Kapitel 39

Auf halber Strecke hatte Yves eine Reifenpanne. Bis er das Rad getauscht hatte, war es später Nachmittag.

Ausgerechnet heute diese Verzögerung, ärgerte er sich. Er beschloss, sich für die Nacht eine Bleibe zu suchen und seinen Plan morgen in die Tat umzusetzen – für das, was er vorhatte, war es heute sowieso schon zu spät.

Als er am nächsten Morgen in Leucate ankam, war es noch nicht einmal sieben Uhr. Er hatte auf ein Frühstück verzichtet, denn er wollte vor Ort sein, bevor die Fischer – und mit ihnen vielleicht auch Manuel Sarda – hinaus zu den Austernbänken fuhren.

Yves war noch nie in Leucate gewesen. Als die ersten Fischerhütten in Sicht kamen, hielt er an, um sich kurz einen Überblick zu verschaffen. Links von ihm erstreckte sich in den ersten Sonnenstrahlen der Étang de Leucate, zu seiner Rechten gab es eine Art Kanal, der den riesigen Binnensee mit dem Meer verband. Direkt vor ihm befand sich eine kleine Brücke, die den Kanal überspannte. Über sie würde er fahren müssen. Auf der anderen Seite des Kanals lagen die Hütten der Austernfischer, wie Perlen an einer Schnur reihten sie sich aneinander. Es waren einfache Hütten aus Blech und Holz, durch die der Wind an stürmischen Tagen bestimmt ordentlich pfiff. Vor jeder Hütte gab es ein Sammelsurium an Netzen, Tauen, Eimern und Blechwannen. Obwohl alles einen etwas heruntergekommenen Eindruck machte, wirkte das Ganze dennoch irgendwie heimelig. Hier lebten Menschen, die ihre Arbeit liebten, schoss es Yves durch den Kopf, während er im selben Moment registrierte, dass noch alle Boote der Fischer fest vertäut im Wasser lagen. Wie es aussah, war seine Rechnung aufgegangen – noch war niemand hinausgefahren. Falls Manuel nicht ausgerechnet jetzt verreist war, würde er ihn bestimmt antreffen, dachte Yves erleichtert.

Sein Blick schweifte über die Hütten hinweg zu einem Herrenhaus, das ein gutes Stück vom Wasser entfernt lag. Das musste das Zuhause der Familie Sarda sein! So karg und spröde die Landschaft hier vorn am Wasser war, so üppig wirkte der Garten des Herrenhauses.

Die Siedlung der Austernfischer, das Herrenhaus, mittendrin verschiedene Lagerhallen – so groß hatte er sich die Austernfarm nicht vorgestellt.

Der Wind rüttelte an Yves’ Automobil. Und wie salzig es hier roch! Staunend schaute er auf die Berge von Austernschalen, die den Weg, auf dem er jetzt fuhr, säumten. Was für eine fremde Welt …

Mit klopfendem Herzen parkte Yves kurz darauf den Wagen und betrachtete das riesige Herrenhaus, das in einem seltsamen Kontrast zu den ärmlichen Fischerhütten stand, an denen er vorbeigefahren war.

Hier war also Fabiennes Sohn aufgewachsen. Schlecht getroffen hatte der Junge es wahrlich nicht.

Yves zog seine Jacke glatt, dann ging er auf die riesige Eingangstür zu und betätigte den Türklopfer.

»Guten Tag, mein Name ist Yves Mazeau. Ich bin der Ehemann von Fabienne Mazeau, der –«

»Was möchten Sie?« Die Frau, die ihm die Tür öffnete, unterbrach ihn barsch. Sie war hochgewachsen, schlank und ungefähr in Fabiennes Alter. Ihr Blick war unnachgiebig, wachsam.

»Verzeihen Sie meinen frühmorgendlichen Überfall – aber ich muss Ihren Sohn sprechen, es ist dringend«, sagte Yves, und sein Blick war mindestens so standhaft wie der der Frau, bei der Fabiennes Sohn lebte.

Die Frau des Austernzüchters stutzte einen Moment lang. »Ist Ihrer Frau … etwas geschehen?« Sie klang fast erschrocken.

»Um das zu verhindern, bin ich hier«, erwiderte Yves grimmig. »Kann ich nun bitte Ihren Sohn sprechen?«

Sabrine Sarda trat einen Schritt zurück, machte mit ihrer rechten Hand eine auffordernde Handbewegung. »Kommen Sie erst einmal herein!«

Sie geleitete Yves zu einem Tisch, der für das Frühstück von drei Personen gedeckt war. In der Mitte stand eine Platte mit geöffneten Austern. Yves spürte Bitterkeit in sich aufkommen. Da saß die Familie hier zusammen und genoss ihre feinen Austern, während Fabienne sich mit Selbstvorwürfen quälte!

Sabrine Sarda wies auf einen der leeren Stühle. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Yves verneinte.

Sabrine Sarda hob die Achseln und sagte dann: »Manuel wird gleich hier sein. Hätten Sie bitte die Freundlichkeit, mir vorher zu sagen, was Sie von ihm wollen?«

An dieser Frau würde er nicht vorbeikommen, wenn er sich ihren Wünschen nicht fügte, dachte Yves teils bewundernd, teils verärgert. »Es ist so …«, hob er an, dann erzählte er in knappen Worten, wie es um Fabienne stand.

*

Manuel stand noch oben an der Treppe, als er die Stimme seiner Mutter und die eines fremden Mannes hörte. Der Küchenchef des Grand Moulin Perpignon hatte doch erst gegen zehn kommen wollen, um diverse Honige, Käsesorten und natürlich auch Austern zu verkosten. Jetzt war es kurz nach sieben! Und warum hatte Maman den Mann ins Haus gelassen? Normalerweise empfingen sie die Kundschaft draußen bei den Lagerhallen.

Da würde er wohl auf sein Frühstück verzichten müssen, dachte Manuel und straffte die Schultern, bevor er mit einem gewinnenden Lächeln den Salon betrat. Im nächsten Moment starrte er entgeistert den Mann an. Obwohl er ihn damals nur kurz gesehen hatte, hatte er ihn sogleich wiedererkannt. Alles, was mit dem Treffen mit seiner leiblichen Mutter zusammenhing, hatte sich wie Teer in sein Innerstes eingebrannt.

»Was wollen Sie hier?«

»Mein Name ist Yves Mazeau, ich komme aus Gruissan.« Mit geballten Händen, als erwarte er, sich wehren zu müssen, schaute der Mann ihn an.

»Falls Sie Austern für Ihr Restaurant kaufen möchten – die gesamte Ernte ist anderweitig verplant. Suchen Sie sich einen anderen Lieferanten«, sagte Manuel rau.

»Ich will keine Austern – ich möchte, dass du mich nach Carcassonne begleitest. Es gibt etwas, was ich dir zeigen will.«

Manuel schnaubte. »Was wollen Sie? Verzeihen Sie, mein Herr, aber es gibt wirklich nichts auf dieser Welt, was mir ferner läge. Ich –«

»Dass du mit deiner leiblichen Mutter nichts zu tun haben willst, hast du uns bei deinem Besuch im letzten Herbst nur allzu deutlich wissen lassen«, unterbrach Monsieur Mazeau ihn kühl. »Aber so, wie die Dinge liegen, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich um einen Gefallen zu bitten. Und dafür ist es wichtig, dass wir beide nach Carcassonne hinauffahren. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, wäre ich nicht hier!«

Manuel schluckte. »Was soll das heißen?«, fragte er und ärgerte sich über den unsicheren Unterton in seiner Stimme. »Ist Madame Mazeau etwa gestorben?«

»Fabienne lebt, aber es geht ihr nicht gut …« Monsieur Mazeau stand auf, den Schlüssel seines Automobils in der Hand. »Ich könnte deine Unterstützung wirklich sehr gebrauchen.«

Was sollte er »unterstützen«? Er wollte mit Fabienne Mazeau nichts zu tun haben! Manuels Blick wanderte fast hilfesuchend zu seiner Mutter. Warum sagte sie nichts? Seit er, Manuel, den Salon betreten hatte, saß sie mit gefalteten Händen am Tisch und hörte dem Wortwechsel regungslos zu.

»Tut mir leid, aber es kommt gleich Kundschaft aus Perpignon zu einer Verkostung«, sagte Manuel. »Dafür muss ich noch einiges vorbereiten. Davon abgesehen, dass ich nicht mit Ihnen wegfahren will, könnte ich es auch gar nicht. Wenn Sie mich also entschuldigen …« Er nickte seiner Mutter und dem Mann zu, dann wollte er gehen.

»Den Kunden kann dein Vater übernehmen«, ertönte die scharfe Stimme seiner Mutter, die nun ebenfalls aufgestanden war. »Monsieur Mazeau – ich erwarte, dass Sie meinen Sohn wohlbehalten zurückbringen. Die Straßen hinauf nach Carcassonne sind eng und kurvig, bitte fahren Sie entsprechend vorsichtig!« Sie reichte dem Mann zum Abschied die Hand.

»Aber … Maman!« Verwirrt und entsetzt zugleich schaute Manuel seine Mutter an. »Du kannst doch nicht ernsthaft von mir verlangen, dass ich diesen wildfremden Mann wohin auch immer begleite! Carcassonne ist ein gutes Stück entfernt, womöglich müssten wir sogar irgendwo übernachten!«

»Ich verlange von dir, dass du dich wie ein anständiger Mensch benimmst. Denn dazu habe ich dich erzogen.« Sie schaute ihn streng an. »Auch wenn du es nicht hören willst – dass du diese Fahrt mit Monsieur Mazeau unternimmst, bist du deiner leiblichen Mutter schuldig. Und jetzt geh und pack eine Tasche.«

Monsieur Mazeau schwieg die meiste Zeit. Und er, Manuel, fragte nichts. Er hätte nicht einmal gewusst, welche Fragen er stellen sollte! Dieser ganze Ausflug war so … verwirrend!

Sie fuhren dieselbe Strecke in die Berge hinauf, die er gefahren war, als er Stéphanie de Carneval im Château Morel aufgesucht hatte. Eine Zeit lang führte die Straße entlang der Eisenbahnlinie, dann wieder kreuzten sie den Fluss Aude oder den Canal du Midi.

Es war längst Nachmittag, als sie in Carcassonne ankamen. Manuel knurrte mächtig der Magen – sie hatten unterwegs nur einen kleinen Imbiss zu sich genommen!

Monsieur Mazeau parkte sein Automobil nicht etwa vor einem Restaurant, wo sie sich hätten stärken können, sondern vor der Gendarmerie der Stadt. Er zeigte auf das schwere Eingangsportal. »Bitte komm mit!«

»Was soll das alles?«, hätte Manuel am liebsten gerufen und sich widersetzt. Doch damit hätte er das Ganze nur unnötig in die Länge gezogen. Besser, er brachte was auch immer rasch hinter sich.

In der Amtsstube saßen drei Männer hinter ihren Schreibtischen. Einer von ihnen hatte wohl gerade einen Scherz gemacht, denn die drei lachten kameradschaftlich miteinander. Als sie die beiden Besucher im Türrahmen sahen, hörte das Gelächter jedoch schlagartig auf.

Beklommen trat Manuel von einem Bein aufs andere. Er hatte noch nie etwas mit der Gendarmerie zu tun gehabt und fühlte sich äußerst unwohl. Fast Schutz suchend stellte er sich hinter Yves Mazeau.

»Bonjour, mein Name ist –«, hob dieser an, wurde aber sogleich von dem älteren Gendarmen unterbrochen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er seufzend. Wahrscheinlich war er der wichtigste Mann, denn sein Schreibtisch war der größte. »Monsieur Mazeau – hat Ihre Frau Sie geschickt?« Er wandte sich an seine beiden jüngeren Kollegen. »Der Herr kommt wegen des Kindesraubs im Château Morel – ihr erinnert euch vielleicht, wir haben erst kürzlich darüber gesprochen. Die Sache jährt sich dieses Jahr zum zweiundzwanzigsten Mal.«

Der jüngere Gendarm, der dem älteren direkt gegenübersaß, nickte. »Sie haben mich angewiesen, die Akte in den Keller zu tragen. Soll ich sie holen?«

Welche Akte?, fragte Manuel sich verständnislos.

»Das ist nicht nötig.« Der Ältere winkte ab. »Es tut mir sehr leid, Monsieur Mazeau, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir leider weiterhin keine neuen Erkenntnisse gewonnen haben … Richten Sie Ihrer Frau bitte einen Gruß von mir aus!«

»Vielleicht sollten Sie die Akte doch aus dem Keller holen«, sagte Monsieur Mazeau und schaute von einem Gendarmen zum andern. »Nämlich, um sie mit einem Vermerk zu versehen, dass die Suche endgültig eingestellt werden kann.« Er zog Manuel an seine Seite. Widerwillig ließ er es zu. »Das hier ist Fabiennes Sohn!«

»Du lieber Himmel …« Der ältere Gendarm schaute ihn ungläubig an, dann bekreuzigte er sich. »Das gibt’s doch nicht! Nach all den Jahren? Aber … wie …« Er schüttelte fassungslos den Kopf und wandte sich zu seinen Kollegen um, doch auch sie starrten Manuel an, als hätten sie einen Geist vor sich. Ihm wurde immer unbehaglicher zumute.

»Geboren als Victor Durant, doch heute heißt der junge Mann Manuel Sarda«, berichtete Monsieur Mazeau. »Er ist auf einer Austernfarm am Étang de Leucate aufgewachsen. Seine Familie wusste allem Anschein nach nicht, dass er als bébé geraubt worden war.«

»Aber … aber … das ist unglaublich!« Der ältere Gendarm sprang auf, einen Moment lang lief er wie ein Tiger in einem zu kleinen Käfig auf und ab. Dann wandte er sich an Monsieur Mazeau. »Sie müssen mir genau erzählen, wie Sie den Jungen gefunden haben! Ihre Frau – sie muss überglücklich sein!« Ohne Monsieur Mazeaus Antwort abzuwarten, trat der Gendarm an Manuel heran, legte beide Hände auf seine Oberarme. Unwillkürlich wich Manuel ein Stück zurück. »Ein Wunder! Es ist ein Wunder geschehen!« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab bei jedem Wort. »All die Jahre haben wir nach dir gesucht, und nun stehst du auf einmal vor uns, als erwachsener Mann …« Seine Stimme klang fast tränenerstickt. Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Jeder noch so winzigen Spur sind wir nachgegangen! So manchen Fall haben wir über die Jahrzehnte als ungeklärt ad acta legen müssen, nicht so deinen – das hatte ich deiner Mutter versprochen! Doch trotz all unserer Bemühungen hat sich nie der geringste Hinweis auf deinen Verbleib ergeben.« Sein Blick löste sich von Manuel, war einen Moment lang in die Ferne gerichtet. »Jahr für Jahr ist deine Maman hier in Carcassonne aufgetaucht, ihr Blick voller Hoffnung, ganz gleich, wie verzweifelt sie auch war. Anfangs kam sie allein, später mit Monsieur und einmal sogar mit ihrer kleinen Tochter.« Er lächelte wehmütig. »Jedes Geschäft in Carcassonne hat sie abgeklappert, die Redakteure der Tageszeitung hat sie aufgesucht, den weiten Weg bis zum Château Morel hat sie auf sich genommen, die Bauernhöfe in der Umgebung besucht! Als Letztes kam sie immer zu uns, gerade so, als würde sie die größte Hoffnung auf uns setzen.« Er schaute seine Kollegen an. »Ich habe euch mehr als einmal von Fabienne Mazeau erzählt. Es hat mich geschmerzt, ihr jedes Mal ein Stück dieser Hoffnung nehmen zu müssen …«

Die beiden jüngeren Gendarmen nickten.

Manuel runzelte die Stirn. Wovon redete der Gendarm die ganze Zeit? Er trat wieder einen Schritt nach vorn und sagte: »Verzeihen Sie, aber kann es sein, dass Sie irgendwelche Fälle miteinander verwechseln? Meine leibliche Mutter hatte keinerlei Interesse an mir – sie hat gewiss nicht nach mir gesucht!«

Die drei Gendarmen schauten ihn an. Die rührselige Stimmung verflog, schlagartig war die Luft zum Schneiden dick. Was ist denn nun schon wieder?, fragte sich Manuel und kam sich vor wie jemand, der sich für eine nicht begangene Tat rechtfertigen musste.

Der ältere Gendarm sagte schließlich in scharfem Ton: »Wie bitte?«

»Sie müssen sich täuschen«, wiederholte Manuel. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Madame Mazeau kurz nach meinem Verschwinden nach Lyon gezogen ist. Sie kann also gar nicht mehr nach mir gesucht haben!«

»Lyon, Marseille, eine Farm in den Dombes – deine leibliche Mutter ist viel herumgekommen, sie hat an verschiedenen Orten gelebt, das stimmt. Aber das hielt sie nicht davon ab, nach dir zu suchen, Junge!«, sagte sein Gegenüber entrüstet. »Wie kommst du nur auf den dummen Gedanken, dass sie es nicht getan hat?«

»Ich habe sie auch einmal erlebt – wenn es hätte sein müssen, wäre Madame Mazeau um die ganze Welt gereist, um ihren Sohn zu finden, das schwöre ich, Junge!«, sagte der Gendarm, dessen Schreibtisch am Fenster stand.

»Ganz genau!«, bestätigte der ältere. »Diese Frau hat keine Mühen und Kosten gescheut, um dich wiederzufinden. Als ich ihr einmal sagte, ob es nicht besser wäre, das Geschehene endlich zu akzeptieren und die Suche nach dir einzustellen, hat sie mich angeschaut, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Statt aufzugeben hat Madame Mazeau danach mit Zeitungsannoncen nach dir gesucht! Also – wehe, du wagst es, noch mal zu behaupten, deine leibliche Mutter hätte kein Interesse an dir – dann bekommst du trotz deines Alters eine Backpfeife von mir!«