Yves stach mit seiner Gabel einen Bisschen Beignet ab, dann sagte er leichthin: »Na dann – schieß los!«
Hoffentlich würde ihm nicht gleich der Appetit vergehen, dachte Fabienne bang. Sie wartete, bis der Kellner, der an ihren Tisch getreten war, ihre Wassergläser frisch aufgefüllt hatte, dann begann sie vorsichtig: »Ganz gleich, wie ich es jetzt anfange – wahrscheinlich kommt das, was ich dir sagen möchte, für dich wie aus heiterem Himmel …« Sie spürte, wie ihr Herz angstvoll klopfte. Was, wenn Yves ihren Gedanken nicht mittrug? Würde sie ihn dann allein in die Tat umsetzen? Die Frage hatte sie sich in letzter Zeit mehr als einmal gestellt und nie eine Antwort darauf gefunden.
»Als wir vor zehn Jahren in die Dombes gezogen sind … Das war für Lily und ihre Kinder die Rettung! Und nicht nur für sie, sondern auch für Violaine – die Freiheit, die sie auf der Farm genießt, hätte ich ihr in der schmuddeligen Gasse in Marseille nie bieten können. Dass deine Eltern uns alle so herzlich aufgenommen haben, werde ich ihnen nie vergessen.« Sie bekreuzigte sich, wie sie es immer tat, wenn sie von den Toten sprachen.
Yves lächelte. »Meine Eltern waren überglücklich, als nicht nur der verlorene Sohn zurückkam, sondern auch noch ihr andern dabei wart! Und dass du dann Mutters Gemüsebeet übernommen hast, war für sie das Schönste.«
»Mir hat die Gartenarbeit schon immer Freude gemacht«, sagte Fabienne. »Das Leben auf der Farm – so einfach es auch sein mag, so gut ist es auch.«
»Täusche ich mich oder höre ich da ein stummes ›Aber‹?«
»Kein Aber«, sagte Fabienne bestimmt. »Unser Leben ist gut! Und dennoch …« Sie warf beide Hände in die Höhe und ließ sie wieder in den Schoß fallen. »Ich habe Heimweh nach dem Süden, Yves! Ich sehne mich nach der Sonne und der Wärme. Ich sehne mich nach dem unglaublich blauen Himmel, nach dem Wind, der immer ein wenig nach Meer riecht …« Sie seufzte sehnsüchtig auf. Ihr fehlte auch die Lebhaftigkeit der Menschen im Süden, ihr weicher Zungenschlag, ihre manchmal fast überbordende Fröhlichkeit.
»Du willst zurück in den Süden.«
Yves’ Feststellung kam so abrupt, dass Fabienne einen Moment lang glaubte, sich verhört zu haben.
»Warum auf einmal jetzt?« Er schaute sie fragend an.
Sie schob ihr Weinglas weg, schaute ihn gequält an. »Es ist nicht nur das Heimweh. Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt – aber tief drinnen ruft mir etwas laut zu, dass ich die Suche nach Victor noch mal ganz neu beginnen soll. Mein Sohn ist inzwischen erwachsen! Vielleicht ergeben sich allein daraus neue Hinweise? Was, wenn seine Familie ihm in der Zwischenzeit erzählt hat, dass er einst entführt wurde? Ich könnte Zeitungsannoncen schalten und auf diese Art nach ihm suchen – das Geld dafür habe ich dank meiner Tantiemen ja!«
»Und was würdest du in die Annoncen schreiben wollen? ›Ich suche einen jungen Mann von zwanzig Jahren‹?« Yves runzelte die Stirn. »Sei mir nicht böse, wenn ich es so hart sage – aber das führt doch zu nichts, Fabienne.«
Sie schaute trotzig auf ihren Teller. »Und wenn doch?« Flehentlich nahm sie seine Hand, drückte sie. »Vielleicht hat der Kindsdieb von damals inzwischen ein schlechtes Gewissen bekommen? Oder es gab damals Mitwisser, und einer davon plaudert im Suff etwas aus? Es ist seither so viel Zeit vergangen – das kann ein Fluch sein, aber auch ein Segen.«
Yves sah sie mit kritischem Blick an. »Allein wegen der Suche nach Victor willst du alles aufgeben, was wir uns in den letzten Jahren aufgebaut haben? Denkst du dabei auch mal an Violaine? Sie kennt nichts anderes als das Landleben!«
Fabienne seufzte. Damit sprach Yves einen wunden Punkt an. »Das weiß ich auch. Aber vielleicht ist es auch an der Zeit, dass sie etwas anderes kennenlernt!« Sie machte eine ausholende Handbewegung, die das Restaurant und ganz Paris mit einschließen sollte. »Wir beide sind schon weit gereist, haben mehr als einmal einen Neuanfang gewagt. Wir haben immer wieder neue Menschen kennengelernt, das alles hat unseren Horizont erweitert. Zumindest bilde ich mir das ein.« Sie lächelte. »Die Vorstellung, dass Violaine für immer in den Dombes bleibt und nicht auch etwas anderes kennenlernt, behagt mir nicht. Sicher – so ein Umzug wäre für sie eine große Herausforderung, aber geht es nicht auch darum im Leben? Immer wieder etwas Neues zu probieren und dann beglückt feststellen, dass man es hinbekommt? Das macht doch auch Spaß, oder nicht?«
Yves schaute sie an und lachte trocken auf. »Bei mir rennst du mit diesem Gedanken offene Türen ein! Seit meine Eltern tot sind, habe ich mich schon öfter gefragt, ob ich wohl bis ans Ende meiner Tage auf der Farm bleiben muss. Glaub nicht, du wärst die einzig Abenteuerlustige im Bund! Auch mir hängt manchmal der immer gleiche Trott zum Hals hinaus … Das Leben als Obstbauer war nie meine erste Wahl, das weißt du ganz genau.«
»Heißt das … du könntest dir vorstellen, eventuell … wieder mit in den Süden zu gehen?« Fabienne schaute ihn ungläubig an. Das hatte sie kaum zu hoffen gewagt.
»Es gäbe viel zu überlegen. Es betrifft nicht mehr nur uns zwei, so wie früher«, erwiderte er streng. »Es stellen sich jetzt ganz andere Fragen, zum Beispiel, wie es mit der Farm weitergeht. Und wie wir das Ganze so gestalten könnten, dass Violaine es als ein großes Abenteuer empfindet und nicht als Verlust. Wovon würden wir im Süden leben? Wohin genau würden wir ziehen? Wenn es nach mir ginge, dann in die Nähe von Noah. Dein Bruder und ich waren beste Freunde, er fehlt mir.«
Fabienne nickte. Ihr fehlte der Bruder auch!
»Monsieur!« Resolut winkte Yves, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen.
»Du verlangst nach der Rechnung?« Eigentlich hatte sie vorgehabt, Yves zu beichten, dass sie im Süden endlich auch ihren Traum von einem eigenen Restaurant verwirklichen wollte.
Der Traum von einem eigenen Restaurant ist höchstens aufgeschoben, aber nicht aufgehoben! – das hatte sie damals zu Yves gesagt, als sie auf die Obstfarm gezogen waren. Das Geld dafür hatte sie dank ihrer Tantiemen inzwischen, aber in der ländlichen Gegend rund um die Farm wäre solch ein Unterfangen unmöglich – es würde schlicht an Gästen fehlen!
»Die Rechnung?« Er runzelte die Stirn. »Ich will eine Flasche Champagner bestellen! Schließlich müssen wir auf unsere neuen Pläne anstoßen.«
Fabienne war zum zweiten Mal an diesem Abend sprachlos. »Eins muss man dir lassen – du verblüffst mich immer wieder!«, sagte sie und drückte ihm spontan einen Kuss auf den Mund. Und mit einem Mal kannte sie die Antwort auf die Frage, die sie in letzter Zeit so umgetrieben hatte: Ein Neuanfang ohne Yves? Für sie unvorstellbar.
Am ersten Abend nach ihrer Rückkehr trommelten Fabienne und Yves die Familie zusammen. Das Gespräch, das sie vor sich hatten, wurde schließlich nicht dadurch leichter, dass sie es lange vor sich herschoben.
Lily und Théo. Lilys dreizehnjähriger Sohn Pierre und seine elfjährige Schwester Simone. Fabies Tochter Violaine. Alle saßen an diesem winterlich-frostigen Sonntagabend rund um Fabiennes und Yves’ Esstisch. Nur die vierjährigen Zwillinge fehlten, Fabienne hatte Lily gebeten, sie zuvor ins Bett zu bringen. Zum einen waren die Mädchen zu klein für das, was es zu besprechen gab, zum andern konnten sie keine fünf Minuten still sitzen und würden mit ihrem Gezappel ausnahmsweise ernsthaft stören.
»Du machst mir Angst, Fabie, was ist denn los?«, fragte Lily beklommen, während Yves für alle Wasser in Gläser eingoss. Anschließend setzte er sich auch.
Fabienne schaute in die Runde. »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie ich anfangen soll«, hob sie an. »Also, ich muss euch etwas sagen. Etwas, was ich bis jetzt vor euch geheim gehalten habe …«
Violaine schaute ihre Mutter halb vorwurfsvoll, halb verständnislos an. »Ich dachte, man soll keine Geheimnisse vor den Liebsten haben?«
»Das stimmt. Nur manchmal geht es einfach nicht anders …«, erwiderte Fabienne. Oh Gott, so schwer hatte sie es sich nicht vorgestellt! Erleichtert spürte sie, wie Yves unter dem Tisch kurz ihre Hand drückte.
»Ich … ich werde all eure Fragen beantworten«, fuhr Fabienne fort. »Aber lasst mich bitte zuerst ausreden, bevor mich mein Mut verlässt.« Ihr Blick war bittend, als sie einen nach dem andern am Tisch anschaute. Dann sah sie ihre Tochter direkt an.
»Was ihr nicht wisst, ist, dass ich außer dir, Violaine, noch ein Kind habe. Mein Sohn Victor – dein Bruder – wurde am fünften August 1881 geboren, damals war ich achtzehn Jahre alt.«
»Wie bitte?«, entfuhr es Lily.
»Was?«, rief ihr dreizehnjähriger Sohn Pierre.
»Ich … habe einen Bruder?« Violaines Stimme war schrill. Sie fasste sich an den Hals, ungläubig, fassungslos.
Fabienne nickte unglücklich.
»Aber … wo ist er? Wo ist dieser Victor? Warum hast du uns nie von ihm erzählt?«, fragte Violaine mit weit aufgerissenen Augen.
»Er könnte uns hier auf der Farm viel helfen!«, rief Pierre und bekam dafür von seiner Mutter einen Stups.
»Als Victor geboren wurde, war ich in einem Château als Küchenmagd angestellt. Victors Vater hatte sich zuvor aus dem Staub gemacht, ich war also auf mich allein gestellt«, erzählte Fabienne mit brüchiger Stimme. Sie schaute erneut in die Runde, flehentlich. »Victor war damals mein Ein und Alles, ich liebte ihn wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Ich hätte alles für ihn getan! Aber als ledige Mutter musste ich arbeiten gehen …«
»Hast du meinen Bruder etwa in ein Kinderheim gesteckt?«, rief Violaine schrill.
»Fabienne, sag, dass das nicht wahr ist!« Lily zog scharf die Luft ein. »Auch als junge ledige Mutter …«
Fabienne verzog den Mund. »Was denkt ihr denn von mir?«, sagte sie wütend, doch ihre Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. »Es zerriss mir jedes Mal das Herz, wenn ich Victor auch nur für eine Stunde weggeben musste. Aber bei der Arbeit konnte ich ihn einfach nicht bei mir haben! In dem Château gab es ein altes Kindermädchen, das früher auf die Tochter des Hausherrn aufgepasst hatte. In ihre Obhut gab ich Victor, während ich in der Küche schuftete. Doch eines Tages, er war noch keine drei Monate alt …« – Fabienne schluckte – »… da wurde Victor entführt, während das Kindermädchen schlief. Sie wachte auf und er war nicht mehr da.«
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Théo, der bisher nur schweigend zugehört hatte.
»Aber … ein Kind kann doch nicht einfach so verschwinden!« Lily schüttelte den Kopf. »Fabie! Was war da los? Wo habt ihr Victor denn gefunden? Und warum lebte er nicht bei dir?«
»Victor wurde bis zum heutigen Tag nicht gefunden. Damals haben alle Bewohner des Châteaus und Dutzende Leute aus der Umgebung nach ihm gesucht«, sagte Fabienne leise. »Jeder Stein wurde umgedreht, jeder Mensch wurde befragt, aber niemand hatte irgendeine Beobachtung gemacht, die uns weitergeholfen hätte. Hatte ein Reisender ihn mitgenommen? War es jemand aus der Umgebung? Es kam nie heraus! Die Gendarmerie suchte mit einem großen Trupp Männer nach meinem Sohn, Spürhunde wurden eingesetzt …« Sie zuckte mit den Schultern. »Alles vergeblich. Ich kann mir bis heute nicht erklären, was damals geschehen ist.« Sie warf einen Blick auf Violaine, die wie versteinert dasaß.
»Oh Gott, wie schrecklich!« Lily sprang auf, ging vor Fabienne in die Hocke, nahm sie in die Arme. »Fabie, das tut mir so leid!« Sie schluchzte laut auf. »So etwas muss einer Mutter doch das Herz zerreißen …«
Für einen langen Moment lagen sich die beiden Schwestern in den Armen. Während Lily Tränen vergoss, blieben Fabiennes Augen trocken. Nach zwanzig Jahren hatte sie einfach keine Tränen mehr übrig.
Irgendwann hatte Lily sich wieder so weit beruhigt, dass sie auf ihren Platz zurückkehrte.
Yves schenkte allen Wasser nach, dabei waren die Gläser noch fast unberührt.
Betretenes Schweigen setzte ein. Bestimmt hatten alle zahllose Fragen, wussten aber nicht, wie sie diese stellen sollten, ohne ihre Gefühle zu verletzen, ging es Fabienne durch den Kopf. Violaine saß eng an sie geschmiegt auf ihrem Schoß, den rechten Daumen im Mund. Normalerweise hätte Fabie sie deswegen gerügt, stattdessen drückte sie ihre Tochter fest an sich.
»Glaubt mir, ich habe Victor nie vergessen«, sagte sie schließlich. »Es verging kein Jahr, in dem ich nicht nach Carcassonne reiste, um bei der Gendarmerie nachzufragen, ob es etwas Neues gibt. Bis heute habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn eines Tages doch in die Arme schließen zu können.«
Lily nickte. »Jetzt verstehe ich – nach Carcassonne bist du gefahren, wenn du verreist warst! Ich dachte immer, du bist dann für ein paar Tage in Lyon …«
»Dass ich meine Freundinnen, die Mères Lyonnaises, besuche, war eine Notlüge«, sagte Fabienne traurig.
»Aber … warum hast du mich nicht ins Vertrauen gezogen? Und du, Yves – warum hast du nichts gesagt? Geteiltes Leid ist halbes Leid, heißt es nicht so? Wir sind doch Familie«, sagte Lily empört.
Während Fabienne noch um eine Antwort rang, räusperte sich Théo. »Da du dein Geheimnis nun preisgibst – heißt das womöglich, dass es eine neue Spur gibt?«
Sogleich schauten alle Fabienne hoffnungsvoll an. Doch sie schüttelte den Kopf.
»Aber … das kann doch alles nicht wahr sein!« Flehentlich schaute Lily ihre Schwester an. »Gibt es irgendetwas, was wir tun können, um …«
Fabienne schüttelte erneut den Kopf.
»Wissen denn Lucy und Noah Bescheid?«
Auch diese Frage verneinte Fabienne. »Ich werde es beiden aber sagen oder schreiben, je nachdem –« Sie brach ab, als an ihrer Schulter ein herzzerreißender Schluchzer ertönte.
»Ich will meinen Bruder kennenlernen!«, flüsterte Violaine, und ihre Tränen durchnässten Fabiennes Kleid. »Jetzt, wo ich weiß, dass ich einen Bruder habe, würde ich am liebsten sofort zu ihm fahren …«
Fabienne und Yves schauten sich an. Dass dieses Gespräch kein Spaziergang werden würde, hatten sie beide gewusst.
Yves holte tief Luft. »Ich bitte euch, Fabiennes Entscheidung, die Geschichte von ihrem Sohn all die Jahre geheim zu halten, zu respektieren«, sagte er, während Fabienne Violaines Tränen trocknete. »Selbst wenn sie es jedem Einzelnen in der Familie damals erzählt hätte, hätte dies dennoch nichts geändert.« Er schaute ernst von einem zum andern. »Das mit Victor wisst ihr nun. Wir haben allerdings noch eine weitere Nachricht …«
Schlagartig wurde es ruhig am Tisch. »Fabienne, am besten sagst du es ihnen.« Yves nickte ihr aufmunternd zu.
Fabie holte tief Luft. »Es ist so … Yves und ich überlegen, ob wir nicht wieder in den Süden ziehen.«
»Und dann soll ich auch ohne dich leben, wie mein Bruder?«, rief Violaine schrill.
»Natürlich nicht! Wie kannst du so etwas nur annehmen? Du kommst selbstverständlich mit«, antwortete Fabienne, halb verärgert, halb entsetzt. Violaine tat ja geradeso, als hätte sie Victor damals freiwillig weggegeben! Dann fuhr sie fort: »Victor wird dieses Jahr zwanzig Jahre alt! All die verlorenen Jahre …« Sie schaute fast trotzig in die Runde. »Ich möchte meine Suche nochmals neu beginnen, auch wenn ich weiß, dass es sich hier um die Suche nach der Nadel im Heuhaufen handelt. Aber … ich muss es einfach tun!«
»Und was ist mit uns? Was wird mit der Farm?« Lily schaute Yves an.
»Wir würden euch gern als Verwalter einsetzen«, antwortete Yves mit fester Stimme. »Ihr kennt euch aus, ihr seid hier zu Hause … Ihr könntet noch ein oder zwei Helfer einstellen, dann ist die Arbeit gut zu schaffen.«
»Es ist noch nichts zu Ende gedacht! Jeder kann seine Meinung dazu sagen. Wir würden alles gut planen«, fügte Fabienne hinzu, als sie die skeptischen und auch betroffenen Gesichter von Lily und Théo sah. »Und aus den Augen heißt noch lange nicht aus dem Sinn! Wir können uns schreiben. Und uns gegenseitig besuchen.«
Die Schwester schnaubte nur. Solange ihr gewalttätiger Mann Pierre lebte, würden vermutlich keine zehn Pferde sie in den Süden bringen!
Violaine jedoch schien sich vom ersten Schrecken erholt zu haben. »Muscheln sammeln am Meer, das wird schön …«, sagte sie verträumt, doch gleich darauf setzte sie sich aufrecht hin und sagte mit fester Stimme: »Noch viel wichtiger ist natürlich, dass wir endlich meinen Bruder finden! Wenn ihr mit meiner Lehrerin sprecht, lässt sie mich bestimmt gehen – ihr müsst ihr nur alles erklären.«
Fabienne unterdrückte ein Grinsen. Dass Violaine einzig den Vorteil sah, ihrer verhassten Schule zu entrinnen, war wieder einmal typisch. »Freu dich nicht zu früh – das Schuljahr wirst du noch hier beenden! Wir ziehen frühestens in den Sommerferien um«, sagte sie betont streng.
»Aber Vio! Du … willst uns allein lassen?« Schon kullerten bei Lilys Tochter die Tränen.
Violaines Schultern sackten nach unten. »Daran habe ich gar nicht gedacht …« Im nächsten Moment begann auch sie wieder zu weinen.
»Oh Gott«, sagte Fabienne und musste unfreiwillig lachen. »Ich glaube, so viele Tränen wie heute sind in diesem Haus noch nie geflossen! Yves – hast du für uns Erwachsene vielleicht einen Schluck Eau de vie? Ich glaube, wir könnten jetzt etwas Stärkeres gebrauchen!«