Kapitel 1

Marseille, Anfang Oktober 1891

Im Bistro roch es wie immer, dachte Fabienne, als sie zögerlich die Tür aufstieß. Nach Fasswein und geschmolzenem Käse, nach Zigarettenrauch und verschüttetem Armagnac. Von der Bäckerei nebenan kam der Duft von frisch gebackenem Brot dazu.

Verspürte sie Freude darüber, wieder hier zu sein?, fragte sich Fabienne. Wehmut? Oder überwog das Bauchgrummeln angesichts der nahenden Konfrontation? Noch bevor sie länger über diese Frage hätte nachdenken können, stürmte Stéphanie auf sie zu.

»Fabienne, du bist zurück! Endlich!« Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

»Bonjour, Stéphanie«, sagte Fabienne ein wenig steif.

Doch schon im nächsten Moment schlang Stéphanie ihre Arme um sie. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du zurückkommst! Und recht hatte ich!« Ihre hektisch ausgestoßenen Worte verfingen sich in Fabiennes linkem Ohr. Zugleich stieg ihr Stéphanies nach Zigaretten riechender Atem in die Nase. »Ich habe dich so vermisst …« Sie drückte Fabienne noch fester an sich. »Ganze vier Wochen warst du nun weg – mach so was nur ja nie wieder!«

Fabiennes Inneres sträubte sich wie die Stacheln eines Igels. Fast gewaltsam löste sie sich aus Stéphanies Umarmung. »Ich bin nicht ›zurück‹! Ich will lediglich meine restlichen Sachen holen. Hast du meinen Brief denn nicht bekommen, in dem ich dir alles erklärt habe?« Stéphanie sah gut aus, dachte sie. Ihr Blick war wach, ihre Wangen rosig. Dass sie vormittags um elf Uhr überhaupt schon wach war, wunderte Fabienne ebenfalls – zu dieser Zeit schlief Stéphanie normalerweise noch.

Anstatt auf Fabiennes Frage zu antworten, zeigte Stéphanie mit großer Geste aufs Bistro. »Na, was sagst du – ist nicht alles ganz wunderbar in Schuss?«

Fabienne ließ ihren Blick schweifen. Der Boden war gefegt, die Fenster waren geputzt – sogar die Tische waren schon für den Mittagstisch gedeckt!

»Mir scheint, ihr kommt ohne mich ganz gut zurecht.«

»Hast du etwa gedacht, wir lassen während deiner Abwesenheit alles den Bach runtergehen?«, sagte Stéphanie entgeistert. »Das Bistro ist doch unser gemeinsames Kind! Für mich war es selbstverständlich, dass ich bis zu deiner Rückkehr auf alles Obacht gebe.«

»Stéphanie …«, sagte Fabienne gequält. »Ich bin wirklich nicht dauerhaft zurück! Ich bin lediglich gekommen, um –« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment ging die Küchentür auf und Mia erschien.

»Habe ich doch richtig gehört – die liebe Fabienne!«, sagte die junge Frau, die vom Freudenhaus auf der anderen Straßenseite hierher gewechselt und Fabiennes Platz in der Küche eingenommen hatte. Mit verschränkten Armen schaute sie Fabienne feindselig an. »Dass du dich hier noch mal blicken lässt! Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was hier los war, nachdem du so einfach abgehauen bist?« Noch bevor Fabienne einen Ton sagen konnte, drehte sich Mia auf dem Absatz um und verschwand wieder in der Küche.

Wie vor den Kopf geschlagen stand Fabienne da.

Stéphanie seufzte. »So geht das schon die ganze Zeit! Anstatt dich würdig zu vertreten, jammert Mia von früh bis spät nur herum. Der Herd ist zu eigensinnig, den Teig für die Quiche bekommt sie nicht hin, und überhaupt ist alles viel zu viel Arbeit für eine Frau! ›Wenn das so ist, dann frage ich mich, wie Fabienne das lange Zeit ganz allein geschafft hat?‹, habe ich sie erst gestern gefragt.«

»Vielleicht ist Mia wirklich noch nicht so weit, um eine Küche ohne Unterstützung zu führen …«, murmelte Fabienne betroffen.

»Ach was, das junge Ding ist einfach nur faul!«

Fabienne biss sich auf die Unterlippe. Wenn Mia eines nicht war, dann faul!

»Ich schaue mal, ob ich ihr irgendwie helfen kann«, sagte sie.

»In Ordnung! Ich bin solange oben in der Wohnung, muss mir die Haare waschen«, trällerte Stéphanie. »Komm einfach hoch, wenn du mit Mia fertig bist.«

Die Küche war blitzblank, alles war an seinem alten Platz. Und allem Anschein nach war Mia am Morgen auch schon auf dem Markt gewesen, denn frisches Gemüse und ein paar Salatköpfe lagen zum Verarbeiten parat. Auf dem Herd simmerte es in mehreren Töpfen, der Duft von Fleischbrühe lag in der Luft.

Fabienne machte eine ausholende Handbewegung, die die Markteinkäufe, den Herd und Mia, die am Spülbecken stand und einen Fisch schuppte, mit einschloss. »Für mich sieht das alles sehr gut aus. Kannst du mir bitte sagen, was es mit deinem Wutausbruch vorhin auf sich hatte?«

Die junge Frau schnaubte. »Dass ich alles sauber halte und pfleglich mit den Lebensmitteln umgehe, ist ja wohl selbstverständlich. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch kochen kann! Seit du weg bist, merke ich erst, was ich alles nicht kann! Irgendein Gast hat immer was zu meckern, immer heißt es: ›Bei Fabienne hat es besser geschmeckt!‹ Und ständig schimpft jemand, weil es so lange dauert, bis das Essen kommt. Und dann …« Mia winkte mit einer resignierten Geste ab. »Was rede ich? Als ob dich meine Nöte noch interessieren …«

»Natürlich tun sie das!« Fabienne trat an die junge Frau heran, streichelte hilflos ihren rechten Arm. »Falls es dir ein Trost ist – mir ging es am Anfang genau wie dir, aber das wird besser.«

Doch Mia schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht du, Fabienne, ich schaff das nicht! Als du hier angefangen hast, hattest du schon viele Jahre als Köchin in Lyon gearbeitet, das hast du selbst erzählt. Ich aber habe dir lediglich ein paar Monate über die Schulter geschaut, und das reicht bei Weitem nicht aus. Stéphanie ist auch schon sauer – wenn sie mich rauswirft, muss ich zurück ins Freudenhaus und wieder die Beine breitmachen.«

»Dazu wird es nicht kommen, das verspreche ich dir!«, sagte Fabienne heftig. Schlechtes Gewissen durchflutete sie. Allem Anschein nach hatte sie Mias Fähigkeiten doch falsch eingeschätzt …

Die ehemalige Prostituierte schaute sie spöttisch an. »Du hast hier doch gar nichts mehr zu sagen, wie willst du mir da etwas versprechen? Stéphanie faselt die ganze Zeit davon, dass du hier in der Küche wieder übernimmst, aber mir war von Anfang an klar, dass du uns für immer im Stich lässt!«

Fabienne zuckte zusammen, als habe sie einen Peitschenhieb bekommen. Ein halbes Dutzend Entschuldigungen lagen ihr auf der Zunge, aber sie schluckte alle herunter. Keine wäre geeignet gewesen, Mias Sicht der Dinge zu verändern.

»Wenn du willst, schreibe ich dir ein paar Rezepte auf, vielleicht hilft das ja ein wenig weiter«, sagte sie lahm.

»Rezepte? Nun, dafür müsste ich erst mal lesen können«, erwiderte Mia sarkastisch. Sie winkte Fabienne mit beiden Händen davon. »Geh, geh einfach! Und nimm all deine tollen Versprechungen mit, sie helfen mir nämlich kein bisschen weiter!«

Schweren Schrittes stieg Fabienne die steile Treppe hinauf, die zu der Wohnung im ersten Stock führte. Als sie im September Marseille Hals über Kopf verlassen hatte, hatte sie diese Entscheidung als richtig empfunden. Noahs Brief, in dem er sie über Lilys Notlage informiert hatte, hatte ihr gar keine andere Wahl gelassen, als Lily zu Hilfe zu eilen! Hätte sie etwa aus der Ferne zuschauen sollen, wie ihre Schwester endgültig vor die Hunde ging?

Doch nach dem Gespräch mit Mia hatte sie das Gefühl, mit ihrer überstürzten Abreise einen großen Fehler begangen zu haben.

Ihr Zimmer sah aus, als wäre sie nur über Nacht weg gewesen – die Bettwäsche mit der Zierleiste war noch aufgezogen, da lag noch eine Puppe von Violaine, die wenigen Bücher, die sie besaß, standen im Regal.

Nachdem sie ihre Habseligkeiten gepackt hatte, stellte Fabienne ihren Koffer im Flur ab und trat hinaus auf den Balkon, wo Stéphanie auf einem der beiden Stühle saß und ihre Haare kämmte.

Sobald sie Fabienne sah, reichte sie ihr lächelnd den Kamm. »Magst du?«

Als sie zusammengelebt hatten, hatten sie sich öfter gegenseitig die Haare gekämmt, doch heute schüttelte Fabienne nur den Kopf. »Wir müssen reden.«

»Aber sicher doch! Bevor du mir von deiner Reise erzählst, möchte ich dir allerdings eins vorneweg sagen …« Stéphanie grinste spitzbübisch. »Seit drei Wochen gibt es nur noch zwei Flamencoabende pro Woche, und zwar freitags und samstags!«

»Das freut mich zu hören«, sagte Fabienne lächelnd. »Dass du dich allabendlich derart verausgabt hast, hat mich mit Sorge erfüllt.«

Stéphanie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß – das hast du mir oft genug gesagt, meine liebe Freundin!« Sie sprang auf. »Ich hol nur kurz eine Haarspange, bin gleich zurück.«

Freundinnen – waren sie das wirklich je gewesen? Richtige Freundinnen?, fragte sich Fabienne, während sie auf Stéphanie wartete.

Cathérine Boucher und Gisèle Ricard – beide waren Mères Lyonnaises –, das waren Freundinnen für sie gewesen! Wann immer eine von ihnen Probleme gehabt hatte, hatten die andern ihr beigestanden, jede wäre für die andere durchs Feuer gegangen.

Mit aufgesteckten Haaren erschien Stéphanie wieder auf dem Balkon. »Soll ich eine Flasche Wein für uns öffnen? Oder soll Mia uns einen Kaffee kochen?«

Fabienne schüttelte nur den Kopf. »Setz dich einfach«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl neben sich. Dann hob sie stockend an: »Als … als ich dir den Brief schrieb, in dem stand, dass ich mich für … ein anderes Leben entschieden habe … Stéphanie, das war kein Scherz!« Wie hatte sie sich aber einbilden können, mit einem Brief ließe sich alles regeln?, dachte sie, noch während sie sprach.

»Der Brief, der Brief! Mach dir deswegen keine Gedanken, den habe ich sowieso nicht ernst genommen«, erwiderte Stéphanie in so nachsichtigem Ton, als würde sie mit einem Kind reden. »Wahrscheinlich hat deine Familie dich genötigt, ihn zu schreiben. Und dieser Yves, dein sogenannter ›Ehemann‹ – der möchte dich auch am liebsten unter seiner Knute haben. Dass du dir hier in Marseille ein selbstständiges Leben aufgebaut hast, hat ihm nicht gepasst, das habe ich gleich gemerkt! Wir beide sind nun mal selbstständige Frauen, wir brauchen keinen Mann, der uns versorgt. Und das sehen die Männer nicht gern.« Sie nahm Fabiennes Hand, drückte sie so fest, dass es Fabie wehtat. »Aber das Bistro … das ist doch dein großer Traum!«

»Das war mein Traum, ja! Und ich werde dir immer dankbar dafür sein, dass du Vertrauen in mich und meine Kochkünste hattest. Wir zwei haben das Bistro auf Vordermann gebracht, darauf dürfen wir beide stolz sein«, sagte Fabienne. »Aber die Zeit für eigene Träume ist vorbei, jetzt muss ich schauen, dass es Violaine gut geht. Und meiner Schwester …« Sie schaute die Freundin flehend an. »Meine Tochter soll an einem Ort aufwachsen, wo sie sicher ist. Auf dem Land kann sie eine unbeschwerte Kindheit haben – hier in einer Straße, in der es nachts Schlägereien gibt, wäre das unmöglich!« Unvermittelt dachte sie sehnsüchtig an die Obstfarm in den Dombes, wo ihre Liebsten auf sie warteten.

»Violaine, Violaine!« Stéphanie schnaubte. »Du hörst dich genau an wie früher mit Victor – auch da hattest du nur noch dieses Kind im Kopf. Was meinst du wohl, wie ich mich damals gefühlt habe? Nach Victors Geburt hast du mich aus deinem Leben gestrichen, als hätte es mich nie gegeben!«

»Das stimmt doch nicht! Ich bin dir heute noch dankbar für alles, was du für mich getan hast«, wiederholte Fabienne heftig. »Aber du warst die Tochter des Chevaliers und ich nur die Küchenmagd! Während ich mich krummlegte, um meine Arbeit und das Kind unter einen Hut zu bringen, warst du mit deinem Verlobten und euren Freunden unterwegs, um das Leben zu genießen. Du kannst doch jetzt nicht behaupten, dass du die Zeit lieber mit mir verbracht hättest!« Hin und wieder hatte Stéphanie sich dazu herabgelassen, ein paar Worte mit ihr, der Küchenhilfe, zu wechseln. Die meiste Zeit jedoch hatte Stéphanie sie ignoriert. Das konnte man wirklich nicht Freundschaft nennen.

Stéphanie nickte, die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Warum wundert es mich nicht, dass du das so siehst? Ich sah in dir eine Vertraute! Du warst ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Als du dann nur noch Augen für Victor hattest, habe ich die ganze Zeit gegrübelt, was ich wohl falsch gemacht hatte. Doch dann wurde mir klar – es lag gar nicht an mir! Es lag einzig an dir, Fabienne – du hast mich völlig links liegen gelassen. Und sehe ich etwa aus wie eine Frau, die man einfach links liegen lassen sollte?« Sie schaute Fabienne so hasserfüllt an, dass diese einen Moment Angst bekam, Stéphanie würde auf sie losgehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Stéphanie weiter. »Damals hast du mich das erste Mal verraten. Und jetzt wagst du es allen Ernstes, mir das noch einmal anzutun?«

»Jetzt ist’s aber genug!«, rief Fabienne. Stéphanie war ja wie von Sinnen! »Ich tu dir gar nichts an. Manchmal ändern sich eben die Lebensumstände, und dann muss man darauf reagieren. Vielleicht hätte ich meinen Weggang von hier anders planen sollen, ja. Aber die Zeit drängte nun einmal – meine Schwester Lily schwebte durch ihren gewalttätigen Ehemann in großer Gefahr! Mein Bruder und ich mussten sie da fortholen, je früher, desto besser.«

Stéphanie schaute sie anklagend und entsetzt zugleich an. »Und warum bist du nicht zurückgekommen, nachdem du deine Schwester gerettet hast? Warum jetzt dieser Umzug aufs Land? Violaine, Lily – immer schiebst du irgendjemanden als Vorwand vor. Dabei hast du in Wirklichkeit schon immer nur das getan, wonach dir gerade der Sinn stand! Damals, als du von einem Tag auf den andern Château Morel verlassen hast, hast du auch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es mir dabei ging. Ich stand in der Tür und winkte dir hinterher – doch du hast dich nicht einmal mehr umgedreht. Du, Fabienne, bist der egoistischste Mensch, der mir jemals begegnet ist!«

Stéphanies Worte hallten noch in Fabiennes Ohren nach, als sie mit ihrem Koffer am Bahnhof von Marseille angekommen war. Stéphanie hatte allen Grund, sie zu hassen. Violaine hätte tatsächlich keinen Schaden genommen, wenn sie sich mit ihrem Weggang noch ein wenig Zeit gelassen hätte. Stattdessen hatte sie egoistisch genau das flatterhafte Verhalten an den Tag gelegt, das sie sonst immer Stéphanie vorgeworfen hatte.

Fabienne schloss die Augen, als könne sie so der eigenen Scham entrinnen.

Ein schrilles Pfeifen riss sie aus ihrer Grübelei. Mit dampfenden Rädern und umhüllt von schwarzem Qualm fuhr der Zug ein, der sie Richtung Norden bringen sollte.

Hektisch hievte Fabienne ihren Koffer die drei Stufen ins Abteil hinauf. Weg, sie wollte einfach nur weg von Marseille, wo sie so viel verbrannte Erde hinterlassen hatte.

»Dass dein Besuch in Marseille genau so verläuft, hätte ich dir sagen können«, stellte Yves fest, als sie ihm nach ihrer Rückkehr davon erzählte. Es war spätabends, Lily und die Kinder waren schon im Bett. Als Lily gefragt hatte, ob sie in Marseille eine gute Zeit verbracht habe, hatte Fabienne dies bejaht. Lily war nach ihrer Flucht von ihrem gewalttätigen Ehemann noch immer nervlich angeschlagen, da tat es nicht Not, sie mit den eigenen Sorgen zu belasten.

Fabienne trank schweigend einen Schluck Wasser. »Und nun?«, sagte sie anklagend.

»Was, und nun?« Yves lachte leise auf. »Was geschehen ist, ist geschehen! Man kann nichts im Leben rückgängig machen, auch seine Fehler nicht. Vielleicht solltest du dir einfach abgewöhnen, deine Zelte immer Hals über Kopf abzubrechen?«

»Du tust ja gerade so, als wäre ich eine völlig verantwortungslose Person«, gab Fabienne zurück. »Alles, was ich getan habe, habe ich für Violaine getan – ist das etwa verwerflich?«

Als er ihre niedergeschlagene Miene sah, drückte er in einer aufmunternden Geste ihre Hand. »Natürlich nicht. Stéphanie und Mia sind starke Frauen. Sie werden schon irgendwie zurechtkommen! Und wir müssen auch schauen, dass uns das gelingt.«

»Hast du daran etwa Zweifel?« Fabienne sah ihn stirnrunzelnd an. Noch mehr schlechte Nachrichten?

Er zuckte mit den Schultern. »Zweifel nicht, aber Respekt vor der Aufgabe, die vor uns steht. Das schaffen wir nur, wenn wir alle an einem Strang ziehen.«

»Glaubst du, das ist mir nicht bewusst?«, fragte Fabienne irritiert.

»Ich weiß es nicht, sag du es mir!« Er verstummte kurz. »So schön es hier ist – das Leben als Obstbauer auf einer so einsam gelegenen Farm ist kein Zuckerschlecken. Wir werden schuften müssen wie die Hunde! Allein das Brennholz, das wir benötigen, um gut durch den Winter zu kommen – darum hätte man sich eigentlich schon im Sommer kümmern müssen.«

»Aber hinterm Haus liegen doch riesige Berge von Holz«, sagte Fabienne verwundert. Jeden Tag seit ihrer Ankunft hatte Yves sie in den Wald geschickt, um Totholz zu holen.

Doch er winkte ab. »Das reicht vorne und hinten nicht. Außerdem muss auch noch alles in Stücke gesägt werden. Und bevor es zu regnen beginnt, in einem trockenen Unterstand geschichtet werden. Und wenn ich damit fertig bin, muss ich anfangen, die Obstbäume zu beschneiden, um sie zu verjüngen. Die kläglichen paar Früchte, die dieses Jahr an den Bäumen hingen, reichen für den Lebensunterhalt einer Familie nicht aus. Bis zum nächsten Frühjahr sollten wir auch die Mauern rund um die Obstplantagen neu setzen, damit der Wind nicht so viel von der wertvollen Erde davonträgt, und so weiter.«

»Aber das geht doch auch eins nach dem andern. Außerdem bist du ja nicht allein, Lily und ich sind von Kindesbeinen an harte Arbeit gewöhnt«, sagte Fabienne. »Um Wintervorräte in der Speisekammer anzulegen, ist es wirklich etwas spät, aber ich sorge schon dafür, dass wir nicht verhungern! Sobald es geht, kümmere ich mich auch um das vernachlässigte Gemüsebeet hinterm Haus, dann ist der Tisch spätestens im nächsten Sommer reich gedeckt.« Das Beet hatte einst Yves’ Mutter angelegt, aber inzwischen schaffte sie es nicht mehr, Unkraut zu jäten oder den Boden zu lockern, hatte die alte Frau Fabienne wehmütig erklärt. »Möhren, Tomaten, Bohnen – gleich im März werde ich die ersten Gemüsesamen aussäen, genau, wie meine Maman es früher getan hat.« Sie seufzte wohlig auf. »Ich kann es kaum erwarten …«

»Vor Mitte Mai kannst du hier in den Dombes gar nichts aussäen! Oder willst du deine jungen Pflänzchen etwa den Eisheiligen zum Fraß vorwerfen?«, sagte Yves spöttisch.

»Den Eisheiligen?«, wiederholte Fabienne. Gehört hatte sie das Wort schon einmal, aber sie wusste nicht, was es bedeutete.

»So nennt man die Tage zwischen dem zehnten und fünfzehnten Mai. Sie wurden nach irgendwelchen katholischen Heiligen benannt – mein Vater könnte dir sicher die Namen nennen. Ich weiß nur, dass alle die Eisheiligen sehr fürchten. Denn während dieser Tage ist erfahrungsgemäß leider immer noch mal Nachtfrost möglich. Und wenn das passiert, dann können wir nicht nur das Gemüsebeet vergessen, sondern auch die Obstbäume.«

»Aber … das wäre ja schrecklich!«, rief Fabienne entsetzt. »Wenn wir kein Obst verkaufen können, wovon sollen wir dann leben? Wir brauchen das Geld, um Kleidung zu kaufen oder Hustensaft oder Mehl, Zucker, Eier und vieles andere mehr!« Und sie hatte gedacht, sie könne Violaine hier eine sichere Kindheit bieten …

Yves nickte grimmig. »Außer späten Nachtfrösten gibt es noch einiges mehr, was unsere Ernte gefährden kann – gefräßige Raupen, eine Krankheit namens Mehltau, bei der die Blätter erst weiß wie Mehl werden und dann vertrocknen, oder ein Hagelsturm, der innerhalb einer halben Stunde die ganzen Früchte zerstört. Als Kind habe ich das alles erlebt! Um nicht völlig vom Obstbau abhängig zu sein, haben meine Eltern irgendwann noch die Ziegen angeschafft. Aber die gehören Gregory, nicht uns …« Er schaute Fabienne ernst an. »Als junger Bursche hatte ich auf all diese Unwägbarkeiten keine Lust. Deshalb bin ich damals weggegangen.« Yves nahm ihre Hand. »Aber diese Zeiten sind vorbei. Es geht nicht mehr allein um uns zwei. Wir müssen unsere ganze Kraft dafür einsetzen, dass es allen hier gut geht. Und trotzdem werden wir das gewisse Quentchen Glück obendrein benötigen! Was wir allerdings gar nicht gebrauchen können …«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »… sind sprunghafte Entscheidungen, nur weil man plötzlich auf etwas keine Lust mehr hat.«

Das hatte gesessen!, dachte Fabienne, als sie sich kurze Zeit später vor dem Frisierspiegel fürs Bett herrichtete. Yves’ Worte waren wie eine schallende Ohrfeige gewesen. Sie ließ die Haarbürste sinken, schaute sich prüfend im Spiegel an. War sie wirklich ein egoistisches, sprunghaftes Wesen?

Nachdenklich flocht sie ihre Haare zu einem Zopf und rieb dann die Haarspitzen mit etwas Olivenöl ein. Eins stand fest – sie war keine Heilige! Als sie damals mit gerade einmal siebzehn Jahren durchgebrannt war, hatte sie nicht daran gedacht, dass ihr Vater sich vielleicht um sie sorgen würde. Sie hatte sich nur von ihren Gefühlen leiten lassen, genau wie bei ihrer Affäre mit Noé …

Und dass sie Stéphanie und Mia im Stich gelassen hatte – dafür würde sie sich ewig schämen! Aber woher sollte man auch immer wissen, was richtig und was falsch war? An wem sollte sie sich denn orientieren? Die meisten Frauen ließen es zu, dass ihre Ehemänner die Entscheidungen für sie trafen, nur wenige Frauen lebten so selbstbestimmt wie sie.

Eins war ihr nach Yves’ Gardinenpredigt jedenfalls klar geworden, dachte sie, während sie ins Bett stieg. Mit der »Selbstbestimmung« war es vorbei! Ab jetzt würde sie bei jeder Entscheidung nicht nur an sich, sondern an das Wohl der ganzen Familie denken. Selbst wenn ihr morgen jemand ein verheißungsvolles Angebot als Chefköchin in Lyon machen würde – sie konnte nicht mehr einfach auf und davon! Und selbst wenn ihr das Leben auf der Farm gar nicht behagen sollte – sie würde ausharren müssen. Das war sie Yves, Violaine und allen anderen schuldig.