes in den Topf oder die Pfanne gibt, kommt auch etwas herausragend Gutes heraus!« Diese Worte von Noé klangen noch immer in Fabiennes Ohren, als sie das Geschirr abtrocknete.
Im nächsten Moment streckte Lucy ihren Kopf in die Küche. »Ich habe gerade Yves getroffen, er sagt, wir beide besuchen heute eine Austernzucht?«
Fabienne band sich die Schürze ab. »Ich hol nur kurz meine Handtasche, und dann können wir auch schon los!«
Die Fahrt führte sie vorbei am Étang de Bages, wo sie zu ihrem Entzücken einen ganzen Schwarm wilder Flamingos sahen. Sie fuhren durch ein paar kleine Fischerdörfer, die selbst jetzt, im Hochsommer, gespenstisch still waren. Die Fenster waren gegen die Sonne mit Klappläden verbarrikadiert, weit und breit war kein Fußgänger zu sehen, nicht einmal ein streunender Hund trieb sich herum. So würde es in Gruissan wahrscheinlich auch aussehen, wenn es den umtriebigen Alain Pinot nicht gäbe, dachte Fabienne beim Anblick eines verwaisten Marktplatzes, auf dem lediglich ein Hund hechelnd im Schatten lag.
Danach führte der Weg sie durch eine fast steppenartige und sehr verlassen wirkende Landschaft. Die Straße war steinig und durchzogen von tiefen Löchern, um die Fabienne gekonnt herumfuhr. Die Staubwolke hinter ihrem Automobil wurde immer dichter, und die Schwestern mussten mehrmals vor lauter Staub husten. Hie und da sah man ein paar Schafe unter knorrigen Pinien Schutz vor der sengenden Sonne suchen, Fabienne entdeckte links und rechts der Straße außerdem viele wilde Kräuter. Aber Wanderer oder andere Automobilisten begegneten ihnen keine. Hier weht ja mehr Wind als an der Küste!, dachte Fabienne erstaunt, während sie das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammerte und erneut ein Schlagloch umfuhr.
»Bist du sicher, dass wir in dieser gottverlassenen Gegend richtig sind?«, rief Lucy, und ihre Worte gingen im Motorlärm und Wind fast unter.
Fabienne nickte. Laut Alain Pinot war dies die einzige Straße, die zum Étang de Leucate führte.
Sie hatte das Gefühl, dass die Luft mit jedem gefahrenen Kilometer salziger wurde. Die Wildkräuter wurden struppiger, ihr Duft ätherischer. Es roch nach Lorbeer und Thymian, nach Rosmarin und dem Harz der Pinien. Die Bäume, vom Wind vieler Jahre gepeitscht, duckten sich regelrecht an den Boden. Fabie lächelte. Kein Wunder, dass Noé sich hier so wohlgefühlt hatte, die Gegend war genauso wild und frei, wie er gewesen war.
Schließlich kam der riesige Binnensee in Sicht. Ein Holzschild mit einem Pfeil nach links wies ihnen den Weg zur Austernzucht von Émile Sarda.
Fabiennes Herz begann vor lauter Aufregung heftiger zu klopfen. Schon Sophie im Château Morel hatte sich einst die Austern von Émile Sarda liefern lassen. Und Noé hatte die Austern fürs Le Miroir ebenfalls von hier bezogen. Allem Anschein nach war dieser Émile Sarda eine Koryphäe, wenn es um die Meeresfrüchte ging.
Dass sie ihm selbst einmal begegnen würde, um Austern für ihr eigenes Restaurant zu kaufen, hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können …
Sie hatten Glück und liefen Émile Sarda schon bald über den Weg. Der Austernhändler stand mit einem Stapel Papiere in der Hand vor einem Lieferwagen und kontrollierte dessen Ladung. Neben ihm warteten der Fahrer, der gelangweilt eine Zigarette rauchte, sowie ein älterer Mann.
»Kannst du nicht mehr zählen? Es fehlt ein Korb«, sagte er stirnrunzelnd zu dem älteren Mann. »Hol ihn, aber bitte schnell!«
»Oui, Monsieur Sarda!« Eilig rannte der Mann davon.
Émile Sarda schaute ihm kopfschüttelnd hinterher, dann rief er den beiden Frauen zu: »Mesdames, ich bin gleich bei Ihnen!«
Fabienne nickte. Sie hatte ihn sich sehr viel älter und irgendwie … vornehmer vorgestellt. Als er Château Morel vor über zwanzig Jahren belieferte, musste er noch sehr jung gewesen sein, dachte sie, während sie sich umschaute. Doch außer den Fischerhütten und ein paar Lagergebäuden aus grau verwittertem Holz war nicht viel zu sehen. Überall lagen Fischernetze und eiserne Gestänge herum. Unter dem Vordach eines Lagergebäudes reihten sich riesige Holzkisten aneinander, gefüllt mit den Spankörben, in denen die Austern dutzendweise für den Versand abgefüllt wurden. Derjenige, der diese Körbe herstellte, machte damit bestimmt ein gutes Geschäft.
Fabiennes Blick schweifte weiter zu einem riesigen Schild auf dem hinteren Lagergebäude. »Feinkost aus dem Süden Frankreichs« stand darauf. Fabienne stutzte. Was war denn das? Sie wollte schon in Richtung des Gebäudes gehen, als Émile Sarda auf sie zukam.
»Bonjour, Mesdames, was kann ich für Sie tun?«, sagte er, während der Lieferwagen mit qualmendem Auspuff vom Hof fuhr.
»Guten Tag, mein Name ist Fabienne Mazeau, mir gehört das Restaurant Pourquoi Pas in Gruissan. Ich möchte meinen Gästen gern Austern anbieten.« Ein wenig schüchtern schaute Fabienne den Händler an, der mit seinem wettergegerbten Gesicht aussah, als würde er noch immer täglich selbst zu den Austernbänken hinausfahren.
»Bisher liefern wir zwar noch nicht nach Gruissan. Aber ich wüsste nicht, was dagegenspricht«, erwiderte Émile Sarda lächelnd. Dann legte er den Kopf schräg und schaute sie stirnrunzelnd an. »Kann es sein, gnädige Frau, dass wir uns schon einmal begegnet sind? Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.«
Fabienne lachte. »Begegnet sind wir uns noch nicht, aber Ihr Name begegnet mir immer wieder und das schon mein ganzes Leben lang.« So kurz wie möglich erzählte sie von ihrer Zeit als Küchenmagd im Château Morel und von ihrer Zeit als Hilfsköchin im Le Miroir.
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen.
»Sie waren Küchenhilfe im Château Morel? Und bei Noé Sousa waren sie als Hilfsköchin angestellt?« Die Stimme des Mannes klang auf einmal wie erstickt. Die robuste Röte in seinem Gesicht war einer plötzlichen Blässe gewichen.
Dass eine Frau es in der Welt der Restaurantküchen so weit bringen konnte, war anscheinend für manche Männer immer noch sehr beeindruckend, dachte Fabienne. »Noé Sousa sprach immer in den höchsten Tönen von Ihnen! Kurz vor seinem Tod hat er Sie noch besucht, elf Jahre ist das nun her, erinnern Sie sich? Es wurde leider nie geklärt, wie er genau zu Tode kam. Wissen Sie vielleicht mehr?«
»Noé Sousa, ja, ja …« Der Austernhändler schaute gehetzt in Richtung der Fischerhütten, gerade so, als hätte ihn jemand gerufen. Doch Fabienne hatte nichts gehört.
»Eine tragische Geschichte. Leider kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich zu dieser Zeit gar nicht hier, sondern auf Reisen.«
Fabienne wollte schon nachhaken, doch dann sah sie, dass der Mann noch bleicher geworden war. Anscheinend ging ihm der Vorfall von damals sehr nahe. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Ich war noch nie in einer Austernzucht, wäre es wohl möglich, dass Sie uns ein bisschen herumführen?« Sie wies auf alle Gebäude ringsum. »Und ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, welche feine Kost Sie außer Austern noch anbieten. Honig, Oliven, gutes Öl – ich bin immer auf der Suche nach neuen Produkten für mein Restaurant.« Sie lächelte den Austernhändler an.
Doch er schien geradezu durch sie hindurchzusehen und krächzte: »Tut mir leid, aber das … das geht nicht!« Sein Adamsapfel hüpfte hektisch auf und ab, dann fuhr er fort: »Diese Führungen macht normalerweise mein … mein Sohn, doch er ist derzeit am Atlantik und schaut sich dort Austernfarmen an. Ich kann Ihnen gern ein paar Austern zum Probieren mitgeben, aber für mehr habe ich keine Zeit! Und ob ich nach Gruissan liefern kann, bezweifle ich auch – einer unserer Fahrer fällt für längere Zeit aus, das muss ich bei meinen Planungen berücksichtigen. Es … es wäre das Beste, wenn Sie sich in Sète umschauen – dort am Étang de Thau gibt es auch hervorragende Austern!«