Kaum war Weihnachten vorüber, ging es im Restaurant schon wieder hoch her. Nachdem die Hausfrauen von Gruissan über die Feiertage stundenlang in der Küche gestanden hatten, wurden sie nun von ihren Ehemännern zum Essen ausgeführt. Auch Gäste aus Narbonne und anderen umliegenden Orten kamen, sie verbanden einen Besuch am Meer mit einem guten Essen.
Fabienne war gerade dabei, Fische zu schuppen, als Yves in der Küche erschien, in der Hand einen Brief. »Cédric hat geschrieben. Der Brief ist aus Paris.«
Fabienne runzelte die Stirn. »Was macht Cédric in Paris? Er wollte doch nach Perpignon zu seiner Schwester, die ein Kind bekommen hat. Und eigentlich wollte er spätestens heute wieder zurück sein!« Wie konnte ihr sous-chef es wagen, seinen Urlaub einfach zu verlängern, er wusste doch genau, wie viel es für Silvester vorzubereiten gab! Die Fehltage würde sie ihm vom Lohn abziehen, dachte Fabienne wütend.
»Nun lies schon vor, was er schreibt«, blaffte sie, während Yves stirnrunzelnd auf den Brief schaute.
»Cédric schreibt, dass er nicht mehr kommt. Er hat eine Stelle im Grand Hôtel Paris beim chef de cuisine Prosper Montagné angenommen.«
Bruno hob die Augenbrauen. »Prosper Montagné ist einer der besten Köche Frankreichs! Wie kommt Cédric zu einer solchen Stelle?«
Fabienne fuhr zu ihm herum. »Wenn das dein einziges Problem ist …«
Von wegen, er wollte seine Schwester besuchen – angelogen hatte Cédric sie! Und jetzt kam er nicht mehr? Was bedeutete das für sie, für das Pourquoi Pas? Sie spürte, dass eine leichte Panik sie überfiel. Jetzt waren sie gerade zu einem eingespielten Team geworden und nun das.
»Er schreibt, er würde bei seiner neuen Stelle mehr verdienen und dafür weniger arbeiten müssen.« Yves schnaubte.
Fabienne lachte bitter auf. »Mir scheint, Cédric glaubt noch an Märchen! Gutes Geld, ohne sich dafür anstrengen zu müssen? Das gibt es nirgendwo, das wird er bald merken …« Sie ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. »Aber bitte, Reisende soll man nicht aufhalten«, sagte sie mit einer Leichtigkeit, die sie nicht empfand. »Bruno und ich schaffen es auch allein, nicht wahr, Bruno?«
»Natürlich!«, sagte der sous-chef.
»Dass Cédric gegangen ist, wundert mich im Grunde nicht. Nicht nur ich, sondern auch Bruno und er haben dich dringend gebeten, das Restaurant zwischen den Jahren geschlossen zu lassen. Wir alle hätten eine längere Pause sehr nötig gehabt! Aber du musstest mal wieder deinen Kopf durchsetzen«, sagte Yves so leise zu Fabienne, dass Bruno es nicht hören konnte. »Das hast du nun von deinen einsamen Entscheidungen!« Ohne ein weiteres Wort ging er davon.
Betroffen schaute Fabienne ihm hinterher. Im nächsten Moment hörte sie, wie die Tür des Restaurants klirrend ins Schloss fiel.
Lucy, die in die Küche gekommen war, seufzte auf. »Jeder hat mal einen schlechten Tag. Mach dir nichts draus …«
Hilflos schaute Fabienne ihre Schwester an. »Yves sagt, ich wäre selbst schuld, dass Cédric gekündigt hat. Bin ich wirklich eine so schlechte Chefin?«, sagte sie, den Tränen nah. »Das kann er nicht so gemeint haben, oder?«
»Ich weiß nicht, ob Yves es so gemeint hat«, erwiderte Lucy nüchtern. »Cédric wollte wahrscheinlich sowieso weg, er hat immer von Paris geschwärmt! Seine Entscheidung hat somit nichts mit dir –« Sie brach ab, als wie aus dem Nichts eine fremde Frau im Türrahmen der Küche stand.
»Würden Sie bitte vorn im Restaurant warten? Ich komme gleich zu Ihnen«, sagte Lucy streng.
Auch Fabienne schaute die Frau stirnrunzelnd an. Dass ein Gast zu ihnen in die Küche kam, hatte sie noch nicht erlebt. Und dass die Frau Arbeit suchte, konnte sie sich angesichts der eleganten Erscheinung nicht vorstellen. Sie trug ein teuer aussehendes Kostüm und einen farblich darauf abgestimmten Hut.
Ihre wasserblauen Augen waren kühl, ihr Kinn nach vorn gereckt, als sie mit einem leichten Zittern in der Stimme sagte: »Mein Name ist Sabrine Sarda, ich bin Manuels Mutter. Madame Mazeau – ich muss mit Ihnen reden, in Ruhe, wenn es geht.« Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll hinüber zu Bruno, der gerade lautstark mit einem Fleischklopfer ein Schnitzel bearbeitete.
Fabienne spürte, wie ihr das Herz nach unten sank. Angstvoll griff sie sich an den Hals und fragte mit erstickter Stimme: »Ist etwas mit Vic… – ich meine, mit … Manuel? Es geht ihm doch gut?« Sie riss sich die Kochschürze vom Leib und drückte sie Lucy in die Hand. »Kannst du hier übernehmen?«, sagte sie und wandte sich an die fremde Frau. »Kommen Sie, bitte!«
»Manuel geht es gut«, sagte Sabrine Sarda, als sie sich im Restaurant gegenübersaßen.
Fabienne atmete unwillkürlich aus. »Und was wollen Sie dann von mir?«, fragte sie im nächsten Moment feindselig. Diese Frau hatte ihren Sohn entwendet und wagte es, hier einfach aufzutauchen?
»Die Frage ist doch viel eher, was Sie von uns wollen!« Sabrina Sarda starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Seit Manuel bei Ihnen war, ist er so anders! Manchmal kommt es mir vor, als habe er sein fröhliches Selbst verloren. Reden Sie – was haben Sie meinem Jungen angetan?«
»Ich soll Manuel etwas angetan haben?« Fabienne war fassungslos. »Er tauchte vor zwei Monaten hier auf, mit einer jungen Frau. Nachdem er sich kurz vorgestellt hatte, schleuderte er mir eine Gemeinheit nach der nächsten ins Gesicht. Ich kam gar nicht zu Wort, meine Version dessen, was damals mit ihm passiert ist, interessierte ihn nicht. Das alles dauerte keine zehn Minuten«, sagte sie bitter. »Hat er Ihnen das etwa nicht erzählt?«
Sabrine Sarda schüttelte den Kopf. »Manuel ist derzeit so verschlossen wie unsere Austern, er hat mir nicht einmal erzählt, dass er bei Stéphanie war, um sie über Sie auszuhorchen. Und dass er Sie im Anschluss aufgesucht hat, hat er uns auch verschwiegen! Das weiß ich alles von Adèle, seiner Verlobten. Wahrscheinlich hat sie mir nur deshalb die Wahrheit gesagt, weil auch sie sich Gedanken macht wegen Manuels Verstimmung.«
Ihr Sohn war verlobt! Fabienne schluckte. »Für Manuels Verstimmung kann ich wahrlich nichts«, sagte sie hart. »Bei den Gemeinheiten, die Ihre gute Freundin Stéphanie de Carneval ihm über mich – seine leibliche Mutter – erzählt hat, wundert es mich nicht, dass … Manuel niedergeschlagen ist. Stéphanie hat mich offenbar hingestellt wie die böse Hexe in einem grausamen Märchen! Dabei weiß sie ganz genau, dass ich nie aufgehört habe, nach meinem Victor zu suchen. Als er damals verschwunden ist, bin ich fast verrückt geworden vor Gram! Manchmal dachte ich, es wäre am besten, wenn ich auch sterbe.« Sie legte beide Hände um ihren Leib, wiegte sich unwillkürlich vor und zurück, als könne sie so das Stechen in ihrer Brust mildern. »Einzig die Hoffnung, ihn eines Tages wiederzufinden, hat mich überleben lassen.« Ein Schaudern durchfuhr sie. »Dass Stéphanie mit Victors Verschwinden zu tun hat, auf diesen Gedanken bin ich erst gekommen, nachdem Manuel hier war. Die wahre Hexe in diesem Spiel ist Stéphanie!« Sie schaute die Frau durchdringend an.
Sabrine Sarda zog erschrocken Luft ein, schlagartig wurde sie blass. »Sie meinen … Stéphanie hat …«
Fabienne schnaubte. »Als ich sie damit konfrontiert habe, hat sie meinen Vorwurf weder verneint noch bejaht, sich dafür umso mehr an meiner Wut und Verzweiflung ergötzt. Wahrscheinlich werde ich nie erfahren, was damals geschah.«
Einen Moment lang herrschte bedrücktes Schweigen.
»Vor Gram fast verrückt zu werden – ich weiß, wie sich das anfühlt«, sagte Sabrine Sarda dann leise. »Kurz bevor Manuel zu uns kam, war mein eigenes Kind gestorben. Ich dachte, ich sterbe vor Trauer! Als unser Pfarrer mir damals das Findelkind in den Arm legte, war das, als wäre unser Sohn auferstanden! Manuel war wie ein Geschenk Gottes.« Sabrines Augen glänzten. Mit kalten Fingern griff sie nach Fabiennes Händen, drückte sie. »Hätte ich gewusst, dass der Pfarrer mir ein entführtes Kind …« Sie gab einen erstickten Laut von sich. »Ich hätte Ihnen Ihr Kind zurückgebracht, das schwöre ich!«
Fabienne schaute die Frau an und glaubte ihr.
»Manuel hat es gut bei uns – eher würde ich mein Leben für ihn geben, als dass es ihm an etwas fehlt«, fuhr Sabrine Sarda fort. »Deshalb flehe ich Sie an, mir meinen Sohn zu lassen!«
»Da brauchen Sie keine Angst haben. Manuel ist erwachsen und verabscheut mich, er will mich nie wiedersehen, da hat Ihre Freundin Stéphanie mit ihren Lügengeschichten ganze Arbeit geleistet!«, sagte Fabienne unwirsch.
Die Frau des Austernzüchters öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, zögerte jedoch zunächst. »Stéphanie de Carneval ist nicht meine Freundin«, sagte sie dann heftig. »Sie ist kein guter Mensch, ich mochte sie noch nie …« Sie ließ die Schultern sinken. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich im tiefsten Innern sogar Angst vor ihr.«
Erneut breitete sich Schweigen aus.
Lucy kam, stellte zwei Tassen Kaffee, Zucker und Milch vor sie hin. »Wenn du mich brauchst – ich bin in der Küche«, sagte sie, dann ging sie wieder davon.
Fabienne sah ihrer Schwester dankbar nach, dann widmete sie sich wieder ihrem Gast. Eigentlich hätte sie die Frau, die an ihrer Stelle Victor großgezogen hatte, hassen müssen. Stattdessen empfand sie zu ihrem eigenen Erstaunen sogar etwas wie Dankbarkeit. Zum Glück war ihr Sohn damals wenigstens in gute Hände gekommen, dachte sie. Ob sie es wagen konnte, Madame Sarda ein paar Fragen zu stellen?
»Wie war er denn als kleiner Junge?«, sagte sie leise.
Sabrine Sarda verzog den Mund zu einem wehmütigen Lächeln. »Er war der schönste und klügste Junge, den Sie sich vorstellen können. Und neugierig war er! Er wollte immer alles ganz genau wissen, manchmal hat er seinen Vater und mich mit seinen Fragen fast zur Verzweiflung gebracht. Einmal, da gab es ein Problem an unseren Austernbänken, da …«
Die Frauen redeten und redeten. Sie lachten und sie weinten zusammen. Sabrine Sarda erzählte lustige Anekdoten aus Manuels Kindheit, traurige Geschichten, kuriose Momente. Fabienne saugte Wort für Wort auf wie ein Schwamm. Durch die vielen kleinen Details wurde ihr Sohn auf einmal so greifbar! Genau wie Noah!, dachte sie mehr als einmal. Und: Nicht anders hätte Violaine reagiert! Als Sabrine Sarda von Manuels Liebe zu gutem Essen erzählte und davon, wie er seinen Vater überredet hatte, zusätzlich zu den Austern auch noch mit Feinkost zu handeln, platzte es spontan aus ihr heraus: »Das hat er von mir!«, woraufhin Sabrine Sarda kurz zusammenzuckte, dann aber gnädig nickte.
Lucy warf ihnen immer mal wieder fragende Blicke zu, die beide Frauen jedoch ignorierten. Sie befanden sich in einem Kokon, eingesponnen in Liebe für denselben Sohn. So viel die Frau des Austernzüchters auch von Manuels Kindheit erzählte, so wenig sagte sie über Manuels jetziges Leben und seine Pläne für die Zukunft – eine Zukunft, in der sie, Fabienne, keinen Platz hatte. Fabienne kam es vor, als würde die alte Wunde ihres Verlustes durch Sabrine Sardas Erzählungen neu aufgerissen und geheilt zugleich. Sie hätte den schmerzhaft-schönen Worten ewig lauschen können!
Schließlich, kurz vor zwölf, schloss Lucy geräuschvoll die Restauranttür auf. Sogleich traten der Bürgermeister und seine Frau ein, weitere Gäste folgten auf dem Fuß.
Sabrine Sarda seufzte, dann erhob sie sich. Der Kokon aus Mutterliebe war gesprengt, die normale Welt hatte sie wieder. »Adèle hatte recht, Sie sind eine gute Frau!«, sagte die Frau des Austernzüchters warmherzig.
»Denselben Eindruck hatte ich auch von Ihrer Schwiegertochter. Manuel kann sich glücklich schätzen mit ihr. Und Sie ebenfalls!«, erwiderte Fabienne lächelnd. »Danke, dass Sie mir so viel erzählt haben. Manuel hat wirklich die besten Eltern, die man sich vorstellen kann …« Bei den letzten Worten brach ihre Stimme.
»Tut mir leid, dass alles so gekommen ist«, flüsterte Sabrine. »Stéphanie hat furchtbar viel Unheil gestiftet. Aber wer weiß? Vielleicht in ein paar Jahren …« Sabrine Sarda zog ihren Mantel an.
Fabienne winkte ab. »Ich mache mir diesbezüglich keine Hoffnungen mehr. Der liebe Gott wird schon wissen, warum er dieses Schicksal für mich gewählt hat. Ich habe gelernt, seine Entscheidungen zu akzeptieren.« Sie umarmte Sabrine Sarda kurz. »Leben Sie wohl!«
Statt zurück in die Küche zu gehen, wo Bruno in zwei Töpfen gleichzeitig rührte, lief Fabienne hinauf in ihr Zimmer. Einen kurzen Moment für sich, den brauchte sie jetzt.
Erschöpft setzte sie sich auf ihr Bett, während von unten Lucys und Suzannes Stimmen zu hören waren.
Erst Cédrics Brief, dann der Streit mit Yves, der polternd weggerannt war – wohin eigentlich? Und dann noch der Besuch von Sabrine Sarda, der Mutter ihres Sohnes. Eigentlich hätte sie, Fabienne, die Frau hassen müssen, stattdessen empfand sie zu ihrem Erstaunen Sympathie für die andere.
Eine Träne rollte nass und kalt über Fabiennes Wange.
Nichts hatte mehr Bestand, dachte Fabienne, die Liebe nicht, der Hass nicht. Das alte Jahr ertrank in bitteren Tränen.