Kapitel 42

Leucate, 16. Mai 1903

Ausgerechnet heute musste dieser heftige Wind wehen, dachte Sabrine Sarda, als sie das Fenster öffnete, um einen Blick auf die Terrasse zu werfen. Über ein Dutzend Männer war damit beschäftigt, Tische und Bänke aufzustellen. Der Florist, der den Blumenschmuck brachte, war auch schon erschienen. Lediglich von dem traiteur, der das Büfett liefern sollte, war noch nichts zu sehen. Aber das machte nichts – bis zum Festmahl war es noch lange hin. Zuvor fand die Trauung in der Kirche von Leucate statt, dann der Champagnerempfang, und erst danach war das Essen geplant.

Der ganze Garten stand in herrlicher Blüte, auch ohne den extra georderten Blumenschmuck gab alles von der Terrasse aus ein prachtvolles Bild ab – die Hochzeit konnte nur wunderbar werden, dachte Sabrine glücklich. Zu ihrem Leidwesen hatte Manuel darauf bestanden, ihre ursprüngliche Gästeliste von über zweihundert Gästen auf knapp neunzig Personen zu verringern. Aber vielleicht war das gar nicht so schlecht – so konnte sie als Gastgeberin sich noch besser um alle kümmern.

Es war nicht das erste Mal, dass sie im Herrenhaus der Austernfarm ein großes Fest feierten, und entsprechend eingespielt liefen die Vorbereitungen ab. Jeder wusste, was zu tun war. Sobald Sabrine sich hergerichtet hatte, würde sie trotzdem nach unten gehen und nach dem Rechten sehen. Vertrauen war gut – Kontrolle war besser!

Zufrieden schloss sie das Fenster und schaute hinüber zu ihrem Mann, der noch auf dem Bett saß und seine Socken anzog. »Heute ist es also so weit …«, sagte sie leise. »Manuels großer Tag.«

Er nickte. »Ich habe die halbe Nacht wach gelegen, so viele Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen. Unser Sohn … Jetzt geht er seine eigenen Wege.«

Sabrine Sarda hob die Brauen. So nachdenklich kannte sie ihren Mann gar nicht. Sie seufzte tief auf. »Ich frage mich die ganze Zeit, ob es nicht doch ein Fehler war, Fabienne Mazeau und ihre Familie einzuladen. Und dass Manuel auch noch darauf bestand, dass die ganze Blase zwei Stunden vor allen anderen Gästen hier eintrifft …« Sie schüttelte missfällig den Kopf. Wie sie ihren Freunden und Geschäftspartnern die Anwesenheit der Mazeaus erklären sollte, war ihr noch schleierhaft. Vielleicht war es das Beste, sie würde gar nichts dazu sagen? So oder so würde es Gerede geben …

»So können wir uns wenigstens vorab in Ruhe ein bisschen kennenlernen. Manuel sind diese Leute nun mal wichtig. Da ist es doch klar, dass er sie zu seiner Hochzeit einlädt«, erwiderte Émile.

»Wichtig – das ist es ja, was mir Angst macht! Diese ganzen Tanten, Onkel und Cousinen, dazu noch die kleine Schwester – damit können wir nicht konkurrieren, Émile!« Sie trat ans Bett und setzte sich neben ihren Mann. Wenn Fabienne Mazeau wenigstens eine schreckliche Person gewesen wäre! Aber nein, das Gegenteil war der Fall – Manuels leibliche Mutter war patent, gefühlvoll und grundehrlich, das hatte sie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen sofort gespürt. »Was, wenn Manuel die Mazeaus irgendwann lieber hat als uns?«, murmelte sie vor sich hin.

»Das wäre nur gerecht …«

Sabrine fuhr zu ihrem Mann herum. »Gerecht? Was redest du denn da?« Für solchen Blödsinn hatte sie keine Zeit. Sie wollte aufstehen und zur Frisierkommode gehen, doch Émile packte sie fest am linken Handgelenk.

»Ich muss mit dir reden, Sabrine.«

»Ausgerechnet jetzt? Ich habe noch so viel zu tun.« Wie ernst er dreinschaute – geradezu düster! Sie entwand sich seiner schmerzhaften Umklammerung.

»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll …« Hilflos warf er beide Hände in die Luft. Seine Schultern sackten nach unten, er stieß die Luft aus, aber es kam kein weiteres Wort.

»Jetzt rede schon!«, fuhr Sabrine ihn an. Sein dumpfes Schweigen war fast unheimlich.

Émile schaute sie gequält an. »Damals, als unser eigener Sohn starb … Es brach mir das Herz, zu sehen, wie du vor lauter Trauer fast verrückt geworden bist. In meiner Not vertraute ich mich eines Tages Stéphanie an –«

»Stéphanie? Du hast ausgerechnet mit Stéphanie über mich gesprochen?«, unterbrach Sabrine ihn schrill.

Er nickte unglücklich. »Ich hatte doch sonst niemanden. Stéphanie hörte mir zu, das tat gut. Als sie dann auch noch sagte, sie habe eine Idee, wie wir unser Leid hinter uns lassen könnten …« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Das erschien mir wie ein Wink des Himmels!«

Noch bevor er auch nur einen weiteren Ton gesagt hatte, ahnte Sabrine, was kommen würde. »Stéphanie Morel hat Fabienne das Kind weggenommen? Für uns?« Hysterie schwang in ihrer Stimme mit. Sie schaute ihren Mann fast flehentlich an. »Es gab gar keinen Pfarrer, der dir das Kind gebracht hat?«

Émile schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich weiß, ich hätte in den Kindesraub niemals einwilligen dürfen!«, sagte er tränenerstickt. »Aber als Stéphanie meinte, wir würden der ledigen Mutter einen Gefallen tun, wollte ich ihren Worten zu gern glauben. Dabei wusste ich tief im Innern, dass wir ein Verbrechen begehen. Aber ich wollte dich endlich wieder glücklich sehen!« Er schluchzte laut auf.

Wie vor den Kopf geschlagen saß Sabrine da. Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf, keiner ergab richtig Sinn. »Aber … warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Warum hast du mich all die Jahre glauben lassen, dass Manuel ein Findelkind war?«

»Du warst damals so durcheinander, Sabrine, da wollte ich dich schützen«, erwiderte Émile unglücklich. »Du hast dir anfangs sogar eingebildet, jemand habe dir unseren verstorbenen Sohn zurückgebracht.« Er seufzte tief auf. »Einerseits machte es mir Angst, dass du dich so in diesen Gedanken verrannt hattest. Andererseits war ich froh, dass es so war. So musste lediglich ich mich mit Schuldgefühlen herumschlagen. Und du warst wieder glücklich!«

Sabrine hatte das Gefühl, als habe ihr jemand mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. »Und warum musst du mein Glück dann ausgerechnet heute zerstören, indem du mir die Wahrheit beichtest?«, schrie sie Émile an. »Als hätte ich nicht schon genug um die Ohren!« Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte vor Verzweiflung, Angst und Zorn losgeheult. Oh Gott, wie sollte sie Fabienne Mazeau jemals wieder unter die Augen treten, nun, da sie wusste, dass ihr eigener Mann in die Entführung verwickelt gewesen war?

»Wann, wenn nicht heute?«, sagte Émile, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. »Und es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss.« Er holte tief Luft. »Als Manuel acht Jahre alt war, tauchte eines Tages ein Mann hier auf. Er hieß Noé –« Schon zitterte seine Unterlippe erneut verdächtig.

»Émile, wenn du weiter beichten gehen willst, dann geh in die Kirche! Ich will von diesen alten Geschichten nichts mehr hören.« Abrupt stand Sabrine auf. »Was geschehen ist, ist geschehen. Das Leben wird nun mal vorwärts gelebt – niemand von uns kann die Vergangenheit rückgängig machen. Und wenn es tausend Mal falsch war, was du getan hast – Manuel ist und bleibt unser Sohn!« Sie bebte am ganzen Leib vor innerer Erregung. Beruhige dich, ermahnte sie sich, heute war ein kühler Kopf wichtiger denn je. Und das nicht nur bei ihr, sondern auch beim Vater des Bräutigams.

Sie trat erneut an ihren Mann heran, schaute ihn ernst an. »Es war gut, dass du dein Gewissen mir gegenüber entlastet hast, ich bin schließlich deine Frau, du kannst mir vertrauen«, sagte sie so sanft wie möglich. Trotzdem – warum hast du nicht einfach weiter schweigen können?, dachte sie wütend im selben Moment. »Aber das, was du gesagt hast, muss unter uns bleiben, verstehst du? Solltest du dich jemals auch nur mit dem Gedanken tragen, Manuel die Wahrheit zu sagen, bring ich dich vorher um!«

Nach einem kurzen Kontrollrundgang, bei dem sie sich vergewissert hatte, dass die Hochzeitsvorbereitungen ihren guten Gang nahmen, begab sich Sabrine in die Hände des coiffeurs, den sie extra für diesen Tag aus Perpignon hatte kommen lassen.

Normalerweise hätte sie es sehr genossen, den Geschichten voller Klatsch und Tratsch zu lauschen, die der Friseur mitbrachte. Doch immer wieder huschten Gedanken an das Gespräch mit Émile durch Sabrines Kopf. Hoffentlich würde sie vor Fabienne die Fassung bewahren können – nun, wo sie wusste, dass ihr Mann von Anfang an in die unglückselige Geschichte verwickelt gewesen war. Das Letzte, was sie heute brauchten, waren weitere Dramen!

Zwei Stunden später war Sabrines aufwendige, voluminöse Hochsteckfrisur fertig. Jede Locke, jede Strähne saß einfach perfekt.

Und genauso perfekt musste die Maske sein, die sie heute trug. Es reichte, dass Émilie ihr den Tag verdorben hatte – sie würde sich nichts davon anmerken lassen.

Als sie den coiffeur bezahlt und verabschiedet hatte, war es kurz vor elf. Den Großteil der Gäste würden sie erst um ein Uhr vor der Kirche begrüßen. Doch Fabienne und ihre Familie würden demnächst schon kommen, ein kleiner Willkommenstrunk stand dafür schon bereit.

Sollte sie ihr Festtagskleid jetzt schon anziehen oder mit dem Ankleiden noch etwas warten? Fast zärtlich strich sie über die Robe, die sie sich hatte anfertigen lassen. Die Seide war erdbeerfarben, der V-förmige Ausschnitt von Aberhunderten kleiner Perlen eingefasst. Sie würden perfekt zu den Perlenohrringen passen, die Émile ihr im letzten Jahr zur Silberhochzeit geschenkt hatte!

Letztes Jahr. Das Jahr davor. All die Jahre davor hatte Émile sie angelogen! Weil er sie schützen wollte. Sie trat an den Frisiertisch, setzte sich, starrte ihr Spiegelbild an.

Es stimmte, nach dem Tod ihres Kindes war sie sehr … anfällig gewesen. Welcher Mutter wäre es anders gegangen? Doch nachdem man ihr Manuel in die Arme gelegt hatte, hatte sich ihre Seele schnell erholt. Dieses unwahrscheinliche Glücksgefühl von damals – das würde sie nie vergessen. Aber hätte ihr Glück auch gehalten, wenn Émile ihr erzählt hätte, wie das Kind wirklich zu ihnen gekommen war? Mit der Geschichte vom Findelkind, das völlig durchnässt gefunden worden war, hatte sie kein Problem gehabt. Die Wahrheit jedoch – die hätte sie wahrscheinlich nicht verkraftet.

Ach Émile, dachte sie, du kennst mich zu gut … Einen Moment lang war Sabrine kurz davor, in Tränen auszubrechen, doch dann riss sie sich zusammen. Genug der alten Geschichten! Heute war ein wichtiger Tag für Manuel. Und sie, seine Mutter, wollte ihm zur Seite stehen.

Sabrine war gerade dabei, die Perlenohrringe anzulegen, als jemand hektisch an ihre Schlafzimmertür klopfte.

Ohne auf Sabrines »Herein!« zu warten, trat ihre Köchin Celine ein. »Madame, es gibt ein Problem!«, stieß sie atemlos hervor.

Ein Problem. Nur mit Mühe unterdrückte Sabrine ein enerviertes Kopfschütteln. »Da wurden Dutzende von Leuten von mir engagiert, um diesen Tag vorzubereiten. Und du kommst ausgerechnet zu mir, damit ich ein Problem löse?« Sie wies auf den Ohrschmuck und ihr Kleid. »Ich bin beschäftigt, siehst du das nicht?«

Auf den Wangen der alten Köchin zeigten sich hektische rote Flecken, als sie sagte: »Das ist mir sehr wohl bewusst, Madame. Allerdings befürchte ich, dass dieses Problem niemand lösen kann, nicht einmal Sie …«

*

Fabienne, Yves und Violaine, Lucy und Lily – das Gewicht von fünf Passagieren war recht viel für Yves’ Wagen. Konzentriert und mit aller Kraft musste er das Lenkrad festhalten. Ein Unfall wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, dachte Fabienne nervös. Auch die andern waren angespannt.

»Erinnerst du dich noch daran, wie wir zwei letztes Jahr um diese Zeit die Austernfarm besuchen wollten?«, flüsterte Lucy Fabienne ins Ohr, als Yves über die Brücke fuhr, von der aus man die ersten Fischerhütten der Austernfarm sehen konnte.

Fabienne nickte. Émile Sarda hatte keine Zeit für sie gehabt und sie ziemlich barsch wieder weggeschickt. Damals hatte sie nicht einmal geahnt, dass ihr Sohn ausgerechnet hier zu Hause war …

»Eine Austernfarm! Wasser, wohin man schaut! Wer hätte gedacht, dass dein Sohn in solch einer ungewöhnlichen Umgebung aufwächst?«, sagte Lily und schaute sich verwundert um. »Wie salzig es hier riecht. Und dann dieser starke Fischgeruch!« Sie rümpfte die Nase. »Da ist mir der Duft unserer Pfirsiche lieber!«

Fabienne und Yves lachten. Kurz darauf fuhr Yves vor dem Herrenhaus vor.

Als Fabienne aus dem Wagen ausstieg, klopfte ihr Herz wie verrückt. Lieber Gott, lass den Tag gut werden, betete sie stumm.

Yves legte Fabienne einen Arm um die Schulter. »Hast du dir deinen vierzigsten Geburtstag so vorgestellt?« Grinsend zeigte er auf die Menge der weiß gedeckten Tische auf der Terrasse links von ihnen. Von dem Vorplatz, auf dem sie geparkt hatten, führte ein roter Teppich direkt auf den Eingang der Terrasse zu – das schmiedeeiserne, halbrunde Tor war über und über mit schneeweißen Bändern, Efeuranken und weißen Rosen verziert worden.

»Ist das schön …«, hauchte Fabienne. Ihr kam noch immer alles wie ein Traum vor. Manuel, die Hochzeit, sie alle zusammen … Wahrscheinlich würde sie in Tränen ausbrechen, wenn sie ihn in seinem Hochzeitsfrack sah …

»Noch viel schöner seid ihr vier Damen!«, sagte Yves überschwänglich.

Die Schwestern lachten, Violaine hingegen, die gegen Komplimente immun war, verzog keine Miene.

»Du musst dich aber auch nicht verstecken«, erwiderte Fabienne und spürte, wie die Anspannung der letzten Tage und der Autofahrt endlich einer freudigen Erwartung wich.

Es stimmte – sie sahen alle aus wie die besten Versionen ihrer selbst! Yves in seinem Frack, seinem exakt gezogenen Haarschnitt. Lily in einem farbenfrohen Kleid aus changierendem Taft, in dem sie aussah wie einer ihrer reifen Pfirsiche. Lucy trug eine dunkelblaue Robe und hatte die Haare in einen eleganten Chignon gelegt. Sogar Violaine trug ihr schönstes Kleid! Und Fabienne hatte ein Kostüm gewählt, in einem warmen Kupferton, der zu ihren braunen Haaren passte. Es war das erste Mal seit ihrem Kuraufenthalt, dass sie sich wieder so hübsch gemacht und frisiert hatte.

Seine Mutter würde auf formal-eleganter Kleidung bestehen, hatte Manuel gesagt, als er die offizielle Einladung vorbeibrachte. Ihm und Adèle hingegen wären die Gäste auch in einfachem Leinen willkommen, hatte er entschuldigend angefügt.

Fabienne hatte schmunzelnd erwidert: »Mach dir keine Sorgen – die Menschen lieben Hochzeiten auch deshalb so sehr, weil sie sich endlich einmal hübsch herrichten können.«

»Ich kann es kaum erwarten, die vielen Austern zu sehen!«, rief Violaine und hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. »Ich werde sie genauestens untersuchen und dann darüber einen Aufsatz schreiben, so wie Mademoiselle Truffle es vorgeschlagen hat!«

Fabienne hob die Brauen. »Der Vorschlag deiner Lehrerin in allen Ehren – aber für eine Lehrstunde hat heute niemand Zeit«, sagte sie. »Wehe, du belästigst jemanden mit deinen Fragen!«

»Schaut nur, da kommen Noah, Vater und Elodie angefahren!«, rief Lily, die ihre Bonbonniere wie einen Schatz in beiden Händen hielt. »Und die beiden jungen Herrn im Automobil dahinter … Oh Gott, das sind Guy und Paul. Ich habe erwachsene Neffen, man stelle sich das einmal vor!«

Das Auto war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, als Elodie die Tür aufstieß und heraussprang.

»Lily!«

»Guten Tag, Elodie! Noah! Und Vater …«

Freudentränen flossen, als Lily ihren Bruder und ihre Schwägerin und den Vater umarmte.

Yves und Fabienne, die danebenstanden, tauschten einen Blick. So viel Glück, so viel Freude …

»Und, Guy? Wie fühlt es sich an, endlich wieder alle Kinder um sich zu haben?«, sagte Yves und legte seinem Schwiegervater freundschaftlich einen Arm um die Schulter.

»Jetzt fehlt nur noch mein Hugo«, sagte Guy so leise, dass Fabienne sich fragte, ob sie richtig gehört hatte. Früher hatte es doch immer »Hugo, der Verräter« geheißen, und das nur, weil ihr Bruder zur Eisenbahn gegangen war anstatt Schleusenwärter zu werden wie sein Vater.

»Ein stattliches Zuhause hat dein Herr Sohn!«, sagte Lucy in dem Moment zu ihr, und ihr Blick wanderte zum Herrenhaus. »Bin gespannt, ob wir dieses Mal freundlicher begrüßt werden als beim letzten Mal«, flüsterte sie.

Fabienne verzog den Mund. »Musst du mich ausgerechnet jetzt daran erinnern?«

Sie hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als die Tür des Herrenhauses aufgerissen wurde. Vor ihnen stand, kreidebleich im Gesicht, Sabrine Sarda. »Ach, Sie … sind es! Ich dachte, der traiteur wäre doch noch gekommen …« Sie stöhnte laut auf. »Mon dieu …«

Fabienne trat einen Schritt vor. »Ist alles in Ordnung, Madame Sarda? Falls wir zu früh sind … wir könnten noch ein wenig spazieren gehen.« Sie zeigte vage in Richtung des Étang.

Die Frau des Austernzüchters schaute Fabienne an. »Es ist etwas Schreckliches geschehen! Und das ausgerechnet heute …«, platzte es dann aus ihr heraus.

Fabienne schlug unwillkürlich ihre rechte Hand auf die Brust. »Ist etwas mit Manuel?«

»Um Gottes willen, nein!« Die Frau des Austernzüchters bekreuzigte sich. »Der traiteur, der das kalte Büfett hätte liefern sollen – sein Geselle war gerade da. Anscheinend ist der Mann so krank, dass er den Auftrag nicht hat ausführen können. Das heißt, wir haben für unsere neunzig Hochzeitsgäste nichts zu essen …« Sabrine Sarda schluchzte, dann brach sie in heiße Tränen aus.

Einen Moment lang verweilten alle Anwesenden regungslos wie die Figuren in einem Scherenschnitt.

Fabienne war die Erste, die sich aus der Schreckstarre befreite. »Neunzig Gäste – das müsste zu schaffen sein, oder?«, sagte sie leise zu Lucy, die schulterzuckend nickte. »Yves, Lily, Lucy – seid ihr dabei?«

»Was für eine Frage«, sagte Lily. »Sag uns einfach, was wir tun sollen!«

Fabienne hob die Brauen. »Das weiß ich selbst noch nicht. Es muss uns gelingen, neunzig Gäste satt zu bekommen. Niemand hat so viele Vorräte im Haus, von daher müssen wir wahrscheinlich als Erstes Lebensmittel besorgen.« Sie warf Manuels Mutter, die sich gerade in ein Taschentuch schnäuzte, einen ermutigenden Blick zu.

»Auf der Fahrt hierher habe ich ein paar Marktstände gesehen. Schreib auf, was du brauchst, dann fahren Noah und ich los«, sagte Yves.

Fabienne warf ihm einen dankbaren Blick zu. Wann in ihren gemeinsam verbrachten Jahren hatte sie sich einmal nicht auf ihn verlassen können? Sie vermochte sich an keinen Tag zu erinnern.

»Lasst uns zuerst die vorhandenen Vorräte sichten!«, sagte Fabienne.

»Und dann brauchen wir Schürzen!«, fügte Lucy geschäftig an.

»Genau! Ich will mir keinesfalls mein schönes Kleid schmutzig machen«, sagte Lily.

Sabrine Sarda schaute von einer Frau zur andern. »Vorräte, Schürzen – was haben Sie vor?«

Auf Fabiennes Stirn zeigte sich eine resolute Falte. »Wir kochen jetzt das beste Festmahl, das sich ein Hochzeitspaar wünschen kann!« Resolut krempelte sie die Ärmel ihres Kleides hoch, dann schaute sie in die Runde. »Kein Wort zu Manuel und seiner Braut! Die beiden sollen ihren Tag in vollen Zügen und ohne Sorgen genießen.«

Alle nickten zustimmend.

»Gut! Bringen Sie mir bitte ein Stück Papier und etwas zum Schreiben«, wies Fabienne die Hausherrin an. »Sobald meine Liste fertig ist, fahren die Männer zum Einkaufen.« Sie schaute Yves und Noah an. »Nehmt Violaine mit, dann kann sie hier nichts anstellen. Wo ist die Küche?« Schon hatte sie sich wieder zu Sabrine umgewandt.

Die Küche lag im Untergeschoss des Herrenhauses, trotzdem war sie groß, hell und sauber. Arbeitsflächen gab es auch genügend, erkannte Fabienne mit einem Blick.

Die Köchin der Sardas, die bei ihrem Eintreten wie ein Häuflein Elend auf einem Schemel gesessen hatte, sprang angesichts der drei Schwestern hektisch auf. »Ich bin Celine – wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Mein Name ist Fabienne Mazeau. Ich bin auch Köchin. Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich gern Ihre Küche in den nächsten Stunden übernehmen«, sagte Fabienne so bestimmt, dass keiner der Anwesenden bezweifelte, dass es sich um eine Anweisung und nicht um eine Frage handelte.

Die ältere Köchin schaute Fabienne an, als habe sie das achte Weltwunder vor sich. »Ja …«

»Funktioniert der Herd?«, fragte Fabienne und staunte selbst darüber, wie ruhig sie sich fühlte. Ruhig und konzentriert und … tatkräftig!

Celine nickte. »Aber ja, Madame!«

»Ist genügend Holz zum Anfeuern da?«

»Ja, Madame!«

»Gibt es genügend Servierplatten und Schalen?«

Eilfertig riss Celine mehrere riesige Schränke auf, in denen sich robustes weißes Geschirr, aber auch feinstes Porzellan stapelte. »Auf dem Dachboden gibt es noch mehr«, sagte sie.

»Sehr gut. Dann zeigen Sie mir jetzt bitte die Vorräte.« Fabienne wollte der Privatköchin schon folgen, als sie spürte, wie jemand sie am Ärmel festhielt.

»Bist du dir sicher, dass du das kräftemäßig schaffst?«, fragte Lucy leise. Ihr Blick war besorgt. »Du hast schon so lange nicht mehr in der Küche gestanden. Nichts auf der Welt ist es wert, dass du vor Erschöpfung wieder zusammenbrichst …«

»Wieso soll Fabie beim Kochen zusammenbrechen?« Lily runzelte die Stirn. »Wovon redet ihr?«

»Ach, Lucy hat immer Angst, dass ich zu viel arbeite«, sagte Fabienne rasch und warf Lily einen beruhigenden Blick zu. »Und wenn es mich alles kostet – Manuel und seine Hochzeitsgäste werden satt und zufrieden von der Tafel aufstehen«, fügte sie hinzu, dann schaute sie ihre Schwestern an. »Wenn jemand das hinbekommt, dann wir drei!«

Ein Sack Möhren, zwei Säcke Kartoffeln, zwei Dutzend Eier, Käse, frischen Rahm und ein paar Salatköpfe – so zufrieden Fabienne mit der Küche war, so wenig gab die Vorratskammer des Herrenhauses her.

»Das reicht vorn und hinten nicht«, murmelte sie, während sie hier in einen Korb schaute, da einen Deckel lüpfte. »Was ist in den Säcken da hinten?«

»Mehl, Madame Mazeau! Der Müller hat es erst letzte Woche gebracht«, erwiderte Celine. »Wir backen unser Brot selbst.«

Fabienne überlegte einen Moment, dann griff sie zu dem Stück Papier, das Sabrine ihr die ganze Zeit hinterhergetragen hatte. Noch mehr Eier, Gemüse, Salat, Radieschen, Brot … Die Liste wurde länger und länger, doch schließlich war Fabienne zufrieden. »Beeilt euch, die Marktleute werden bestimmt bald ihre Stände abbauen! Und bringt bitte jedes Baguette mit, das ihr bekommen könnt«, sagte sie, während sie Yves die Liste übergab.

»Da wäre noch was«, sagte er und zog eine Grimasse. »Ich habe kein Geld mitgenommen, weil ich dachte, bei einer Hochzeit brauche ich ja keins …«

Fabienne runzelte die Stirn. Sie hatte ebenfalls kein Geld dabei, wozu auch?

»Geld? Das ist kein Problem! Warten Sie, ich hole Émiles Portemonnaie!« Sabrine Sarda rannte, so schnell sie konnte, davon.

Yves und Noah rafften derweil alle Körbe, die an Haken an der Wand hingen, zusammen. Kaum hatte Sabrine Sarda ihnen die Geldbörse in die Hand gedrückt, eilten sie davon.

Fabienne schaute ihre Schwestern und Sabrine Sarda an. »Gut! Und wir gehen jetzt in Ihr Feinkostlager, von dem Manuel so geschwärmt hat!«

Honig, Olivenöl, feinster geräucherter Wildschweinschinken. Goldgelbe Haselnüsse und zart duftender rosa Knoblauch. Fabienne kam sich vor, als wäre sie im Schlaraffenland gelandet. Manuel hatte einen guten Geschmack, so viel stand fest!

»Ich weiß nicht, was Sie bei Ihrem traiteur bestellt hatten. Aber ich weiß, was wir zubereiten werden!«, sagte sie lächelnd zu Sabrine Sarda. »Zum Champagnerempfang wird es geeiste Austern geben. Zusätzlich werden wir drei Sorten canapés anbieten. Einmal mit Schinken und Haselnüssen«, sie zeigte auf die luftgetrockneten Schinken, die in Reih und Glied von der Decke hingen, »einmal mit Frischkäse und diesem rosafarbenen Senf. Und einmal mit einem Olivenfrischkäse, den wir selbst anrühren werden. Auf die Tische stellen wir außerdem Körbe mit geröstetem Brot und kleine Schälchen mit Olivenöl und Salz – nichts schmeckt besser zu einem Glas Champagner!« Sie machte eine kleine Pause, um sich zu vergewissern, dass Sabrine einverstanden war.

Die Frau des Austernzüchters schaute sie mit großen Augen an. »Das alles wollen Sie in zwei Stunden hinbekommen?« Auf ihren bleichen Wangen zeigten sich nun hektische rote Flecken.

Fabienne grinste. »Das und noch einiges mehr! Als Hauptgericht werden wir verschiedene Quiches backen, mit Gemüse, mit Garnelen, mit Austern. Mehl ist genügend da, also kann Lucy schon mal den Teig zubereiten, bis die Männer mit dem Obst und Gemüse zurückkommen. Und wenn wir die Backröhre eh schon anfeuern, bieten wir außerdem noch überbackene Austern mit frischem Rahm, Camembert und diesem rosa Knoblauch an! Können Sie Ihre Austernfischer anweisen, uns mindestens dreihundert Austern zusätzlich zu öffnen?«

»Ich lasse den Männern sofort Bescheid geben!«, sagte Sabrine Sarda. Im nächsten Moment trat sie an Fabienne heran, umarmte sie kurz. »Sie sind unser rettender Engel, vielen Dank …«

»Kochen ist mein Beruf«, sagte Fabienne schlicht. »Ach ja – diverse Salate gibt es selbstredend auch noch.«

»Selbstredend …«, murmelte Lucy kopfschüttelnd, nachdem Sabrine Sarda gegangen war. »Canapés, Quiches, Salate, überbackene Austern – Fabie, wie willst du das alles in der kurzen Zeit schaffen? Überschätzt du dich nicht ein wenig?«

»Und uns!«, fügte Lily sorgenvoll an. »Wir müssten alle über uns hinauswachsen, um das hinzubekommen!«

»Und genau das werden wir tun«, erwiderte Fabienne gelassen.