Kapitel 17

Das Haus lag ganz in der Nähe des Rathauses am Marktplatz, eingebettet in eine lange Reihe von ähnlichen Gebäuden. Am Markttag hatte Fabienne nur Augen für die Stände der Marktleute gehabt, das maison de maître mit seinen geschlossenen Fensterläden war ihr deshalb nicht weiter aufgefallen. Dabei war es eigentlich nicht zu übersehen! Es verfügte über drei Stockwerke, in den oberen beiden Etagen gab es nach vorne raus je drei Fenster, wobei das in der Mitte oben einen wunderschönen, halbrunden gläsernen Aufsatz hatte. Im Erdgeschoss befand sich anstelle des mittleren Fensters eine große, schwere, zweiflügelige Tür. Sowohl die Fensterläden als auch die Tür waren einst in einer blaugrünen Farbe lackiert worden. Im Laufe der Jahrzehnte war die Farbe jedoch von der Witterung spröde geworden und blätterte überall ab.

Als Erstes würden sie die Fensterläden, die Rahmen und die Tür abschleifen und neu streichen, dann sah alles schon nicht mehr ganz so vernachlässigt aus, dachte Fabienne und spürte, wie es in ihrem Bauch wohlig zu rumoren begann. Halte dich zurück!, mahnte sie sich. Solange du das Innere nicht gesehen hast, kannst du dir kein Urteil bilden. Und selbst wenn du alles gesehen hast, dann lass deinen Verstand entscheiden!

»Maman, hat das Haus auch einen Garten?« Violaines Frage beendete Fabiennes inneren Monolog.

»Das weiß ich nicht«, gab sie abwesend zurück.

»Ich will aber, dass das Haus einen Garten hat«, quengelte Violaine. »Ich will, dass wir hier in Gruissan bleiben.«

Das will ich auch, dachte Fabie stumm. Ob es noch andere leer stehende Häuser gab, falls dieses nicht infrage kam? Sie schaute auffordernd zu Alain Pinot hinüber, der mit dem Schlüssel in der Hand ein paar Worte mit einem Passanten wechselte. Sie konnte es kaum erwarten das Innere zu sehen!

»Wenn wir endlich wieder einen Garten haben, werde ich einen Hasenstall bauen und …« Eifrig begann Violaine ihre Pläne aufzuzählen, bis Yves sie nahm und in Richtung Platzmitte drehte. »Genug, Violaine, Maman und ich müssen uns jetzt konzentrieren. Geh zum Brunnen und kühl dich ein wenig ab!«

Die Zehnjährige warf ihm einen giftigen Blick zu, trollte sich dann aber.

»Die Lage ist schon mal perfekt, findest du nicht auch?«, raunte Yves Fabienne zu.

»Ja, aber ist es nicht viel zu elegant für uns? Und riesengroß ist es auch«, flüsterte Fabienne zurück. »Zwei Stockwerke würden vollends ausreichen und –« Weiter kam sie nicht, denn Alain Pinot hatte sein Gespräch beendet und trat lächelnd zu ihnen.

»Dieses maison de maître war lange im Besitz einer wohlhabenden Familie aus Narbonne, Bekannte meiner Eltern. Die alte Dame, die zuletzt darin wohnte, hatte keine Kinder. Als sie vor ein paar Jahren starb, hat sich unser Notariat über ein Jahr lang bemüht, doch noch irgendwelche entfernten Erben ausfindig zu machen – vergeblich! So kam das Haus in den Besitz der Gemeinde, die sich seitdem nicht weiter darum gekümmert hat. Aber das werden Sie gleich selbst sehen«, fügte Alain Pinot seufzend hinzu. Er hielt einen großen eisernen Schlüssel in die Höhe. »Sind Sie bereit?«

Er öffnete die Tür, und unvermittelt standen sie in einem Raum, der sich über die ganze Breite des Hauses erstreckte. Eilig stieß Alain Pinot die Fensterläden auf. Die Sonne ließ sich nicht lange bitten und leuchtete das Zimmer sogleich hell aus.

Das Haus roch gut, befand Fabienne. Weder muffig noch schimmelig noch alt. Im Gegenteil – es roch irgendwie … geheimnisvoll! Sie trat an eins der Fenster und sah, dass Violaine Yves’ Aufforderung, sie möge sich abkühlen, wörtlich genommen hatte. Dieser Wildfang!, dachte sie halb wütend, halb amüsiert.

»Madame Mazeau, wenn Sie mir bitte folgen würden – hinter der rechten Tür verbirgt sich –«

»Monsieur Pinot«, unterbrach Yves den Mann. »Wäre es möglich, dass wir uns das Haus erst einmal allein anschauen? Wenn wir uns einen groben Überblick verschafft haben, sind wir umso dankbarer für Ihre Ausführungen. Und – falls Sie uns noch einen zweiten großen Gefallen tun möchten …« – er schaute Alain Pinot mit tragikomischer Miene an – »dann haben Sie bitte ein Auge auf Violaine!« Er wies durchs Fenster auf die Zehnjährige, die im Dorfbrunnen stand und mit beiden Händen Wasser auf den Marktplatz spritzte.

»Beides sollte kein Problem sein«, sagte Alain Pinot gleichmütig. »Violaine kann mit mir meine Schwester Marie-Claire besuchen, sie wohnt ganz in der Nähe. Da lernt Ihre Tochter schon einmal die Kinder der Nachbarschaft kennen – mein Neffe August und meine Nichte Nicole sind im selben Alter wie sie. Lassen Sie das Haus in aller Ruhe auf sich wirken!«

Wieder einmal hatte Yves ihre Gedanken lesen können, dachte Fabienne dankbar, während sie Alain Pinot und Violaine nachschaute. Wie wohltuend die Stille war – jetzt konnte sie sich ganz auf das Haus einlassen. Sie stellte ihre Handtasche auf einer der Fensterbänke ab. Als sie den großen Raum abschritt, kam sie sich vor wie die verwunschene Prinzessin in einem Märchen. Dadurch, dass rechts und links vom Haus andere Häuser angebaut waren, gab es in diesem Raum nur die beiden großen Fenster in Richtung Marktplatz als Lichtquelle. Sie schaute Yves an. »Ob es im Winter hier drinnen nicht zu düster ist?«

Er zuckte mit den Schultern. »Für Licht können wir mit Kerzen und Leuchtern sorgen.«

Fabienne nickte. »Warum nicht? Das richtige Licht kann einen Raum regelrecht verzaubern!« Wenn sie nur an das Le Miroir in Narbonne mit seinen vielen Kerzenleuchtern und Spiegeln dachte …

Yves schritt den Raum mit ausgreifenden Schritten von links nach rechts und von vorn nach hinten ab, dann wandte er sich an Fabienne: »Hier wäre Platz für mindestens neun Tische. Und im Eingangsbereich würden wir eine Garderobe für die Gäste unterkriegen.« Er ging auf eine der beiden hinteren Türen zu. »Wenn dahinter die Küche liegt, dann wäre das fast zu schön, um wahr zu sein!«

Hinter der linken Tür gab es einen Raum, der anscheinend einmal als Hauswirtschaftsraum genutzt worden war. Jedenfalls zeugten davon die Blecheimer und die uralten Bürsten und Besen, die krumm und schief an der Wand lehnten. Auf dem Boden hatte jemand irgendwann einmal Lauge oder Scheuerpulver verschüttet und nicht aufgeputzt, ein großer hässlicher Fleck hatte sich auf dem Holzboden gebildet. Nichts, was man nicht wegbekommen würde, dachte Fabienne und schloss die Tür wieder, um Yves in den nächsten Raum zu folgen.

Hinter der zweiten Tür lag tatsächlich die Küche. Sie war von stattlicher Größe, doch außer einem altertümlichen Monstrum von Herd gab es keinerlei weiteres Mobiliar.

Fabienne schaute Yves entsetzt an. »Das soll die Küche sein? Hier fehlt es ja an allem.«

»Ist doch nicht schlecht – so könntest du sie ganz nach deinen Vorstellungen einrichten. Bestimmt gibt es in Gruissan einen guten Schreiner.«

»Das kostet doch bestimmt ein Vermögen«, erwiderte Fabie stirnrunzelnd.

»Wenn wir nur das Nötigste vom Schreiner machen lassen, ginge es. Ein paar Wandregale könnten Noah und ich auch selbst bauen.« Yves trat an den Herd, rüttelte am Ofenrohr. »Alles verrostet, das müsste auch komplett erneuert werden. Der Herd selbst scheint allerdings in Ordnung zu sein.«

»Eine Küche ganz nach meinen Vorstellungen – das wäre wunderschön«, murmelte Fabienne. Eine große breite Arbeitsplatte wäre wichtig. Sie versuchte sich vorzustellen, wo sie diese platzieren würde. Vielleicht ließe sich in der Wand auch ein Durchbruch in den Restaurantraum machen, sodass man die Speisen durchreichen konnte? Und dann –

»Fabienne, hörst du mir zu? Ich habe gefragt, ob du mit dem Herd zurechtkämst. Ansonsten müssten wir einen neuen anschaffen.«

»Ich weiß nicht …« Kritisch betrachtete Fabienne ihn von allen Seiten, dann öffnete sie das Holzfach. »Er sieht eigentlich aus wie alle anderen Herde auch.« Konnte sie sich vorstellen, hier zu stehen und zu kochen?, fragte sie sich im selben Moment. Ja, das konnte sie. Ja!

»Ich werde Monsieur Pinot fragen, wie es in Gruissan um die Gasversorgung steht. Wer weiß? Vielleicht sind in den letzten Jahren schon entsprechende Leitungen gelegt worden, dann müssten wir das Haus nur noch daran anschließen lassen. Und dann könntest du dir sogar überlegen, einen modernen Gasherd anzuschaffen.«

Fabienne, die für technische Details im Augenblick kein Ohr hatte, tat, was sie seit dem Betreten der Küche hatte tun wollen: Sie öffnete die Tür an der gegenüberliegenden Wand, die nach draußen führte.

»Oh schau nur – es gibt tatsächlich einen Garten!«, rief sie begeistert. »Mir scheint, er ist rundherum mit Mauern eingefriedet. Wie windstill und friedlich es hier draußen ist. Wenn das Violaine sieht …«

Yves warf einen kurzen Blick hinaus. »Sehr nett«, sagte er, dann betrachtete er wieder eingehend den Herd.

Fabienne trat nach draußen. Ein guter Herd war zweifelsohne wichtig. Aber genauso wichtig war ein Garten für Violaine! Und dieser hier hatte sogar Platz für ein großes Kräuter- und Gemüsebeet. Und wenn sie einen kleinen Tisch und einen Stuhl nah an die Hauswand stellte, würde sie hier sitzen und Erbsen pulen können. Und ganz hinten, im Schutz der rückwärtigen Mauer – wäre da nicht sogar ein Gehege für Hühner möglich?

»Das Dachgeschoss könnten wir vorerst einfach ignorieren, die Wohnung im ersten Stock würde für uns völlig reichen«, sagte Yves, als sie euphorisch von ihrem Rundgang durchs Erdgeschoss die Treppe in den ersten Stock hochstiegen. »Später könnten wir unter dem Dach dann zwei, drei Fremdenzimmer einrichten – wenn die Grundfläche oben genauso groß ist wie im Erdgeschoss, wäre der Platz dafür.«

Fabienne nickte. Das wurde ja immer besser! »Ich kann es kaum erwarten, die Wohnung zu sehen«, sagte sie.

Yves lächelte sie liebevoll an. »Geht mir genauso.« Schwungvoll stieß er die facettierte Tür auf. »Leider sind wir schon verheiratet, sonst hätte ich dich glatt über die Schwelle getragen!«

Fabienne gab ihm einen spielerischen Knuff und lief an ihm vorbei. »Yves …«, rief sie im nächsten Moment kläglich.

Allem Anschein nach hatte es jahrelang durchs Dach geregnet, und das Wasser war von ganz oben bis in den ersten Stock gelaufen. Die Wände waren bröselig, der Putz von den Decken lag auf dem Holzboden. Dieser wellte sich so sehr, dass man ohne zu stolpern nicht darauf hätte laufen können.

»Ich traue mich nicht, den Raum zu betreten, womöglich bricht die Decke nach unten durch«, murmelte Fabienne.

Wortlos ging Yves an ihr vorbei wieder ins Treppenhaus und stieg dann die Treppe ins Dachgeschoss hinauf. Fabienne wagte nicht, ihm zu folgen. Zu früh gefreut, dachte sie traurig.

»Oben sieht es noch schlimmer aus, die ganzen Dachbalken sind verfault und müssen ersetzt werden«, sagte Yves grimmig, als er kurze Zeit später wieder herunterkam. Nachdenklich kratzte er mit dem Fingernagel am lockeren Putz. »Dass die Wände nicht schimmeln, ist ein Wunder! Wahrscheinlich sind die Fenster so undicht, dass ständig frische Luft in die Zimmer kommt.«

Fabienne nickte. »Das kann gut sein. Ich habe mich auch schon gewundert, warum es unten nicht unangenehm riecht. Wenn ich daran denke, wie das Marseiller Bistro bei unserer Ankunft gerochen hat, widerlich!«

»In diesem Zustand sind die beiden Obergeschosse unbewohnbar«, sagte Yves und zog die Tür hinter sich zu.

Schweigend und in Gedanken versunken liefen sie die Treppe wieder nach unten.

»War’s das?«, fragte Fabienne, als sie in dem großen Raum im Erdgeschoss standen.

»Nicht unbedingt. Aber es wäre immens viel Arbeit. Und die Kosten wären hoch«, sagte Yves gedehnt. »Ich glaube kaum, dass die Gemeinde bereit ist, das Haus für viel Geld zu renovieren, um es danach zu vermieten. Mein Gefühl sagt mir, dass sie es vielmehr so schnell wie möglich loswerden wollen.«

»Also käme mieten erst gar nicht infrage«, stellte Fabienne fest. »Wir müssten das Haus kaufen und dann auf eigene Kosten renovieren.«

»So sieht es aus. Ich schätze, dass sie es zu einem guten Preis hergeben. Und dann ginge die Arbeit für uns los. Ich habe keine Ahnung, wie lange so etwas dauert. Aber eine Eröffnung noch in diesem Jahr wäre vermutlich nicht möglich.«

»Im Erdgeschoss sieht es doch ganz passabel aus«, erwiderte Fabienne. »Wenn wir Restaurant und Küche zuerst einrichten, könnten wir vielleicht bis zum Weihnachtsfest eröffnen …«

»Und während der Renovierung der oberen Geschosse woanders wohnen?«, fragte Yves nach.

»Warum nicht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Vorstellbar ist das.« Sie schaute Yves an. »Ich glaube, ich habe mich wirklich in den Gedanken verliebt, dass wir hier in dieser schönen Bruchbude unser Restaurant eröffnen.«

»Es wäre nicht unser Restaurant«, sagte Yves leise. »Es wäre dein Restaurant. Du hast mit deinem Kochbuch das Kapital dafür verdient, du wirst diejenige sein, die im Grundbuch als Eigentümerin steht. Ich werde an deiner Seite sein, ich werde als Restaurantleiter mit dir zusammenarbeiten. Und wenn’s mal irgendwo klemmt, kann ich auch mit kleineren Geldbeträgen aushelfen. Aber das Restaurant – das ganze Haus – würde trotzdem dir allein gehören.«

Fabienne runzelte die Stirn. »Warum betonst du auf einmal so, dass dies hier alles meine Entscheidung ist?«, fragte sie und machte eine ausholende Handbewegung, die den ganzen Raum mit einschloss. »Bisher war immer die Rede von einem gemeinsamen Neuanfang.«

Yves zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht böse gemeint, Fabienne. Ich weiß, dass dies dein großer Traum ist. Ich selbst bräuchte die Verantwortung, die ein eigenes Restaurant mit sich bringt, nicht. Für mich wäre es auch in Ordnung, wieder irgendwo als Kellner zu arbeiten, bestimmt wüsste Alain Pinot jemanden, der meine Dienste gebrauchen kann. Ich bin trotzdem bereit, diesen Weg mit dir zu gehen. Nur – falls wir uns irgendwann einmal … nicht mehr verstehen, möchte ich die Freiheit haben, zu gehen.«

Gehen? Auf welche Gedanken kam Yves da?, dachte sie erschrocken und verletzt zugleich. Sie selbst hatte dagegen gerade gestern Abend wieder einmal das Gefühl gehabt, dass sie sich nach langer Zeit ein wenig näherkamen! Wenn sie daran dachte, wie gut es sich angefühlt hatte, beim Tanzen seine Arme um sich zu spüren …

Sie zuckte ein wenig beleidigt mit den Schultern. »Nun gut, dann wird das eben mein Restaurant. Warum auch nicht?«

Yves schüttelte irritiert den Kopf. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du heute schon mindestens drei Mal ›pourquoi pas – warum auch nicht‹ gesagt hast?«

»Ist das so? Nein, das ist mir nicht aufgefallen …« Fabienne stutzte. Im nächsten Moment lachte sie schallend los.

»Darf ich mitlachen?«, fragte Yves.

»Es ist verrückt!« Sie lächelte. »Damals in Marseille ist es nie dazu gekommen, dass wir dem Bistro einen Namen gegeben hätten. Erst ist uns keiner eingefallen, dann haben wir es immer wieder vergessen, und am Ende hieß das Bistro einfach nur Bistro. Hingegen hier …« Sie musste schon wieder lachen. »Hier gehört uns das Haus noch nicht einmal, geschweige denn, dass es ein Restaurant gibt! Und trotzdem schießt mir der perfekte Name durch den Kopf. Also, vorausgesetzt, du findest ihn genauso gut wie ich«, fügte sie eilig an.

Yves hob fragend die Brauen.

»Pourquoi Pas – wäre das nicht der perfekte Name für unser Restaurant?«

Es war ein herrlicher Sommerabend. Wie am Tag zuvor aßen sie, nachdem sie ihren Aufenthalt für eine weitere Nacht verlängert hatten, bei ihrer Zimmerwirtin. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt anspreche – was kann ich tun, damit Sie hier ein Restaurant eröffnen?«, fragte sie in nur halb gespielter Verzweiflung, als sie das Essen auftrug. »Nicht, dass Sie mich missverstehen – ich koche natürlich gern für meine Gäste«, fügte sie eilig an. »Trotzdem wäre ich sehr dankbar, wenn ich es nicht mehr Tag für Tag tun müsste.« Sie seufzte. »Ich würde alle meine Gäste zum Essen in Ihr Restaurant schicken!«

Fabienne und Yves lächelten unverbindlich. Hatte es sich also schon herumgesprochen, was im Raume stand …

Während des ganzen Essens stand Violaines Mund so gut wie keine Minute still. Sie erzählte von August und Nicole, mit denen sie gespielt hatte und die beide meinten, dass die Schule in Gruissan gar nicht so schlimm wäre. Sie träumte außerdem von Hühnern und Hasen in ihrem neuen Garten. Und sie schmiedete Pläne, was sie alles unternehmen sollten, wenn sie erst einmal hier lebten. Für sie schien das längst festzustehen.

Natürlich hätte Fabienne ihr den Mund verbieten können. Dass sich Kinder beim Tischgespräch derart laut einbrachten, war eigentlich inakzeptabel, was Madame Bougis mit tadelnden Blicken auch mehr als einmal zum Ausdruck brachte. Aber auf der Farm waren die Kinder nun einmal genau so aufgewachsen – frei von einengenden Regeln und dauernden Maßregelungen durch die Erwachsenen. Vielleicht war diese Freiheit rückblickend ein Fehler gewesen? Aber selbst wenn, dann konnten sie Violaine jetzt nicht von einem Tag auf den andern umerziehen, dachte Fabienne trotzig, während Violaine zu laut lachte. Und vielleicht wäre das in dem Fischerdorf auch gar nicht nötig?

Wenn sie einmal zu Wort kamen, versuchten Fabie und Yves, das Für und Wider des ganzen Unternehmens abzuwägen. Wo konnten Schwierigkeiten lauern, die sie jetzt noch nicht erkannten? War das Haus eine gute Investition für Fabiennes Ersparnisse? Oder wartete woanders eine noch bessere Chance auf sie?

Über den Preis des Hauses würde man sich schon einig werden, hatte Alain Pinot gemeint. Der Gemeinde wäre sehr daran gelegen, das zwischen Rathaus und Marktplatz gelegene Gebäude wieder bewohnt zu sehen. Und dass das Dach in keinem guten Zustand war, war allgemein bekannt. Entsprechend ging es weniger ums Geld, sondern mehr darum, was der Käufer mit dem Haus vorhatte. Davon, dass ein Restaurant ins maison de maître kommen würde, hatte bisher niemand auch nur zu träumen gewagt!

Als sie beim Dessert angelangt waren, stand eigentlich längst fest, dass sie es wagen würden.

»Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich ein bisschen allein spazieren gehe?«, sagte Fabienne trotzdem, nachdem sie zu Ende gegessen hatten. Noch einmal in Ruhe über alles nachdenken …

Yves nickte nur.

Fabienne war noch nie besonders ängstlich gewesen. Aber als sie barfuß den endlos scheinenden Strand entlanglief, spürte sie, dass sie Angst hatte. Es war keine Angst vor der Renovierung, den Kosten oder der vielen Arbeit – ihre Angst ging tiefer.

So viele Jahre hatte sie ihren Traum vom eigenen Restaurant gehegt und nun stand sie kurz davor, ihn endlich zu verwirklichen. »Ein Wunsch, der in Erfüllung geht, ist ein gestorbener Traum«, hatte ihre Maman mehr als einmal gesagt. Als Kind hatte sie nicht verstanden, was ihre Mutter mit diesem Spruch hatte sagen wollen, und heute wusste sie es immer noch nicht, dachte Fabie, während sie ihre nackten Füße in den feinen Sand grub.

Ihr großer Lebenstraum. Er hatte sie genährt, wenn ihre Seele hungrig war. Er hatte sie aufgerichtet, wenn sie strauchelte. Er hatte ihr die Kraft zum Weitermachen gegeben, wann immer sie vor Erschöpfung am liebsten alles hingeworfen hätte.

Was würde an seine Stelle treten? Fabienne blieb stehen, richtete ihren Blick hinaus aufs Meer. Wie lebte ein Mensch, der keinen großen Traum hatte? Wie würde sie leben? Die Antwort kam mit den nächsten Wellen angespült: Die Liebe zu ihren Kindern würde sie immer nähren, aufrichten, ihr die Kraft geben zum Weitermachen.

Victor und Violaine. Beide waren wichtiger als jeder noch so große Traum.

Auch wenn ihre jetzige Zeitungsannonce keinen Erfolg brachte – sie würde ihre Suche nach Victor nicht aufgeben. Vielleicht würde sie als Nächstes einen Privatdetektiv engagieren …

Für Violaine war Gruissan ein guter Ort für einen Neuanfang. Sie hatte Kontakte geknüpft und würde hier im September das neue Schuljahr beginnen können.

Noch mehr sprach für Gruissan: Der Weg zu Noah und seiner Familie war auch nicht weiter als von Narbonne aus, vielleicht war er sogar ein bisschen kürzer. Sie würden sich also öfter sehen können. Und hier in dem kleinen Fischerort wurde sie außerdem nicht ständig an Noé erinnert so wie in Narbonne.

Dennoch, mit dem Restaurant würde sie eine ziemlich große Verantwortung auf sich nehmen, das hatte Yves ihr heute klargemacht. Sie eine Hausbesitzerin – allein der Gedanke war ihr so fremd! Die meisten Jahre ihres Lebens war sie unvermögend gewesen. Erst ihr Kochbuch für Frauen hatte sie zu einer wohlhabenden Frau gemacht. Dass sie nun so reich war, um sich ein Haus zu kaufen, konnte sie selbst noch kaum glauben. Aber warum nicht?

Lächelnd ging Fabienne in die Hocke, dann zeichnete sie mit dem Zeigefinger den Schriftzug »Pourquoi Pas« in den Sand.

Sie grinste. Ja, warum nicht?

Gruissan war ein guter Ort für ihre kleine Familie, Fabienne konnte sich sogar vorstellen, für immer hierzubleiben – hier am Meer einmal alt zu werden. Aber bevor sie ans Alter dachte, würde sie alles dafür geben, aus ihrem Traum einen großen Erfolg zu machen – ihr Geld, ihre Zeit, ihre Liebe! Und das Haus war trotz des Wasserschadens im Grunde solide – wenn sie nur an die fast fünfzig Zentimeter dicken Mauern dachte!

Sie zog ihren rechten Zeigefinger erneut durch den Sand und zeichnete ein großes Herz rund um den Restaurantnamen.

Nachdem sie ein paar Minuten einfach nur dagesessen und aufs Meer geschaut hatte, erhob sie sich. Und als sie zurückging in Richtung Dorf, fühlte sie sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Die Würfel waren gefallen, und das war ein gutes Gefühl.

Und falls trotz großer Zuversicht doch alles schiefgehen sollte, würde sie dennoch nicht untergehen, dachte sie, als sie sich den Sand von den Füßen strich, um ihre Schuhe wieder anzuziehen. Sie hatte schon so oft bewiesen, dass sie die Kraft für einen Neuanfang hatte. Sie konnte immer noch woanders als Köchin arbeiten. Und sie hatte noch so viele schöne Ideen für ein weiteres Kochbuch! Aber im Idealfall würde es dazu nicht kommen – wenn das Pourquoi Pas ein Erfolg wurde, hatte sie gewiss keine Zeit zum Schreiben …