Kapitel 27

Nur eine Woche später saß Manuel erneut in seinem Automobil, neben ihm seine Verlobte Adèle. Sie waren auf dem Weg nach Gruissan. Es war Samstag, die Senfmanufaktur Vinet hatte geschlossen. Doch selbst wenn er wochentags gefahren wäre, hätte Adèle ihre heiß geliebte Arbeit stehen und liegen gelassen, um ihn zu begleiten.

Sie sprachen wenig, als sie über die staubigen Straßen fuhren. Nach dem langen Sommer war so gut wie nirgendwo mehr Grün zu sehen – das Gras, die Büsche, jede Blume, alles war verbrannt.

Verbrannte Erde. Wenn Manuel an die Frau dachte, die ihn geboren hatte, fiel ihm kein passenderes Bild ein.

Seine Eltern wussten nicht, wohin er heute unterwegs war. Genauso wussten sie auch nichts von seinem Besuch bei Stéphanie de Carneval. Er wollte sie nicht unnötig aufregen oder gar betrüben. Adèle hatte er natürlich alles erzählt. Sie hatte schweigend zugehört, nur hie und da den Kopf geschüttelt. Ein paar Tränen hatte sie auch vergossen. Genau wie er.

»Und nun?«, hatte sie hilflos gefragt, als sie sich wieder gefangen hatten.

»Nun weiß ich Bescheid«, hatte er bitter erwidert und sich gefragt, was dieses Wissen mit ihm machte. Seine Mutter war eine junge, dumme Küchenhilfe, der ihre wirklichkeitsfernen Träume wichtiger gewesen waren als ihr eigenes Kind. Ging es ihm mit diesem Wissen nun besser? Ging es ihm dadurch schlechter? Weder noch, hatte er bei sich gedacht – wenn er an die Frau dachte, die ihn geboren hatte, verspürte er einfach nur Ablehnung. Sein Leben bestand aus salziger Luft, die nach Tang und Austern roch, aus Liebe, Glück und einem unvergleichlichen Sternenhimmel nachts über dem Meer. Die Frau, die ihn geboren hatte, hatte mit diesem Leben rein gar nichts zu tun. Und daran würde sich bis zum Ende aller Tage auch nichts ändern.

Verbrannte Erde, dachte Manuel erneut, als ein Straßenschild mit der Aufschrift Gruissan in die linke Richtung wies.

Die Fahrt dorthin war Adèles Idee gewesen. »Du solltest diese Fabienne wenigstens einmal besuchen und dir anhören, was sie zu sagen hat. Vielleicht ist ihre Version eine ganz andere als die von Madame de Carneval!«

Welche andere Version solle es da geben?, hatte er spöttisch erwidert. Und dass er nicht das geringste Interesse an einem Gespräch mit dieser Frau habe.

Enttäuscht hatte sie daraufhin geantwortet, er solle sich ihren Vorschlag wenigstens noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.

Und tatsächlich – nachdem er ein, zwei Nächte über die Sache geschlafen hatte, war er gegenüber dem Gedanken, die Frau, die ihn geboren hatte, aufzusuchen, nicht mehr ganz so abgeneigt gewesen. Einfach würde dieses Aufeinandertreffen nicht werden, aber für seinen Seelenfrieden war es vielleicht dienlich.

Adèle hatte sofort angeboten, ihn zu begleiten. »Möchtest du ihr ein paar Fotografien aus deiner Kindheit mitbringen? Oder alte Schulzeugnisse? Oder sonst etwas? Diese Fabienne hat schließlich all deine Kinderjahre verpasst«, hatte sie gemeint.

Manuel glaubte, nicht richtig zu hören. Hatte Adèle wirklich so wenig verstanden? Seine Mutter hatte nichts »verpasst«! Sie hatte ihn schlichtweg nicht gewollt! Zum ersten Mal, seit sie ein Paar waren, schaute er seine Verlobte verärgert an. »Wir werden diese Frau besuchen. Aber wir kommen nicht wie die Heiligen Drei Könige mit guten Gaben daher! Keine Fotografien, keine Austern, und wage es bloß nicht, einen Topf Senf einzupacken.« Nichts war hier weniger angebracht als Adèles Großzügigkeit!

»Aber Fabienne –«

»Kein Aber«, hatte er sie barsch wie nie unterbrochen. »Und hör auf, diese Frau ständig bei ihrem Vornamen zu nennen. Sie ist eine Fremde!«

Seine Verlobte hatte ihn erstaunt angeschaut, die Sache dann aber auf sich beruhen lassen.

So ruppig, wie er sich Adèle gegenüber benommen hatte, war es eigentlich ein Wunder, dass sie ihn trotzdem heute begleitete, dachte Manuel zerknirscht, als die ersten Häuser von Gruissan in Sichtweite kamen. Aber so war Adèle eben – kein bisschen nachtragend.

»Danke, dass du an meiner Seite bist!« Über den Motorenlärm hinweg klang seine Stimme wie ein Schluchzen. Auf einmal war ihm wieder zum Heulen zumute. Der Gedanke, jetzt gleich …

Was mache ich hier eigentlich?, fragte er sich verzweifelt. Am liebsten wäre er an den Straßenrand gefahren und hätte den Wagen gewendet.

»Es ist wichtig, dass wir das tun«, sagte Adèle, als könne sie seine Gedanken lesen. »Denn würdest du Fabienne nicht besuchen, bekämst du die ganze Angelegenheit wahrscheinlich nie aus dem Kopf.«

Er nickte grimmig. Aus diesem und keinem anderen Grund war er hier!

*

»Wofür plagt sich Lucy täglich damit ab, unsere Geschirrtücher zu waschen, wenn ihr lieber mit alten Lumpen hantiert? Dieses Tuch hier strotzt vor Dreck, dabei ist Sauberkeit unser oberstes Gebot!« Wütend hielt Fabienne ein schmutziges Geschirrtuch in die Höhe und schaute dabei ihren plongeur und ihren sous-chef an. Herrisch nickte sie dann in Richtung des Tabletts, auf dem dicht an dicht gespülte Weingläser standen. »Kein Wunder, dass diese Gläser verschmiert sind! So kommen sie nicht raus in den Gastraum, die kannst du gleich noch einmal spülen!«

»Aber Madame –«, hob André Decasse an.

»Ich wollte frische Geschirrtücher sparen und dadurch Lucy nicht so viel Arbeit machen«, sagte Bruno im selben Moment.

»Sauberkeit ist wichtig, da kommt es auf ein paar Geschirrtücher mehr oder weniger nicht an«, sagte Fabienne und warf das schmutzige Geschirrtuch auf den Boden. »Dieses Gespräch führen wir jetzt zum – wievielten Male? Zum fünften? Oder zum sechsten Mal? Sollen unsere Gäste fettige Fingerspuren auf dem Glas sehen oder sollen sie sich am Perlen des Champagners erfreuen?« Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Es war kurz vor halb zwei, um zwei würde das Restaurant schließen. Nun, wo die Sommersaison zu Ende war und die Pariser und Lyoner Gäste wieder nach Hause gereist waren, wollten sie zwischen dem Mittagstisch und Abendservice ein bisschen freie Zeit genießen. Was sie jedoch nicht wollten, war, gleichzeitig auch den Schlendrian ins Haus zu lassen!

Fabienne holte erneut Luft. »Und wo wir gerade dabei sind, lieber Bruno –« Sie brach ab, als Lucy im Türrahmen erschien. Ihr Gesicht war weiß wie eins ihrer Tischtücher.

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, sagte Fabienne leicht enerviert. »Was gibt’s?«

»Draußen steht jemand, der dich sprechen möchte. Er sagt …« Lucys Stimme brach.

»Ja?« Fabienne seufzte.

Lucy schluckte hart, dann sagte sie: »Der junge Mann behauptet, er sei dein Sohn.«

Fabienne durchfuhr es heiß und kalt zugleich. Schlagartig wurde ihr so schwindlig, dass sie taumelte. Sie hielt sich an der Arbeitsplatte fest.

Ihr Sohn?

Das konnte nicht sein.

Ein Geist …

Die alte Marianne, sie hatte Victor verloren. Es …

Es hatte geregnet, so viel geregnet.

Der Regen. Alle Spuren verwischt …

Blinzelnd starrte Fabienne auf das schmutzige Geschirrtuch auf dem Boden.

»Fabienne! Ist alles in Ordnung?«

Wie durch dichten Nebel hindurch nahm Fabienne wahr, dass André und Bruno ihr zur Seite gesprungen waren und sie stützten. Benommen ließ sie sich an den Tisch führen, an dem sie sonst das Essen zu sich nahmen. Sie sank auf einen der Stühle. »Geht wieder an eure Arbeit«, hauchte sie den Männern zu.

So viele Jahre hatte sie Victor vergeblich gesucht! Und nun hatte er sie gefunden? Konnte das sein?

Sie schaute Lucy an, flüsterte rau: »Sag ihm, ich komme gleich.«

Oh Gott. Fabienne schüttelte den Kopf, wollte sich kneifen, knetete stattdessen ihre Hände. War es diesmal wirklich Victor? Oder wieder nur …

Mit wackligen Beinen stand sie auf. Ihre Hände zitterten, als sie sich die Schürze abband, dann strich sie sich die Haare glatt. Holte tief Luft. Ganz gleich, wer oder was sie erwartete, sie würde es mit Fassung tragen. Das Restaurant war kein Ort für Gefühlsausbrüche. Dafür würde sie später noch genügend Zeit haben.

Sie schaute Lucy an, die erneut in die Küche gekommen war. »Ist er es wirklich?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Was für eine dumme Frage, rügte sie sich im selben Moment, woher sollte ihre Schwester das wissen.

Doch Lucy nickte. »Ich glaube schon …«

Fabienne schlug die rechte Hand vor den Mund, gab einen erstickten Laut von sich. Sofort wurde ihr wieder schwindlig. Doch dann konnte sie es plötzlich nicht mehr erwarten … Sie raffte ihren Rock zusammen, wollte zur Tür hinausstürzen, als im selben Moment Violaine zur Hintertür hereinstürmte.

»Maman, Maman! Stell dir vor, August behauptet, Mademoiselle Truffle wird nun doch wieder unsere Klassenlehrerin!«

Violaine. Fabienne zwang sich zu einem Lächeln. »Das kannst du mir nachher in Ruhe erzählen. Setz dich jetzt bitte hier hin!« Sie zeigte streng in Richtung Tisch, dann rannte sie nach draußen.

Der junge Mann, den Fabienne durch die Fenster des Restaurants draußen erblickte, hatte dieselbe hochgewachsene Figur wie sie. Er hatte lange Beine, so schlaksig wie ihre, damals, als sie ein junges Mädchen gewesen war. Oh Gott, er hatte sogar dieselben braunen störrischen Locken … Fabienne schossen die Tränen in die Augen, sie unterdrückte nur mit Mühe einen hysterischen Schrei. Lieber Gott, mach, dass ich nicht verrückt werde, betete sie, während sie mit den Händen hektisch über ihre Augen wischte.

Er war nicht allein. Eine junge Frau war bei ihm, sie hatte eine freundliche Miene und viele Sommersprossen. Sie standen ein paar Meter von der Restauranttür entfernt, unsicher von einem Bein aufs andere tretend. Victors Miene war verschlossen, eine tiefe Stirnfalte zeigte sich auf dem jugendlichen Gesicht. Er war angespannt – kein Wunder!

Mutter und Sohn wieder vereint. Nach all den Jahren. Das konnte doch nicht wahr sein!, dachte Fabienne wie in einer Endlosschleife. Am liebsten wäre sie zu ihm gerannt, hätte mit überlaufendem Herzen gelacht und geschrien in einem. Aber sie wollte nicht hysterisch auf ihn wirken und so zwang sie sich, das Restaurant langsamen Schrittes zu durchqueren. Mit jedem Schritt begannen ihre Augen jedoch erneut zu brennen, der Kloß in ihrem Hals wurde dicker, das Surren in ihrem Kopf heftiger. Nicht schon wieder losheulen! Auch wenn es Tränen der Freude wären.

Und dann standen sie sich gegenüber.

Zum ersten Mal im Leben.

Fabiennes rechte Hand flatterte leicht. »Kommt doch herein!«, wollte sie sagen und dies mit einer einladenden Handbewegung unterstreichen. Doch außer einem tränenerstickten Laut kam ihr nichts über die Lippen. Egal – reden konnten sie später noch. Jetzt wollte sie ihn einfach nur berühren, ihn nie mehr loslassen … Wie eine Ertrinkende streckte Fabienne ihre Arme nach ihm aus. »Victor, mein Sohn …«, flüsterte sie rau.

Doch statt ebenfalls auf sie zuzukommen, machte Victor einen Schritt zurück und sagte: »Ich bin nicht Ihr Sohn! Und ich heiße auch nicht Victor. Mein Name ist Manuel Sarda, ich bin der Sohn des Austernzüchters Émile Sarda. Ihre Bekannte, Madame de Carneval, hat mir gesagt, wo ich Sie finde.« Aus sicherer Distanz musterte er sie vom Scheitel bis zur Fußspitze, sein Blick war abfällig.

»Manuel …«, sagte die junge Frau und legte ihm mahnend eine Hand auf den Arm.

Als habe sie sich verbrannt, zog Fabienne ihre Arme zurück. »Manuel Sarda?« Sie schaute sich orientierungslos um. »Er ist auch hier? Was will er hier?« Sie gab einen kleinen Laut der Verzweiflung von sich. »Es geht doch jetzt um uns zwei …«

Der junge Mann schaute sie feindselig an. »Was reden Sie da? Um uns zwei ist es nie gegangen. Ich bin Manuel Sarda, verstehen Sie das nicht?«

Victor war … Manuel Sarda? Nur mit Mühe konnte Fabiennes Gehirn Victors Informationen folgen.

»Ich verstehe …«, sagte sie leise, dabei verstand sie gar nichts.

Der Bürgermeister und seine Frau, die gerade über den Marktplatz liefen, warfen der kleinen Gruppe einen neugierigen Blick zu. Fabienne ignorierte sie. Eine Bemerkung von Victor pochte in ihrem Kopf, ganz vorn, schmerzhaft und gegen ihre Stirn. Was hatte er gesagt? Ihre Bekannte … Ja, davon hatte er gesprochen.

»Stéphanie … Sie hat dir erzählt, wo … ich wohne?«, krächzte sie. »Ich verstehe nicht … Stéphanie ist doch vor Kurzem erst hier gewesen! Sie hätte mir doch gesagt, dass sie dich gefunden hat …« Fabienne wurde es erneut so schwindlig, dass sie Angst hatte, ohnmächtig zu werden.

Der junge Mann schnaubte. »Mich gefunden? Madame de Carneval ist eine Freundin der Familie, ich kenne sie von Kindesbeinen an. Sie hat mich oft an meinen Geburtstagen besucht. Im Gegensatz zu meiner leiblichen Mutter hat sie sich immer für mich interessiert«, behauptete er.

»Aber –« Bevor Fabienne mehr sagen konnte, kam Violaine aus dem Restaurant gerannt.

»Maman! Wo bist du denn? Ich –« Violaine blieb abrupt stehen, schaute von einem zum andern. »Was wollen diese Leute? Sind das Hausierer?«, sagte sie neugierig. »Wir kaufen nichts!«, fügte sie forsch hinzu und stemmte beide Hände in die Hüfte.

»Alles ist gut, geh bitte wieder rein«, sagte Fabienne leise zu ihr.

»Maman … Warum zitterst du so?«, fragte ihre Tochter verunsichert.

Fabienne gab erneut einen erstickten Laut von sich.

»Maman, du bist so komisch! Ist das … Ist das etwa … mein Bruder? Victor? Bist du es?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte Violaine zu ihm und schlang ihre Arme um ihn. »Endlich! Wir haben schon gedacht, dass wir dich nie finden werden!« Violaine heulte auf wie ein verletztes Tier. Auch Fabienne schluchzte.

Doch im nächsten Moment stieß Manuel Sarda Violaine grob von sich weg.

»Mein Name ist Manuel Sarda, ich bin nicht dein Bruder!« Das verdatterte Mädchen ignorierend schaute er Fabienne an und sagte: »Ich wollte mir lediglich einmal die Frau anschauen, die es fertiggebracht hat, ihr Kind aufzugeben wegen irgendwelcher Träume …« Er zeigte auf das Restaurantschild. Einen Moment lang sah es so aus, als würde er in Tränen ausbrechen. Bevor Fabienne auch nur ein Wort sagen konnte, fing er sich jedoch und sprach weiter: »Nun, wo ich Sie in Fleisch und Blut vor mir stehen sehe, weiß ich alles, was ich wissen wollte. Nie mehr will ich irgendetwas mit Ihnen zu tun haben! Wagen Sie es nicht, mich zu kontaktieren.« Er verzog den Mund, als wollte er vor ihr ausspucken, dann ging er davon.

Fassungslose Stille trat ein. Fabienne streckte eine Hand nach ihrem Sohn aus, öffnete den Mund, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Wie versteinert blieben Mutter und Tochter zurück.

Violaine war die Erste, die aus der Erstarrung erwachte. »Aber … Aber … Victor, bleib hier! Maman, so tu doch was!« Ihr Blick raste zwischen Fabienne und ihrem Bruder, der den Marktplatz schon zur Hälfte überquert hatte, hin und her.

Die junge Frau, die Manuel Sarda begleitet hatte, zögerte noch kurz. »Tut mir leid«, flüsterte sie, dann ging sie Manuel hinterher.

Ein Traum. Alles nur ein böser Traum, dachte Fabienne, unfähig, zu verstehen, was gerade geschehen war. Sie hatte einen Geist gesehen, mehr nicht.

Wütend baute sich Violaine vor ihr auf, stemmte beide Hände in die Hüften. »Maman! Bist du etwa schuld, dass Victor wieder gegangen ist? Was hast du zu meinem Bruder gesagt, dass er so böse auf uns ist?«

Fabienne wurde es schwarz vor Augen. Im nächsten Moment sank sie ohnmächtig zu Boden.