»Da kommen Sie!« Fabienne und Lucy hüpften wie zwei junge Mädchen aufgeregt auf und ab, während Yves, der Lily vom Bahnhof in Narbonne abgeholt hatte, auf den Marktplatz einbog.
»Ich kann es irgendwie noch immer nicht glauben …«, murmelte Lucy. »Wir drei, nach all den Jahren endlich wieder vereint …«
»Ich kann gerade so ziemlich alles nicht glauben«, flüsterte Fabienne, dann rannte sie um den Wagen herum, noch bevor alle vier Räder stillstanden, und riss die Beifahrertür auf. »Lily! Endlich … Herzlich willkommen!«
»Fabie! Lucy!«
Im nächsten Moment lagen sich die Schwestern in den Armen, lachten, weinten und konnten sich kaum beruhigen.
Grinsend trug Yves Lilys Gepäck – einen Koffer und einen voluminösen Kleidersack – ins Haus. Im Türrahmen stieß er fast mit Violaine zusammen, der Kleidersack rutschte auf den Boden.
»Passt ihr wohl auf – das ist mein Festtagskleid!«, rief Lily und löste sich aus der Umarmung ihrer Schwestern. »Der Taft ist so störrisch, da hilft das heißeste Bügeleisen nicht. Am Ende erscheine ich auf der Hochzeit meines Neffen noch mit verknittertem Rock!«
»Tante Lily, Tante Lily!« Violaine warf sich in Lilys Arme. »Ich habe dich so vermisst …«
»Du lieber Himmel, bist du groß geworden«, sagte Lily und wollte ihre Nichte genauso fest umschlingen wie zuvor ihre Schwestern. »Ich hab dich auch vermisst, mein Engel.«
Doch die Zwölfjährige wand sich wie ein Aal aus Lilys Armen. »Tut mir leid, Tante Lily, ich muss gleich wieder weg. André, sein Vater und ich wollen fischen gehen – magst du mitkommen?«
Lily warf ihren Schwestern einen Blick zu, der ausdrückte: Wer sind André und sein Vater? »Ich kann es zwar kaum erwarten, euer schönes Gruissan kennenzulernen«, sagte sie lächelnd, »aber heute möchte ich erst einmal in Ruhe ankommen.«
Violaine zuckte mit den Schultern, drückte jeder der drei Frauen einen Kuss auf die Wange, dann rannte sie davon.
»Was für ein Wildfang …« Lily schüttelte den Kopf. »Genau wie unsere Zwillinge, die sind auch fast nicht zu bändigen.« Lilys Blick wanderte über den weitläufigen Marktplatz. »Wie schön und sauber hier alles ist! Und dann die eleganten Herrenhäuser … Früher in Narbonne habe ich als Magd in so einem Haus gearbeitet, und jetzt lebt meine eigene Schwester genauso piekfein. Und das mit deinem eigenen Restaurant hat auch geklappt!« Sie wies auf das Restaurantschild des Pourquoi Pas. »Mir scheint, hier in Gruissan habt ihr einen Ort gefunden, wo ihr alle miteinander glücklich sein könnt.«
Fabienne tauschte mit Lucy einen kurzen Blick. Sie hatten beschlossen, Stillschweigen über Fabiennes Schwermut der letzten Monate zu bewahren. Es tat nicht Not, die Schwester zu beunruhigen, nun, wo es ihr, Fabie, schon wieder so viel besser ging.
»Gruissan ist tatsächlich ein wunderbarer Ort«, sagte Fabie deshalb nur und spürte, wie sie tief drinnen Dankbarkeit dafür empfand, genau hier gelandet zu sein. »Und nun lasst uns endlich reingehen! Ich habe eine Quiche gebacken. Bestimmt hast du nach der langen Reise großen Hunger!« Mit wedelnden Händen, als würde sie die Hühner in den Stall treiben, scheuchte Fabie ihre beiden Schwestern ins Haus.
Lily bewunderte das Restaurant gebührend. Davon, dass Pierre Anfang des Jahres alles kurz und klein geschlagen hatte, war nichts mehr zu sehen – alles war schön, so glänzend, so neu! Und auch von dem extra für sie hergerichteten Gästezimmer im oberen Stockwerk war sie hellauf begeistert.
»Wenn ich mich auf Zehenspitzen stelle, kann ich sogar das Meer sehen!«, rief sie. »Ein Jammer, dass Théo und die Kinder nicht mitkommen konnten, keiner von ihnen war bisher je am Meer. Aber sie wegen der Reise aus der Schule abmelden? Dagegen hätte der Direktor gewaltig etwas einzuwenden gehabt! Ich bin froh, dass Théo mir diese Fahrt ermöglicht hat, indem er sich bereit erklärte, sich neben der Arbeit auf der Farm auch noch um die Kinder zu kümmern.« Sie ging zum Bett und strich über die Federdecke, die Lucy mit weißem Leinen bezogen hatte. »Was für ein Luxus … und alles für mich!« Sie seufzte glücklich auf. »Ich werde die Zeit bei euch in vollen Zügen genießen.«
Fabienne und Lucy tauschten erneut einen Blick. Wenn jemand ein bisschen Luxus verdient hatte, dann Lily!
»In den Sommerferien bringst du Théo und die Kinder dann mit. Ihr könntet ein Stelzenhaus von unserem Freund Alain mieten«, sagte Fabienne lächelnd. »Manuel freut sich schon darauf, alle seine Cousinen und Cousins kennenzulernen.«
»Manuel – daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Immer, wenn wir von deinem verlorenen Sohn sprachen, hieß er bei uns Victor. Aber was bedeuten schon Namen …« Lily schaute Fabienne voller Liebe an. »Viel wichtiger ist doch, dass du endlich wieder mit deinem Sohn vereint bist. Und dass er unsere Familie zu seiner Hochzeit eingeladen hat …« Sie seufzte. »Das ist doch alles wie ein Wunder, oder?«
Fabienne holte tief Luft. »Ja, das ist ein Wunder«, sagte sie sanft.
Die einfache Quiche schmeckte so gut wie das aufwendigste Festmahl. Und der Roséwein von den Gruissaner Winzern mundete ebenfalls. Yves verabschiedete sich nach dem Essen mit den Worten, er habe eine Verabredung. Fabienne, die wusste, dass er ihnen in Wahrheit Zeit allein geben wollte, küsste ihn zärtlich.
Die Schwestern kamen kaum aus dem Erzählen und Erinnern heraus, sie lachten, weinten zwischendurch auch einmal, hielten sich immer wieder an den Händen oder strichen sich über die Wangen. Jede hatte tausend Fragen an die anderen und noch mehr Antworten …
»Da müssen wir so alt werden, um uns endlich wiederzusehen«, sagte Lily gerührt, während sie den letzten Rest Wein auf drei Gläser aufteilte.
»Was heißt hier alt? Mit Anfang vierzig gehört eine Frau noch lange nicht zum alten Eisen«, erwiderte Lucy mit gespielter Empörung. »Im Gegenteil – mir gefällt mein Leben heute viel besser als vor zehn oder zwanzig Jahren. Wenn heute irgendein Kerl namens Gregory oder Pierre daherkäme, würden wir nicht mehr auf ihn reinfallen, oder?«
»Das stimmt«, pflichtete Lily ihr aus tiefstem Herzen bei. »Allerdings hätte ich mich immer noch nicht hierhergetraut, wenn Pierre nicht im Gefängnis säße.«
»Keine Sorge – wie es aussieht, bleibt er dort noch ewig«, sagte Fabienne. »Außer dem Überfall bei uns hatte er wohl weitere Straftaten auf dem Kerbholz – entsprechend hoch hat der Richter das Strafmaß angesetzt.«
Der Richter hatte außerdem dafür gesorgt, dass Anfang März Lilys und Pierres Scheidung endlich vollzogen wurde – und das ohne Pierres Einwilligung! Eine Fortsetzung der Ehe mit einem Verbrecher wie Pierre Perdu sei für die Ehefrau nicht mehr zumutbar, hatte er gemeint, nachdem Fabienne ihm den Sachverhalt geschildert hatte.
»Lasst uns über was Schöneres sprechen«, sagte Lily leichthin. »Ich kann es kaum erwarten, Noah und Elodie zu treffen! Ich werde die beiden doch hoffentlich schon vor der Hochzeit sehen, oder?«
Fabienne nickte. »Wenn du magst, fahren wir morgen zu ihnen. Und Vater könnten wir auch besuchen.«
Lily zuckte mit den Schultern – der Besuch bei ihrem Vater war ihr allem Anschein nach nicht ganz so wichtig.
»Zu Noah müsst ihr allein fahren. Bruno und ich haben uns ums Restaurant zu kümmern«, sagte Lucy und klang nicht sonderlich betroffen.
Wie gut Lucy sich in die Rolle der Restaurantleiterin eingefunden hatte, dachte Fabienne nicht zum ersten Mal.
Lily ergriff Lucys Hand und drückte sie fest. »Dein Bruno scheint ja ein unglaublich netter Mann zu sein.«
»Mehr als das – er ist ein Geschenk des Himmels!« Lucy lächelte versonnen, doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Sobald die Scheidung von Gregory vonstatten gegangen ist, wollen Bruno und ich heiraten.«
Fabienne, die gerade die Teller zusammenstellte, fuhr herum. »Davon weiß ich ja noch gar nichts! Wann habt ihr denn das beschlossen?«
»Tja, meine Liebe, du hast in letzter Zeit so einiges nicht mitbekommen«, erwiderte Lucy mit leicht tadelndem Unterton.
Fabienne verdrehte die Augen. »Ist schon gut …«
Lily schaute von einer zur andern, dann rief sie: »Das ist ja wundervoll! Herzlichen Glückwunsch!«
Nachdem sie ein paar Sätze über Lucys und Brunos Pläne gewechselt hatten, räusperte sich Lily. »Ich muss euch auch noch was sagen.«
»Und das wäre?«, fragten Fabienne und Lucy fast wie aus einem Mund.
Lily setzte sich aufrechter hin, holte Luft und erzählte dann: »Théo und ich heiraten ebenfalls, noch in diesem Sommer.« Sie schaute in die sprachlosen Gesichter ihrer Schwestern. »Deshalb ist es mir nicht möglich, in den Sommerferien hierherzukommen. Vielmehr werdet ihr alle zu uns kommen – Manuel und seine Frau sind natürlich auch eingeladen!«
»Drei Hochzeiten in einem Jahr – das gibt’s doch nicht!«, rief Fabienne fassungslos. »Manuel wird Augen machen, wenn er erfährt, dass seine beiden alten Tanten ebenfalls heiraten.«
Lily und Lucy kicherten. »Jetzt fängst du auch noch an mit ›alt‹!«, sagte Lily und drohte Fabienne scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Wir können uns genauso gut verlieben wie die Jungen!«
Lucy trat an die Anrichte, wo während des Restaurantbetriebs die schmutzigen Teller abgestellt wurden, und schnappte sich eine neue Flasche Wein. »Lasst uns auf all die erklingenden Hochzeitsglocken anstoßen«
»Auf die Hochzeitsglocken und auf den Jahrhundertwind!«, rief Fabienne.
»Den … was?«, fragten diesmal Lucy und Lily wie aus einem Mund.
»Als ich in Vichy zur Kur war, habe ich zwei beeindruckende Frauen kennengelernt. Die eine führt ein Weingut in der Champagne, Isabelle heißt sie, und sie meinte, der Jahrhundertwind würde dumme alte Regeln wegblasen und viel Gutes mit sich bringen, vor allem für uns Frauen.« Fabienne lächelte wehmütig. »In Vichy, als ich Isabelle so reden hörte, war ich ein wenig skeptisch. Aber wenn ich nun euch beiden zuhöre – anscheinend gibt es ihn wirklich, den Jahrhundertwind!«
»Auf den Jahrhundertwind!«, rief Lily.
»Auf die guten Veränderungen!«, kam es von Lucy.
Lachend ließen sie die Gläser erklingen.
»Wäre es in Ordnung, wenn ich euch jetzt allein lasse? Ich habe noch ein bisschen zu arbeiten«, sagte Fabienne, nachdem ihr Glas leer war.
»Aber … ich bin doch gerade erst angekommen! Was willst du denn arbeiten? Yves erzählte auf der Fahrt hierher, du würdest die Küche inzwischen Bruno überlassen«, sagte Lily.
»Das stimmt«, bestätigte Fabienne. Die Küche Bruno überlassen – wie unkompliziert sich das, was ihr noch immer schlaflose Nächte bereitete, aus Lilys Mund anhörte. »Meine Arbeit findet derzeit auch eher am Schreibtisch statt. Ich habe angefangen, an einem weiteren Kochbuch zu arbeiten – einem, das sich speziell an junge Bräute wendet. Und das allererste handgeschriebene Exemplar soll Manuels Braut bekommen.«
»Eine schöne Idee! Und sie ist so typisch für dich«, sagte Lily lächelnd. »Aber wirst du denn bis nächsten Samstag fertig damit? Wenn ich daran denke, wie lange du an deinem ersten Kochbuch geschrieben hast …«
»Das, was ich jetzt vorhabe, kann man mit dem Mammutprojekt von damals nicht vergleichen«, erwiderte Fabienne lachend. »Ich will Manuels zukünftiger Frau lediglich eine schöne Auswahl an Rezepten zusammenstellen. Adèle kommt aus einer Senfmacherfamilie – das Senfmachen ist ihre große Leidenschaft. Und Manuel selbst hat auf der väterlichen Austernfarm einen Feinkosthandel aufgebaut«, fügte sie stolz an. »Er verkauft dort so ausgefallene Produkte wie Adèles Hibiskusblütensenf oder rosa Knoblauch!«
»Feinkostwaren? Dann passt mein Hochzeitsgeschenk perfekt!«, rief Lily. »Ich habe für die beiden eine wunderschöne Bonbonniere gewählt und sie randvoll mit kleinen Leckereien aus unserem Fruchtmus gefüllt.« Sie schaute Fabienne an. »Rote Herzen aus Johannisbeermus, orangefarbene Blätter aus Aprikosenmus, zartrosa Blüten aus den ersten Kirschen – deine Idee, die Fruchtpasten mit Ausstechformen aus Blech in Form zu bringen, kommt bei unseren Kunden unglaublich gut an. Unsere süßen Köstlichkeiten liegen in Lyons feinsten Geschäften aus!« Sie klang stolz.
Fabienne schaute ihre Schwester bewundernd an. »Yves hätte keine besseren Verwalter für seine Obstfarm finden können als dich und Théo!«
»Nun ja, wir bemühen uns … Ihr werdet Augen machen, wenn ihr im Sommer die Obstplantagen seht, die wir noch zugekauft haben«, erwiderte Lily. »Die Früchte der Aprikosenbäume, die Théo auf diesen neuen Flächen angepflanzt hat, sind so aromatisch! Ich wette, du wirst verrückt nach diesen Aprikosen sein!«
»Du mit deinem Fruchtmus, Manuel mit seiner Feinkost, Fabie mit ihrem Restaurant – mir scheint, irgendwie sind in unserer Familie alle verrückt nach gutem Essen.« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich koche zwar nur wie eine einfache Hausfrau – aber immerhin liebe ich einen äußerst begabten Koch!«
Die Schwestern brachen in Gelächter aus. Wenn sie noch länger hier saß, würde Adèles Kochbuch bis zur Hochzeit gewiss nicht fertig werden, dachte Fabienne. Doch anstatt aufzustehen, ließ sie es zu, dass Lucy ihr einen weiteren Schluck Wein einschenkte. »Ich habe Manuels Braut ja nur einmal gesehen«, sagte sie, nachdem sie sich zugeprostet hatten. »Aber diese Adèle hat einen äußerst patenten Eindruck auf mich gemacht. Manuel sagt, sie hilft ihrer Mutter gern beim Kochen.« Hoffentlich würden Yves und sie das junge Ehepaar zukünftig wenigstens hin und wieder sehen, dachte Fabienne. Das wäre ihr sehnlichster Wunsch …
Lucy schnaubte. »Das hat gar nichts zu sagen! Meine Mädchen haben mir auch in der Küche geholfen, und doch ist keine ausschließlich eine gute Ehefrau. Meine Große arbeitet als Sekretärin bei einem Rechtsanwalt. Und Claudine hat einen Hutladen eröffnet, man stelle sich das einmal vor …« Sie verdrehte die Augen.
»Dann weht der Jahrhundertwind wohl auch in Toulouse«, sagte Lily grinsend.
»Ich finde es schön, dass die jungen Leute heutzutage ihren eigenen Weg gehen«, sagte Fabienne. »Wenn ich daran denke, wie Vater einst über meinen Kopf hinweg beschlossen hat, dass ich Mamans unbezahlte Hilfskraft bleiben sollte – so etwas wäre heutzutage unvorstellbar! Violaine mit all ihren Träumen von Hühnerfarmen und einem Tierarztstudium würde mir jedenfalls etwas pfeifen, wenn ich auch nur einen Vorschlag in diese Richtung machte! Im Gegensatz zu Maman und mir hat meine liebe Tochter mit Kochen nämlich gar nichts am Hut.«
»Maman … Am elften April hatte sie ihren zweiundzwanzigsten Todestag. Manchmal macht es mir Angst, wie schnell die Zeit rast«, sagte Lucy.
»Wie geht es Vater eigentlich?«, wollte Lily wissen.
»Da musst du Yves fragen, ich war leider schon länger nicht mehr bei ihm«, sagte Fabienne schuldbewusst. Dass sie sich so wenig um ihren Vater kümmerte, bereitete ihr in letzter Zeit immer mehr ein schlechtes Gewissen.
»Ich glaube, er ist einsam«, warf Lucy ein. »Der Tod von Colette Laroque vor zwei Jahren hat ihm schwer zu schaffen gemacht. Ganz gleich, was wir von der Frau hielten – er hatte nun mal sein Herz an sie verloren.«
Einen Moment lang versanken alle drei in ihren Erinnerungen.
Lucy war die Erste, die aufschaute. »Was Mutter wohl sagen würde, wenn sie uns hier so sitzen sähe?«
Erneut folgte Schweigen.
Diese Frage war gar nicht so leicht zu beantworten, dachte Fabienne.