»Du kannst nicht ewig wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte fliegen!«
Vor dem Spiegel ihres Hotelzimmers sitzend, mit der Puderquaste in der Hand, hielt Stéphanie inne. Warum hatte sie ausgerechnet hier und jetzt in Béziers die Stimme ihrer Mutter im Ohr? Wollte Delphine ihr wie eine Sirene sogar aus der Ferne etwas zuraunen und sie damit verunsichern?
Von wegen »Schmetterling«! Ihre Mutter kannte sie, die eigene Tochter, gar nicht, sonst würde sie nicht so daherreden. Nur die allerwenigsten Entscheidungen hatte sie, Stéphanie, aus einer spontanen Laune heraus getroffen. Die meiste Zeit hatte sie ihre Ziele gut geplant. Und dasselbe hatte sie heute auch vor!
Resolut tupfte sie unter den Augen noch ein wenig mehr hellen Puder auf. Sie hatte schlecht geschlafen, dunkle Schatten lagen unter ihren Wimpern, doch gerade heute war es wichtig, dass sie jung und frisch aussah.
Ein wenig Rouge auf die blassen Wangenknochen. Die hellbraunen, silberdurchzogenen Haare zu einer voluminös wirkenden Frisur toupiert. Ein paar diamantene Haarnadeln eingesteckt. Fertig! Dabei war es gerade einmal neun Uhr morgens. Wenn die Autofahrt nach Narbonne ohne Panne oder andere Störungen verlief, würde sie noch vor der Mittagspause dort sein.
Zufrieden betrachtete Stéphanie sich im Spiegel. Sie konnte vielleicht nicht mehr mit den jungen schönen Verführerinnen mithalten, aber zum alten Eisen gehörte sie noch lange nicht! Im Gegenteil – dank ihrer gertenschlanken Figur und der lebhaften Art hatte sie noch immer eine jugendliche Ausstrahlung. Das sommerlich leichte Baumwollkleid mit dem verspielten Blumenmuster, das sie vor ein paar Tagen gekauft hatte, sollte diesen Eindruck noch verstärken. Sie wollte vor ihrem Gegenüber nicht wie eine gesetzte Dame mittleren Alters auftreten – mit diesen hatte er in seinem Alltag schließlich ständig zu tun. Sie wollte ihn an früher erinnern, an ihre Unbeschwertheit und an die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten. Dafür war das fast mädchenhaft wirkende Baumwollkleid perfekt!
Stéphanie streifte noch ein paar goldene Armreifen über ihr rechtes Handgelenk. Sie liebte es, wenn Schmuck sich bei jeder ihrer Bewegungen bewegte. Sie liebte das leise Klimpern, das Funkeln, das einen Raum erfüllte, wenn ein Sonnenstrahl auf die Ziselierung des Goldes traf. Genau so sollte ihr Gegenüber sie heute empfinden! Als ein Funkeln, das einen Raum erhellte …
Ihr Gegenüber.
Bei dem Gedanken daran, wen sie später am Tag aufsuchen wollte, musste Stéphanie unwillkürlich schmunzeln. Er würde solche Augen machen, wenn sie so mir nichts, dir nichts bei ihm auftauchte!
»Du?« Stirnrunzelnd schaute Oscar de Carneval sie über seinen riesigen Schreibtisch hinweg an. »Als mein Sekretär den Besuch von Madame Morel meldete, dachte ich …«
»Du dachtest, meine Mutter würde dich besuchen?« Ohne seine Aufforderung abzuwarten, ließ sich Stéphanie auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. »Maman heißt doch schon lange Madame Maure«, sagte sie tadelnd, während sie gegen ein leichtes Gefühl von Übelkeit ankämpfte. Dieser Geruch nach modrigen Akten, altem Papier und Geldscheinen, die durch zig Hände gegangen waren – genauso hatte es immer gerochen, wenn Jules sein mobiles Kontor eröffnete. Auch damals war ihr regelmäßig schlecht geworden. Reiß dich zusammen!, ermahnte Stéphanie sich.
»Ich habe beschlossen, meinen Mädchennamen wieder anzunehmen. Schließlich ist Morel immer noch ein ehrwürdiger Name, nicht wahr?« Spielerisch ließ sie ihre Armreife klimpern.
»Was willst du, Stéphanie? Ohne Grund tauchst du nicht einfach nach über neun Jahren hier auf«, sagte Oscar, ohne auf ihren leichten Ton einzugehen. »Viel Zeit habe ich nicht, ich habe heute noch wichtige Termine.«
Ach, und sie war nicht wichtig? »Was ich will? Dich besuchen natürlich! Und dir zu deinem neuen Posten gratulieren – Generaldirektor, das ist doch was!«, erwiderte sie betont herzlich, während sie ihn unauffällig musterte. Die Halbglatze, die fahlen Wimpern, der graue Bart, die Hände übersät mit braunen Altersflecken – Oscar de Carneval sah aus wie ein alter Mann. Dabei war er, wenn sie richtig gerechnet hatte, im Januar erst vierzig geworden! Vom Aussehen her war er noch nie ihr Typ gewesen, dazu fehlte ihm das Verwegene, das Männliche. Heute, mit den frühzeitigen Spuren des Alters, fand sie ihn sogar abstoßend. Anderen Frauen schien es nicht anders zu gehen, denn von ihrer Mutter wusste sie, dass Oscar noch immer Junggeselle war. Von irgendeiner Liaison oder Geliebten hatte Delphine nichts zu berichten gewusst, als Stéphanie sie unauffällig ausgefragt hatte. Nicht, dass sie in dieser Beziehung etwas von Oscar wollte, Gott behüte! Sie hatte nicht gelogen, als sie zu ihrer Mutter sagte, dass sie nicht vorhabe, abgestandenen Champagner zu trinken. Nein, sie wollte etwas anderes von ihrem ehemaligen Verlobten. Und für diesen Zweck war es gut, so viel wie möglich über das Gegenüber zu wissen.
»Als ich Maman besuchte, kam zufällig das Gespräch auf dich«, fuhr sie fort, während er sie weiterhin kühl anschaute. Alter Stockfisch!, dachte sie. Wahrscheinlich war er immer noch eingeschnappt wegen damals. »Und als ich hörte, dass Delphine ihre Bankgeschäfte im Bankhaus de Carneval tätigt, hat mich das nach allem, was geschehen ist, sehr berührt. Wenn Maman zu einem Neuanfang bereit ist, dann bin ich es auch!« Sie strahlte Oscar an und hoffte, dass sie unschuldig und charmant zugleich wirkte. »Nach all den Jahren hast du mir doch hoffentlich meine Dummheit von damals verziehen? Rückblickend denke ich, dass ich für eine Verlobung viel zu jung war. Meine Freiheit ging mir damals über alles …« Sie verdrehte die Augen, als würde sie über sich selbst spotten. »Ich war ein oberflächliches, sprunghaftes Ding und immer für eine Überraschung gut.« Stéphanie verwandelte ihr Lächeln in ein spitzbübisches Grinsen.
»Deine Freiheit!« Oscar schnaubte, anscheinend wenig angetan von ihrer Entschuldigung. Er stützte beide Ellbogen auf der Schreibtischoberfläche ab, faltete seine Hände und schaute sie über das entstandene Dreieck hinweg arrogant an. »Diesen armseligen Betrüger Jules Grelier heiraten – war das deine Vorstellung von Freiheit? Und darauf bildest du dir etwas ein?«
Wie klein er sie aussehen ließ. Stéphanie schluckte. Ihr Mund war auf einmal so trocken, dass sie Angst hatte, keinen Ton mehr herauszubekommen. Dabei wollte sie doch unbedingt souverän auftreten! Sie räusperte sich, sagte dann kühl: »Falls du damit Jules’ Machenschaften ansprichst – damit hatte ich nichts zu tun! Mein Mann hat mich genauso betrogen wie seine Kunden. Während er seinen ›Geschäften‹ nachging …«, sie sprach in demselben abfälligen Ton, den Oscar zuvor gewählt hatte, »… betätigte ich mich anderweitig, und ja, ich darf sogar ganz unbescheiden sagen, dass ich in diesem Feld sehr erfolgreich wurde!«
Er schaute sie an, sagte für einen langen Moment nichts.
Was ging hinter seiner Stirn wohl vor? Las sie Amüsement in seinem Blick? Das wäre in ihrem Sinne. Oder war es Misstrauen? Ablehnung? Langeweile gar?
»Willst du gar nicht wissen, womit ich mich beschäftige?«, fragte sie ungeduldig, als von ihm immer noch nichts kam. Dass er sie so zappeln ließ, kam ihr kleinlich vor. Und es ärgerte sie, dass er sich nicht so leicht von ihr bezirzen ließ, wie sie angenommen hatte. War Oscar wirklich der richtige Mann für ihr Unterfangen? Nun, die Frage konnte sie sich schenken – ihr fiel nämlich niemand anderes ein.
»Natürlich, das interessiert mich brennend«, sagte er schließlich in einer Art, als würde er zu einem Kind sprechen, das ein Gedicht aufsagen wollte. Er erhob sich, ging zu einer Anrichte und schenkte ihnen beiden einen Fingerbreit Cognac in schwere, geschliffene Gläser. »Aber lass uns doch erst einmal etwas trinken auf diesen … wie nanntest du es vorhin? Neuanfang!«
Das Geräusch, das beim Anstoßen ertönte, war dumpf. Genauso dumpf wie ihre Unterhaltung, dachte Stéphanie. Bemüht um etwas Leichtigkeit, ließ sie ihre Armreifen klirren.
»So, und nun wollen wir nicht länger um den heißen Brei herumreden! Wie kann ich dir helfen? Dass du etwas von mir willst, wissen wir doch beide, nicht wahr?« Er zückte einen schwarzen Federhalter, als wäre er bereit, über die Konditionen eines Kredits zu verhandeln.
»Falls du glaubst, ich brauche Geld von dir, hast du dich getäuscht«, erwiderte Stéphanie und stellte das Cognacglas ab. Glaubte er etwa, vor ihm säße ein armer Schlucker wie ihr Vater? »Das Gegenteil trifft eher zu – ich bin eine sehr wohlhabende Frau. Und ich möchte meine Gelder bei euch auf ein Konto einzahlen – diskret und ohne Nachfragen.« Nun war sie es, deren Blick eiskalt war. Oscar war ein ausgebuffter alter Hase. Wenn es um Bankgeschäfte ging, brauchte sie nicht einmal den Versuch wagen, ihm etwas vorzumachen.
»Darüber lässt sich unter Umständen reden«, sagte er gedehnt.
Unter Umständen! Stéphanie hatte Mühe, nicht laut zu schnauben. Er wäre der erste Bankier, der sich darum kümmern würde, ob Geld sauber oder schmutzig war.
»Ich möchte mein Geld nicht langfristig bei euch anlegen, sondern einen Teil davon in ein sehr vielversprechendes und hoffentlich lukratives Unterfangen investieren«, sagte sie. »Wie ich vorhin schon erwähnte, habe ich in den letzten Jahren mein eigenes Metier gefunden. Ich betätigte mich schriftstellerisch und nein, ich schreibe keine romantischen Romane«, schob sie mit einem aufgesetzten Schmunzeln nach, als erwarte sie genau solch einen Einwurf von ihm. »Ich bewerte Restaurants und schreibe darüber. Meine Artikel sind schon in vielen Tageszeitungen Frankreichs erschienen!« Der Stolz in ihrer Stimme war echt.
Oscar de Carneval hob die Brauen. Zum ersten Mal, seit sie sein muffiges Büro betreten hatte, las Stéphanie etwas wie Interesse in seinem Blick. »Du bist wirklich immer für eine Überraschung gut …«
Hatte sie ihn also an der Angel! Geschäftig fuhr Stéphanie fort: »Die Arbeit für die Tageszeitungen habe ich aufgegeben. Ich möchte meine Restaurantbewertungen so bald wie möglich gesammelt in einem großen Nachschlagewerk herausbringen – einer Art Almanach! Die Adresse, die Lage, der Service, der Umfang der Speisekarte – all diese Informationen soll der interessierte Leser unter dem Namen eines Restaurants finden und natürlich meine Bewertung. So weiß jeder, was ihn erwartet, bevor er ein Restaurant betritt, und kann entscheiden, ob er dort oder woanders essen möchte.« Stéphanie schüttelte den Kopf. »Wenn ich daran denke, welche Erfahrungen ich in den vielen Jahren, in denen ich in Restaurants gegessen habe, sammeln musste! Mich hat niemand vor einer schlechten Küche gewarnt, ich wusste im Vorfeld auch nie, wie schnell oder langsam der Service ist oder wie es um die Sauberkeit in einem Etablissement steht. Ich war immer erst im Nachhinein schlau!« Sie schaute Oscar eindringlich an und sah beinahe erstaunt, dass sie nun seine volle Aufmerksamkeit hatte. »Den Käufern meines Nachschlagewerkes soll es da besser gehen! Ich werde ihnen all meine Erfahrungen vermitteln.«
Oscar nickte nachdenklich. »Ein solcher … nennen wir es einmal … Restaurantführer hätte wirklich einen gewissen Nutzen. Auf meinen Reisen von einer Bankfiliale zur nächsten habe ich auch schon einige Male schlecht gegessen. Aber ich sehe doch einige offene Fragen. Zum einen – wäre so ein Werk vom Umfang her überhaupt machbar? Frankreich ist groß, du kannst doch unmöglich jedes Restaurant in jedem Departement besucht haben?«
Stéphanie lächelte. Auf diese Frage war sie natürlich vorbereitet. »Doch, den allergrößten Teil davon, ja! Allerdings habe ich mich dabei auf die Städte beschränkt, die mit dem Automobil gut zu erreichen sind und wo ein gewisser Wohlstand herrscht. Städte also, in denen eure Bank auch eine Niederlassung hat. Zwischen euren Kunden und den Gästen guter Restaurants sehe ich übrigens große Überschneidungen.«
Oscar nickte zustimmend. »Aber sind Geschmäcker nicht verschieden? Dem einen schmeckt es, dem andern nicht – wie willst du da eine faire Bewertung eines Restaurants schreiben?«
»In meine Bewertung lasse ich außer der Qualität der Speisen noch ganz andere Punkte einfließen – Punkte, über die sich eben nicht streiten lässt. Genau darin liegt die Kunst!«, sagte sie triumphierend. Dann schaute sie auf die goldene Uhr an der Wand. »Es ist bald Mittag – warum führst du mich nicht zum Essen aus? Eigentlich ist mein Bewertungssystem geheim – schließlich habe ich es erfunden. Aber bei dir würde ich eine Ausnahme machen und dich einweihen. Und falls ich das Restaurant, das du auswählst, doch noch nicht kenne, kann ich es gleich in meine Liste aufnehmen!«
Oscar ging mit ihr in ein Restaurant, das erst in diesem Frühjahr eröffnet hatte. Es hieß Le Cerf und lag zehn Gehminuten von der Bank entfernt, schräg gegenüber vom Rathaus. Auf dem Weg dorthin unterhielt Stéphanie ihn mit lauter kleinen amüsanten Geschichten aus ihrem Leben. Jules und das Bistro erwähnte sie dabei nicht. Als sie beim Le Cerf ankamen, war Oscar bester Laune.
Natürlich registrierte Stéphanie, wie eilfertig der Oberkellner zur Tür kam, als er sah, wer ihn da beehrte. Natürlich erhielt Bankdirektor Monsieur de Carneval den besten Tisch am Fenster. Doch sie registrierte auch andere Dinge, zum Beispiel, dass die so überfreundlich aufgerissene Glastür mit Fingerspuren übersät war und dass die Speisekarte, die sie ebenso eilig gereicht bekamen, auf der ersten Seite einen Fettfleck hatte. Wie kam der dorthin?, fragte sich Stéphanie, während sie das Angebot überflog. Suppe und zweierlei Pasteten als Vorspeise, unter den Hauptgerichten fanden sich Hechtklößchen in Petersiliensoße, Huhn in Rotwein, ein Schweinskarree nach Bauernart – wer um alles in der Welt aß bei dieser Hitze Schweinefleisch? Es gab Lammragout mit jungen Gemüsen, eine Hühnerbrust mit Champignons …
»So intensiv, wie du die Speisekarte liest, muss ich da befürchten, dass du die Gerichte einmal rauf und runter bestellst?«, fragte Oscar amüsiert. Am Tisch hinter ihm, wo eine Gruppe Herren in sommerlichen Anzügen saß, ertönte lautes Lachen – allem Anschein nach hatte einer der Herren einen Scherz gemacht. Zigarrenrauch wehte zu ihnen herüber. Irritiert schaute Oscar über seine Schulter. Er rutschte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran, als wollte er sich von dem Lachen distanzieren.
Humor hatte Oscar noch nie besessen, dachte Stéphanie und schlug die Speisekarte zu. »Keine Sorge, ich weiß längst, was ich nehme. Aber eins kommt mir doch seltsam vor …« Sie schaute ihn verwirrt an.
Oscar runzelte die Stirn.
»Wenn wir früher essen gingen, hattest du schneller eine Flasche Champagner bestellt, als ich schauen konnte. Kann es sein, dass du ein wenig … aus der Übung bist?«
Sein Stirnrunzeln schwand, er lachte auf. Es war das erste Lachen, das er von sich gab, seit sie bei ihm aufgetaucht war. »Verzeih mir. Ich dachte, da dies doch eine Art Geschäftsessen ist …« Er winkte den Kellner herbei. »Eine Flasche vom besten Champagner, den Sie haben!«
Sehr gut, dachte Stéphanie zufrieden. Oscar hatte ihre herausfordernde freche Art schon immer gemocht, anscheinend hatte sich daran nichts geändert.
Der Kellner kam, um die Bestellung zu notieren. Oscar bestellte Suppe und ein Lammkotelett für sich, dann wandte er sich ihr zu. »Stéphanie?«
»Für mich bitte eine Omelette mit Champignons als Vorspeise und danach die getrüffelte Hühnerbrust.« Sie lächelte den Kellner an. »Ach, und bringen Sie mir doch bitte einen Kamillentee.«
Der Kellner stutzte, sagte aber nichts.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Oscar, als der Mann weg war.
»Natürlich ist mir gut«, erwiderte Stéphanie. »Der Kamillentee gehört zu meinem Bewertungssystem – wenn ich gleich einen goldgelben Tee mit frisch duftender Kamille bekomme, dann vergebe ich für diesen Extraservice einen zusätzlichen Punkt! Denn der Tee steht nicht auf der Karte, und es ist auch nicht davon auszugehen, dass er hier in diesem eleganten Ambiente besonders oft verlangt wird.« Sie wies schmunzelnd auf die seidenen Tapeten, die schweren Kronleuchter und die großformatigen goldgerahmten Ölgemälde, die allesamt das Meer zeigten.
Oscar nickte. Stéphanie hätte nicht sagen können, ob er beeindruckt war von ihrem kleinen Trick oder eher nicht.
»Und hat die Wahl deiner Speisen auch etwas mit deinem Bewertungssystem zu tun?«, fragte er. »Eine Omelette erscheint mir eher banal …«
»Eine perfekte Omelette ist alles andere als banal«, erwiderte sie bestimmt. »Mir vergeht der Appetit, wenn das Ei flockig ist oder wenn die Omelette zu flüssig ist und sich gelbe Pfützen auf dem Teller bilden. Und wie oft habe ich schon erlebt, dass eine Omelette zwar perfekt durchgebacken ist, der Koch jedoch kein Maß beim Würzen hatte – wenn die Eier frisch sind, reichen eine Prise Salz und ein paar Pfefferkörner für den perfekten Genuss völlig aus!«
Der Champagner kam, sie prosteten sich zu. Stéphanie verzichtete auf jede Anspielung hinsichtlich »der guten alten Zeiten« – sie wollte den Mann zwar bezirzen, um ihn für ihr Projekt zu gewinnen. Aber an ihre frühere Verlobungszeit wollte sie gewiss nicht anknüpfen!
»Nun bin ich gespannt – was, außer dem Essen, gehört denn noch zu deinem Bewertungssystem?«, fragte er und trank einen großen Schluck Champagner.
Statt zu antworten, nestelte Stéphanie ihr Notizbuch aus der Tasche. Während sie eine leere Seite aufblätterte, begann ihre Hand auf einmal zu zittern. Was, wenn er ihr System albern fand? Was, wenn er sie womöglich sogar auslachte für das, was sie sich ausgedacht hatte? Sie holte unmerklich Luft. »Wenn du so laut gackerst, musst du auch dein Ei legen!«, hätte Fabienne jetzt gesagt.
Der Gedanke an Fabienne löste Stéphanies Unsicherheiten schlagartig in Luft auf. Nachdem sie das Bistro so schändlich im Stich gelassen hatte, setzte die Köchin wahrscheinlich längst einen neuen »Traum« in die Tat um! Was Fabie konnte, das konnte sie schon lange!, dachte Stéphanie und spürte, wie ihr Rückgrat sich schmerzhaft versteifte.
Sie legte das aufgeschlagene Notizbuch so auf den Tisch, dass Oscar die Tabellen, die sie auf jede Seite gezeichnet hatte, sehen konnte. »Schau, ich habe in der Spalte ganz links in jede Zeile eins meiner Kriterien eingefügt.« Sie zeigte mit ihrem Stift auf die untereinanderstehenden Worte:
Lage
Empfang
Sauberkeit
Abstand der Tische
Lautstärke
Freundlichkeit der Kellner
Speisenauswahl
Qualität der Speisen
»Diese Tabelle verwende ich bei jedem Restaurantbesuch. Schon bevor ich den ersten Bissen gegessen habe, kann ich die ersten Punkte – ich nenne sie ›Münzen‹ – wie die Lage oder den Empfang am Eingang bewerten.« Sie hatte ihren Stift schon gezückt, als sie wieder innehielt. »Fünf Münzen sind das Maximum, eine Münze die schlechteste Bewertung.« Sie gab Oscar den Stift. »Bitte schön!«
Er schaute sie erstaunt an. »Ich soll …« Dann ging er die einzelnen Kriterien durch. »Die Lage … Nun ja, für mich ist sie sehr praktisch, denn im Rathaus habe ich des Öfteren zu tun. Für andere Gäste ist die Lage sicher auch recht gut, von daher würde ich dafür drei Münzen vergeben.« Er malte etwas ungelenk drei runde Kreise in die erste Zeile der zweiten Spalte. »Der Empfang war sehr freundlich …« Fünf Münzen folgten. Er schaute auf. »Sauberkeit! Worauf achtest du dabei?«
Stéphanie strich über die blütenweißen gestärkten Tischdecken. »Ist die Tischwäsche sauber? Ist das Besteck auf Hochglanz poliert? Sind die Fensterscheiben geputzt und noch einiges mehr.«
»Also fünf Münzen!«, sagte Oscar und malte resolut fünf Kringel. Stéphanie verzichtete darauf, den Fettfleck in der Speisekarte zu erwähnen und die Fingerspuren an der Tür – sie wollte nicht zu kleinlich wirken, sonst verlor er womöglich den Spaß.
»Bei den nächsten zwei Punkten muss ich allerdings eindeutig Abstriche machen – es ist unangenehm laut, und die Tische könnten meiner Ansicht nach weiter auseinanderstehen. Ich will schließlich nicht, dass mein Tischnachbar mir in die Suppe spuckt.« Er malte nachdrücklich je zwei Kringel in die entsprechende Spalte, dann schaute er auf. »Sehr interessant! Wenn man so analytisch an eine Bewertung herangeht, dann ist die Qualität der Speisen zwar ein wichtiger Punkt, aber nicht der einzig ausschlaggebende. Ich nehme an, du bildest am Ende aus allen Punkten die Quersumme?«
Sie nickte wohlwollend.
Die Vorspeisen kamen, sie begannen zu essen. »Die Omelette hat fünf Münzen verdient«, sagte Stéphanie zwischen zwei winzigen Bissen. »Sie schmeckt vorzüglich! Deine Suppe ist hoffentlich auch gut?«
Oscar schüttelte übertrieben skeptisch den Kopf. »Ich würde sagen, zwischen drei und vier Punkten …«
Sie lachten.
»Im Ernst«, hob er danach wieder an. »Dein System gefällt mir, es hat Hand und Fuß! Ich ziehe den Hut vor dir – dass du dir solche Gedanken machst, hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
Statt eingeschnappt zu sein, wie sie es gewesen wäre, wenn eine solche Bemerkung von ihrer Mutter gekommen wäre, fühlte Stéphanie sich geschmeichelt. »Danke«, sagte sie und spürte, dass sie errötete wie ein junges Mädchen.
»Dieser Restaurantführer ist so neu und originell, wahrscheinlich werden sich die Pariser Verlagshäuser um dich reißen. Ich wüsste nicht, warum daraus nicht ein großer Erfolg werden könnte«, fuhr Oscar fort, und Stéphanie wurde es immer wärmer ums Herz.
»Aber warum nimmst du ausgerechnet Münzen als Symbol? Wären Kochlöffel oder Kochhauben nicht angebrachter?« Oscar lachte über seinen eigenen Witz, Stéphanie tat es ihm gleich, doch im nächsten Moment wurde sie wieder ernst.
»Bei den Münzen habe ich an dich und deine Bank gedacht, ich möchte nämlich, dass du mit in mein Projekt einsteigst!«, sagte sie, bevor der Mut sie verließ. Sie schaute ihn eindringlich an. »Wie gesagt – finanzieren kann ich meinen Restaurantführer selbst, mir geht es um etwas anderes. Mein Name … nun ja, du weißt es selbst, er ist etwas … beschädigt. Dieses Projekt jedoch braucht Größe und Renommee! Das Bankhaus de Carneval hat Filialen und Kunden in ganz Frankreich – ihr seid genauso weit verbreitet, wie dieses Nachschlagwerk werden soll.«
Oscar lachte verwirrt auf. »Ja, und?«
Stéphanie nahm hastig einen Schluck Champagner, dann sagte sie: »Könntest du dir vorstellen, dass dieses Nachschlagewerk unter dem Namen eurer Bank erscheint? Der Restaurantführer würde dann Guide Carneval heißen. Mein Name würde auf dem Einband nicht erscheinen.«
Oscar schaute sie lange an, ohne etwas zu sagen.
Warum ließ er sie so in der Luft hängen? »Nun sag doch endlich was!«, entfuhr es ihr.
Die ganze Fahrt zurück von Narbonne nach Béziers kochte Stéphanie vor Wut. Wie konnte Oscar sie dermaßen abblitzen lassen? Da ging sie mit ihm essen, weihte ihn in ihre geheimen geschäftlichen Pläne ein, lachte über seine langweiligen Scherze – und dann verabschiedete er sich von ihr mit einem kühlen »Ich werde dich meine Entscheidung wissen lassen«? Sie stieß vor Zorn einen Schrei aus.
Im Hotel angekommen schnipste sie am Empfangsschalter gebieterisch mit dem Finger, und als sie ihren Zimmerschlüssel erhalten hatte, rauschte sie ohne ein Wort am Portier vorbei. Eigentlich hatte sie die größte Lust, zu packen und wegzufahren. Nur – wohin? Sie kannte nirgendwo einen anderen angesehenen Mann von Oscars Kaliber, den sie für ihre Zwecke hätte einspannen können.
Niedergeschlagen ließ sich Stéphanie in ihrem Zimmer aufs Bett fallen. Ihr Magen knurrte vorwurfsvoll – beim Mittagessen hatte sie sich fast ausschließlich auf die Unterhaltung mit Oscar konzentriert und entsprechend nur ein paar Happen gegessen. Sollte sie sich etwas Käse und Brot aufs Zimmer bringen lassen? Aber wahrscheinlich würde sie nach dem Debakel mit Oscar eh keinen Bissen herunterbringen …
Sie war gerade bei der Abendtoilette, als es an ihrer Zimmertür klopfte. »Madame, eine Nachricht für Sie!«
Die Nachricht war von Oscar, stellte Stéphanie erstaunt fest. So schnell hatte sie nicht damit gerechnet.
Ihre rechte Hand zitterte, als sie den dicken Umschlag aufritzte und die darin steckende Karte las.
Liebe Stéphanie, wäre es dir möglich, morgen Abend zu mir in die Villa Bellefleur zu kommen? Wir haben einiges zu bereden.
Die Villa Bellefleur? Stéphanie stieß die Luft, die sie unwillkürlich angehalten hatte, wieder aus. Ihre Schultern entspannten sich ein wenig. Wenn er sie in sein Stadtpalais einlud, hatte das doch etwas Gutes zu bedeuten, oder?