Am Pfingstsonntag, dem achtzehnten Mai 1902 – zwei Tage nach Fabiennes neununddreißigstem Geburtstag, der im ganzen Trubel sang- und klanglos unterging –, kamen keine Probegäste. Und Fabienne und ihre Mannschaft trafen sich auch nicht zum Üben. Denn an diesem Tag öffnete das Pourquoi Pas ganz offiziell seine Pforten.
»Oh Gott, mir ist vor lauter Aufregung richtig schlecht! Was machen wir, wenn niemand kommt?«, sagte Fabienne, während sie sich frühmorgens einen Zopf flocht. Ihre Hände zitterten, sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Was, wenn der moderne Gasherd, zu dem Yves sie am Ende doch überredet hatte, ausfiel? Was, wenn Suzanne de Valmont ausgerechnet heute unter Schwangerschaftsübelkeit litt? Was, wenn Violaine sich danebenbenahm? Das Restaurant sei kein Spielplatz für Kinder, das hatte sie ihrer Tochter immer wieder eingeschärft. Aber Kinder waren nun mal … Kinder.
Doch Yves lachte nur. »Warum sollte niemand kommen? Ich habe nicht nur im ganzen Ort Handzettel verteilt, sondern bin extra nach Narbonne gefahren und habe dort in den feinen Bürgerhäusern rund um den Canal de la Robine ebenfalls Handzettel in die Briefkästen geworfen. Alain hat zusätzlich noch all seinen Geschäftskontakten und der Narbonner Verwandtschaft von der Restauranteröffnung erzählt, Madame Bougis hat ihren Pensionsgästen Bescheid gegeben, und Violaine hat sogar ihre heiß geliebte Lehrerin, Mademoiselle Truffle, eingeladen«, sagte Yves grinsend. Als er Fabiennes skeptischen Blick sah, schob er nach: »Glaube mir, die Leute werden schon aus reiner Neugier kommen!«
»Und was, wenn … Stéphanie auftaucht? Quasi wie aus dem Nichts, so wie sie es schon mehr als einmal getan hat. Sie ist Restaurantkritikerin – und sie hasst mich! Jetzt, wo ich ein Restaurant besitze, wäre dies für sie die ideale Möglichkeit, mir zu schaden«, stieß Fabienne hervor. Den Gedanken hatte sie seit Wochen im Hinterkopf – warum, wusste sie selbst nicht so genau. In dieser Nacht war er einer von den lautesten gewesen.
Yves warf ihr im Spiegel stirnrunzelnd einen Blick zu. »Warum sollte Stéphanie ausgerechnet heute hier auftauchen? Wir wissen doch gar nicht, wo sich Madame de Carneval inzwischen aufhält. Der Hauptsitz der Bank de Carneval befindet sich in Paris, wahrscheinlich leben Stéphanie und ihr Mann längst dort. Und selbst wenn sie hier im Süden ist – warum sollte sie sich ausgerechnet für ein Restaurant in einem kleinen Ort wie Gruissan interessieren? Wie du weißt, sind in ihrem Restaurantführer vor allem größere Städte vertreten.«
Vor ein paar Jahren war Yves eines Tages mit dem Guide Carneval nach Hause gekommen. Gemeinsam hatten sie ihn durchgeblättert. Wider Willen war Fabienne beeindruckt gewesen ob der Fülle an Restaurants, die Stéphanie besucht und bewertet hatte. Sie hatte Stéphanie als flatterhaft und schnell gelangweilt kennengelernt – dass sie ein solches Mammutprojekt auf die Beine stellte, hätte sie ihr nicht zugetraut.
»Du hast ja recht. Aber trotzdem …« Fabienne verzog den Mund, noch immer nicht ganz beruhigt.
Yves kam zu ihr, nahm sie in den Arm, strich ihr liebevoll über den Kopf. »In Gruissan freuen sich alle seit Wochen auf diesen Tag. Die Leute werden begeistert sein von dem, was wir hier auf die Beine gestellt haben!«
»Ja schon, aber –«, hob Fabienne an, wurde von Yves jedoch unterbrochen. »Komm mit!« Er nahm ihre Hand und zog sie in Richtung Treppe.
Halb lachend, halb unwillig folgte Fabienne ihm die Treppe hinab und durchs Restaurant hinaus auf die Straße.
Yves zeigte auf das Restaurantschild aus Messing, das in der Morgensonne fast unnatürlich hell strahlte.
»Das hier ist dein Traum, Fabienne«, sagte er leise. »Jahre – Jahrzehnte! – hast du von diesem Tag geträumt. Heute wird dein Traum endlich wahr, und das solltest du in vollen Zügen genießen! Das ewige Grübeln ist sinnlos, denn es kommt eh alles, wie es kommen soll. Was in unserem Fall bedeutet, dass alles großartig verlaufen wird – warum auch nicht?« Grinsend nickte er in Richtung des Restaurantschildes.
»Ja, warum auch nicht?«, erwiderte Fabienne und schaute ihn dankbar an. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mich an all das erinnerst.« Ihr Blick wanderte zurück zu dem Restaurantschild. Sie nahm einen tiefen Atemzug, straffte ihre Schultern, dann sagte sie mehr zu sich als zu ihm: »Ich werde alles geben, was in mir steckt! Gemeinsam werden wir unsere ersten Gäste so verzaubern, dass sie ganz süchtig nach dem Essen vom Pourquoi Pas werden und immer wieder kommen wollen.«
Yves lächelte, und ein seltsames Glitzern trat in seine Augen. »So gefällst du mir viel besser! Aber nun: Heute muss alles stimmen, deshalb lass uns nochmals alles durchgehen. Hast du genügend Vorräte eingekauft?«, sagte er und machte sich wieder auf den Weg ins Haus.
Fabienne nickte. Obst und Gemüse kaufte sie direkt vor der Haustür auf dem Markt, Fisch und Meeresfrüchte lieferte Andrés Vater Louis Decasse. Feines Fleur de Sel hatte ihr Marie-Claire aus der Saline mitgebracht, Rosmarin, Thymian und andere Kräuter wuchsen hinten im Garten.
»Dafür, dass ich noch keine Zeit hatte, mich intensiver mit den Produzenten in der Gegend zu beschäftigen, ist meine Speisekammer ziemlich gut gefüllt. Bruno und ich können aus dem Vollen schöpfen, selbst wenn wir alle Tische mittags und abends doppelt belegen müssten«, sagte sie, während sie eine blütenweiße Schürze hinter ihrem Rücken festband. Am besten stürzte sie sich gleich in die Arbeit, das würde ihre Nerven am besten beruhigen.
Yves, der auf einem der Tische mit kritischem Blick ein Glas um einen Zentimeter verrückte, sagte: »Sehr gut. Und mit ein bisschen Glück läuft bei der Premiere alles so glatt wie bei der Generalprobe …«
Kurz darauf stand Fabienne in der Küche und bereitete ihr mise en place für den Tag vor. Für den Eröffnungstag hatte sie eine eigene Speisekarte geschrieben. »Genuss ist nicht nur eine Empfindung. Genuss ist eine Entscheidung«, hatte sie aus einer Laune heraus als Überschrift gewählt.
Darunter hatte sie ihre allerfeinsten Gerichte aufgeführt: die Garnelen-Quiche, ein Spargelgericht, das Poulet Fabienne, dazu verschiedene Salate und eine samtene Spargelcremesuppe. Beim Dessert konnten die Gäste zwischen einer Crème brûlée und frischen Erdbeeren mit einer leichten Vanillecreme wählen – auf ein schwieriges Soufflé hatte Fabienne bewusst verzichtet. Würde sie mit ihrer Speisenauswahl den Geschmack der Leute treffen?, fragte sie sich, während sie den Spargel schälte. Im Bistro in Marseille war ihr das nicht auf Anhieb gelungen, den Gästen waren ihre Gerichte zu verspielt gewesen, sie hatten sich etwas Handfesteres gewünscht. Womöglich waren ihre raffinierten Speisen für die Leute hier auch zu extravagant?
Zur Eröffnung hatten Fabienne und Yves natürlich auch ihre Familien eingeladen. Während Noah und seine Frau versprochen hatten zu kommen, musste Yves’ Bruder Gregory absagen, weil er niemanden hatte, der sich um die Ziegen kümmern konnte. Von Lily kam ein großes Paket mit Fruchtpasten, um die Fabienne gebeten hatte. Dem Paket lag ein Brief bei, in dem Lily ihnen alles Glück und allen Erfolg der Welt wünschte. Zu kommen traute sie sich weiterhin nicht. Nach Toulouse hatte Fabienne ebenfalls eine Einladung geschickt – daran, dass ihre ältere Schwester Lucy mit ihrem Mann, dem Lehrer, kommen würde, glaubte sie jedoch nicht. Schon seit Jahren hörte sie nur noch sporadisch von Lucy. Selbst als Fabienne ihr von Victor geschrieben hatte, hatte sie nur ein paar knappe Zeilen zurückbekommen. Lucy bedauerte Fabiennes Verlust sehr und wünschte ihr viel Glück bei der Suche nach dem verlorenen Sohn. Fabie war es so vorgekommen, als habe die Schwester die Zeilen ohne echte Anteilnahme geschrieben. Aber so war das nun mal mit Geschwistern – irgendwann lebte jeder sein Leben, dachte Fabienne mehr als einmal bedauernd.
Die Ersten, die kamen, als Fabienne um halb zwölf die Tür aufschloss, waren Alain und Marie-Claire, die einen dicken Blumenstrauß mitbrachten. Als Nächstes kamen ein paar Handwerker sowie der Bürgermeister mit ihren Frauen. Alle sicherten sich die Fenstertische. Stolz wiesen die Handwerker ihre Ehefrauen auf die von ihnen ausgeführten Arbeiten hin – den golden schimmernden Holzfußboden, die renovierten Stuckdecken, die frisch gestrichenen Fensterrahmen …
Kurze Zeit später waren sämtliche Tische besetzt, und Yves und Suzanne hatten alle Hände voll zu tun, die Gäste zu bedienen und gleichzeitig Reservierungen für den zweiten Service ab dreizehn Uhr anzunehmen.
Als Fabiennes Bruder Noah und seine Frau Elodie um Viertel nach zwölf herausgeputzt und mit Guy Durant im Schlepptau erschienen, blieb Yves nichts anderes übrig, als Schwager, Schwägerin und Schwiegervater aufs Abendessen zu vertrösten, denn auch für dreizehn Uhr waren alle Tische inzwischen reserviert. »Mit so einem Ansturm habe ich nicht gerechnet, und ich habe vor lauter Trubel vergessen, einen Tisch für euch freizuhalten«, grummelte er, wütend auf sich selbst. Er nickte in Richtung Küche, während die Gäste an Tisch eins und Tisch fünf nach ihm winkten. »Wollt ihr wenigstens kurz Fabienne Hallo sagen?«
Noah schüttelte den Kopf. »Fabie hat bestimmt auch alle Hände voll zu tun, da würden wir nur stören. Wir gehen jetzt erst einmal auf ein Glas Pastis in das kleine Bistro am Hafen und kommen später zurück.«
Yves nickte erleichtert. So konnte er Fabienne darauf vorbereiten, dass zur Feier des Tages sogar ihr Vater erschienen war – bestimmt würde sie vor Rührung sogleich in Tränen ausbrechen!
»Die Crevetten-Quiche war ganz wunderbar, so leicht und doch so würzig. Dazu der Salat mit der eleganten Vinaigrette … Und dann diese hauchdünnen escalopes – so etwas Feines haben wir noch nie gegessen!« Der Bürgermeister schnalzte mit der Zunge. »Sagen Sie Madame Mazeau, wir haben ihr Essen sehr genossen.«
Yves strahlte. »Wir würden uns freuen, Sie und Madame bald wieder als unsere Gäste begrüßen zu dürfen«, sagte er und fügte an: »Darf ich Ihnen noch einen Mokka auf Kosten des Hauses anbieten? Und vielleicht einen kleinen Cognac?«
Der Bürgermeister nickte erfreut. »In der Reihenfolge, bitte!«
Zufrieden ging Yves zur Theke. Wie hieß es so schön? Kleine Geschenke erhielten die Freundschaft!
Es war kurz nach zwei, das letzte Dessert hatte gerade die Küche verlassen, als Fabienne sich auf einen der Stühle am Küchentisch sinken ließ. »Oh Gott, ich bin das viele Stehen einfach nicht mehr gewöhnt! Meine Füße …« Noch während sie sprach, kickte sie die robusten Halbschuhe von sich und begann, ihren rechten Fuß zu massieren. »Und sogar die Hüfte tut mir weh – das kenne ich gar nicht.«
Bruno lachte. »Trösten Sie sich – in ein paar Wochen wird es besser! Der Körper gewöhnt sich an den Schmerz.«
Fabienne lachte müde auf, während es in ihrem Magen lautstark rumorte. Um halb elf hatten sie sich alle mit einer großen Portion Rührei und dicken Scheiben Baguette gestärkt. Doch anscheinend hatte das nicht lange vorgehalten, denn sie hatte schon wieder Hunger.
Sie erhob sich gerade, um sich ein Stück Quiche abzuschneiden, als Yves den Kopf zur Tür hereinstreckte. Seine sonst exakt gescheitelten Haare standen wild vom Kopf ab, seine Wangen waren hektisch gerötet. »Fabienne, kannst du kurz rauskommen? Da ist ein Herr von Le Monde Narbonnaise. Er will einen Bericht über unser Restaurant schreiben!«
Fabienne ließ ihr Messer sinken. »Oje, darauf bin ich gar nicht vorbereitet …« Es war natürlich nicht so, als ob sie noch nie mit einem Reporter gesprochen hätte. Als sie mit ihrem Kochbuch so großen Erfolg gehabt hatte, hatte sich auch der eine oder andere Herr von der schreibenden Zunft bei ihr gemeldet. Aber damals war es lediglich um ein Buch gegangen – heute jedoch ging es um ihr Restaurant, ihren Lebenstraum! »Ich … Kannst du das nicht übernehmen?«, sagte sie flehentlich.
»Für mich interessiert sich der Kerl nicht. Dass eine Frau ein Restaurant eröffnet, ist hier immer noch ein Novum – darüber will er schreiben! Nun komm schon, kneifen gilt nicht«, sagte Yves und winkte sie zu sich.
»Nun, die Gastfreundschaft wurde mir in die Wiege gelegt. Ich wuchs in einem Schleusenwärterhaus am Canal du Midi auf, meine Mutter kochte für die Bootsleute. Schon als junges Mädchen gab es für mich nichts Schöneres, als ihr dabei zu helfen. Genauso gern servierte ich den Bootsleuten die gute Mahlzeit – Mademoiselle bon appétit nannten sie mich damals«, antwortete Fabienne mit einem wehmütigen Lächeln auf die Frage des Reporters, wie ihr Traum von einem eigenen Restaurant denn entstanden sei. Wenn ihre Mutter sie nun sehen könnte – sie wäre so stolz!
Fabiennes Blick wanderte gedankenverloren zur Tür. Im nächsten Moment durchfuhr es sie heiß und kalt zugleich. Die Frau, die mit einem Koffer in der Hand im Türrahmen stand, sah ihrer verstorbenen Mutter zum Verwechseln ähnlich! Fabienne blinzelte, schaute dann erneut hin.
»Bitte entschuldigen Sie mich kurz«, sagte sie zu dem Reporter, stand mit steifen Bewegungen auf und ging zur Tür.
»Lucy?« Ihre Stimme überschlug sich fast, ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf. Einen Moment lang hatte sie wirklich geglaubt, den verkörperten Geist ihrer toten Mutter vor sich zu haben.
»Wenn meine kleine Schwester ein Restaurant eröffnet, lass ich mir das doch nicht entgehen«, sagte Lucy lächelnd. Sie stellte den Koffer ab und schlang beide Arme um Fabienne. »Herzlichen Glückwunsch, Fabie! Ich bin so stolz auf dich!«
»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist! Noah und Vater kommen auch gleich zurück, sie sind erst noch … Ach, ist doch egal, wo sie sind!« Fabienne jauchzte auf. »Wenn sie dich sehen, werden sie genauso staunen wie ich!« Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen. Doch es waren nicht nur Freudentränen ob Lucys Erscheinen, sondern auch Tränen vor lauter Schreck.
Ihre Schwester wirkte wie eine alte, gramgebeugte Frau, und dünn war sie auch – Fabienne spürte bei ihrer Umarmung nur Haut und Knochen. Genau wie Maman in dem Jahr, als sie vor Erschöpfung starb, schoss es ihr durch den Kopf. Dabei war Lucy ein Jahr jünger als Lily, also gerade mal einundvierzig.
»Ist dein Mann nicht mitgekommen?«, fragte sie, als sie sich wieder aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ach der …« Lucys Miene verschloss sich wie eine Muschel, die man zu fest angetippt hatte.
Fabie zeigte auf einen Tisch am Fenster, dann winkte sie Suzanne herbei. »Bringst du uns bitte zwei Stück von der Quiche und etwas zu trinken? Und wenn die restlichen Gäste gegangen sind, schließ bitte ab. Wir brauchen jetzt alle eine Pause, bevor es mit dem Abendessen weitergeht.«
Lautes Männerlachen ertönte. Fabies Kopf fuhr herum. Im nächsten Moment schoss ihr die Röte ins Gesicht – der Reporter! Sie hatte ihn völlig vergessen.
Da ertönte die beruhigende Stimme von Alain Pinot. »Kümmern Sie sich um Ihren Besuch«, sagte er, dann setzte er sich zu dem Reporter an den Tisch. »Ich werde Monsieur Costignac erzählen, dass Sie eine Frau mit Visionen sind. Eine Rebellin, die sich nicht mit dem zufrieden gibt, was die Gesellschaft ihr als Frau zugesteht. Eine Frau, die sich das nimmt vom Leben, was sie für richtig hält. Das ist doch in Ihrem Sinne, Madame Mazeau?«
»Ja, schon …«, antwortete Fabienne verwirrt. Klar denken konnte sie nicht mehr – sie war hungrig, müde, und Lucys Besuch hatte sie völlig aus der Bahn geworfen.
»Schreiben Sie das, junger Mann, schreiben Sie das!«, rief Alain Pinot triumphierend. »Madame Mazeau ist ein wahres Vorbild für viele junge Frauen!«