»Sie züchten Ihre Austern gar nicht im Meer, sondern in einem See?« Monsieur Garrout, ein Feinkosthändler aus Paris, der seine Sommerfrische im Süden mit einem Besuch bei seinem Austernlieferanten verband, schaute Manuel Sarda erstaunt an. »Austern benötigen doch frisches Meerwasser!«, fügte er missfällig an.
Manuel Sarda, der seit dem letzten Jahr die Betreuung der angereisten Kunden fast vollständig allein übernahm, lächelte milde. Diese Frage hörte er nicht zum ersten Mal.
»Und das bekommen sie auch. Der Étang de Leucate ist nämlich eine Salzwasserlagune, die mit dem Meer verbunden ist«, erklärte er über das leise Klatschen der Wellen hinweg, die sich am Ufer des Étang de Leucate brachen. »Da vorn, direkt hinter den Hütten unserer Austernfischer …« – er zeigte auf den Abfluss des Étang, der so breit war, dass zwei Fischkutter nebeneinander hinaus aufs Meer fahren konnten, ohne dass sie sich zu nah kamen – »… dort geht’s schon hinaus ins offene Meer!«
Links und rechts des Abflusses war das Ufer mit großen weißen Steinen aufgeschüttet. Manuel wusste nicht, ob das schon immer so gewesen war oder ob diese Uferböschung von Menschenhand geschaffen wurde. Das musste er dringend Papa fragen, dachte er und ärgerte sich, dass er dies nicht schon längst getan hatte. Wenn er Kundschaft empfing so wie jetzt, dann musste er auf jede Frage eine Antwort haben. »Somit ist immer für genügend Meerwasserzufluss gesorgt.«
»Beeindruckend!«, sagte der Feinkosthändler aus Paris, und die Skepsis in seiner Stimme war verflogen.
Manuel lächelte ihn an. »Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen jetzt unser kleines Feinkostwarenlager. Wie Sie wissen, verkaufen wir seit letztem Jahr nicht mehr nur Austern, sondern auch Honig, Olivenöl, feinsten geräucherten Wildschweinschinken und einiges mehr. Alles wird hier bei uns im Süden produziert.«
»Bei Ihrer Aufzählung läuft einem ja das Wasser im Mund zusammen«, sagte Monsieur Garrout lachend. »Haben Sie etwa auch eine kleine dégustation vorbereitet?«
Manuel überlegte kurz. Als der Pariser Kunde völlig überraschend mit seinem Automobil vorgefahren war, war er, Manuel, gerade dabei gewesen, die gestrigen Bestellungen, die per Telefon oder Post eingetroffen waren, fertigzumachen – auf eine Verkostung war er nicht eingestellt. Aber da der Mann schon einmal da war …
»Selbstverständlich!«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Wenn Sie kurz hier warten, hole ich noch ein Dutzend fangfrische Austern dazu!« Er zeigte auf die hölzerne Bank, die vor dem Lagerschuppen stand, dann rannte er in Richtung der Fischerhütten davon.
Wie immer waren die Austernfischer um diese Uhrzeit damit beschäftigt, die Tagesernte direkt von ihren Booten herab dutzendweise in Spankörbe abzupacken. Diese mit einem Deckel geschlossenen Körbe kamen später in große Kisten mit Eis, die mit der Eisenbahn bis Lyon oder Paris verschickt wurden. Die Zeiten, in denen man Austern per Boot auf den Kanälen verschifft hatte, seien noch gar nicht lange vorbei, erzählte sein Vater gern, doch Manuel hatte nur noch eine vage Erinnerung daran.
Er war gerade dabei, von einem der Boote ein paar besonders große Austernexemplare auszusuchen, als er von Weitem seinen Vater auf sich zukommen sah. Obwohl Émile Sarda in wenigen Monaten schon fünfzig Jahre alt wurde, schritt er immer noch aus wie ein junger Mann – kraftvoll und wie jemand, der unzertrennlich mit der Erde, über die er lief, verbunden war, dachte Manuel stolz.
»Wie weit bist du mit deinen Bestellungen? Eduard Latour kommt in einer Stunde!«, rief Émile, noch bevor er bei Manuel angekommen war.
Dieser runzelte die Stirn. »So bald schon?« Er hatte erst ungefähr die Hälfte der Bestellungen gepackt gehabt, als der Pariser Kunde erschienen war.
Émile Sarda nahm sich eine Auster, zückte das Messer, das er immer mit sich führte, und öffnete sie. »Was heißt hier so bald? Eduard fährt jeden Vormittag um elf zum Bahnhof!« Er legte die Auster an seinen Mund und kaute sie genüsslich, um den vollen Geschmack zu genießen.
Wer Vater und Sohn so zusammen sah, kam nicht auf die Idee, »wie aus demselben Holz geschnitzt« zu sagen. Beide waren auf ihre Art attraktive Männer – der eine jünger, der andere älter. Aber Émile Sarda war von gedrungener Statur, muskulös wie ein Seemann, während Manuel groß und schlank war. Seine Hände mit den langen, schlanken Fingern und den schmalen Fingernägeln glichen eher denen eines Pianisten, während Émiles Pranken einfach nur zupackend waren. Und während dessen Kopf lediglich noch von einem spärlichen Haarkranz bedeckt war, lockten sich Manuels dunkelbraune Haare wild und ungebändigt. Auch war sein Teint etwas dunkler und das nicht nur zur Sommerzeit, wenn die Sonne die Haut bräunte. Doch so unterschiedlich Vater und Sohn vom Aussehen her waren – in ihrer Zuneigung zueinander waren sie sich absolut gleich. Natürlich gab es auch im Hause Sarda ab und an Unstimmigkeiten, aber Manuel liebte seine Eltern abgöttisch, und umgekehrt traf das auch zu. Deshalb herrschte nach jeder Auseinandersetzung schnell wieder Frieden.
Er sei der Sohn ihres Herzens, hatte seine Mutter zu ihm gesagt, als er damals, vor vielen Jahren, herausgefunden hatte, dass er gar nicht der leibliche Sohn der Sardas war. »Wir würden unser Leben für dich geben!«, hatte Émile schluchzend angefügt. »Du bist und bleibst unser Sohn, ganz gleich, was war, ganz gleich, was geschieht. Alles andere ist unwichtig.«
Nun nickte Manuel in Richtung des Lagerhauses, vor dem das Automobil des Pariser Feinkosthändlers stand. »Monsieur Garrout stattet uns gerade einen Überraschungsbesuch ab. Er verbringt mit seiner Familie den Sommerurlaub in Gruissan. Ich kann ihn doch nicht einfach wegschicken!« Und das wollte er auch nicht, ergänzte er im Stillen, es war ihm wichtig, dem Feinkosthändler das ganze Angebot seines Lagers zu zeigen!
»Nun, wenn du mit deinen Bestellungen fertig werden willst, darfst du Garrout nicht ganz so viele Häppchen zum Probieren geben. Und deine Ausführungen über die Feinheiten der Honiggewinnung und das Pressen von Olivenöl solltest du ebenfalls auf ein Minimum reduzieren.« Grinsend führte sich Émile Sarda eine weitere Auster zu Gemüte. »Vielleicht wäre es auch hilfreich, wenn du Monsieur Garrout nicht auf Teufel komm raus davon überzeugen wolltest, dass grobkörniger Senf und Austern eine köstliche Kombination ergeben!« Seine Stimme triefte vor liebevoller Ironie. Er versetzte seinem Sohn spielerisch eine leichte Kopfnuss, dann ging er davon.
Seufzend schaute Manuel ihm hinterher. So richtig begeistert war sein Vater von der Erweiterung ihres Angebots immer noch nicht. »Unsere Familie verdient mit der Austernzucht seit Generationen ihren Lebensunterhalt – warum soll sich das jetzt ändern? Und dann dieser Aufwand …«, hatte er eingewendet, als Manuel mit seinem Vorschlag dahergekommen war. Dass er letzten Endes doch einwilligte, lag nicht etwa daran, dass er sich vom Verkauf von Oliven und Honig ein gutes Geschäft versprach. Oder daran, dass er, Manuel, sich um alles kümmern wollte. Es lag einzig an der Tatsache, dass Émile seinen Sohn über alles liebte und es so gut wie nie übers Herz brachte, ihm einen Wunsch abzuschlagen.
Umso wichtiger war es, dass er Papa nicht enttäuschte, dachte Manuel, während er mit den Austern in Richtung Lagerhaus ging. Er würde auf die Uhr schauen – zwanzig Minuten für Monsieur Garrout, mehr nicht! Wenn er sich danach sputete, würde er seine restlichen Bestellungen fertigbekommen, bis Latour mit dem Lieferwagen kam. Auch wenn sein Herz derzeit mehr für die Feinkostwaren schlug – er war der Sohn eines Austernhändlers, das durfte er nie vergessen.
»Wie gut es hier riecht, fast wie bei uns im Geschäft«, sagte der Feinkosthändler, als Manuel den kleinen Lagerschuppen aufgeschlossen hatte. »Allerdings geht es bei uns doch eine Spur … vornehmer zu. Pariser Chic, Sie verstehen?« Er hüstelte blasiert.
Warum nur waren die Pariser alle so von sich eingenommen?, fragte sich Manuel nicht zum ersten Mal. »Dafür ist es angenehm kühl hier drinnen!«, sagte er gut gelaunt. Dann zeigte er auf die grob gezimmerten Holzregale, welche alle vier Wände des Schuppens säumten. »All unsere Produkte stammen hier aus der Gegend von kleinen Höfen. Entsprechend sind die Mengen, die wir anbieten können, äußerst gering. Von diesem luftgetrockneten Wildschweinschinken hier habe ich beispielsweise nur exklusive sechs Stück.« Er musste dringend rüber zu seinem alten Freund Nici Latour und für Nachschub sorgen. Nici war wie sein Vater Eduard ein begeisterter Jäger. Und derzeit hingen in der Kühlkammer der Latours einige saftige Wildschweinschinken zum Reifen. Mindestens ein halbes Dutzend davon wollte er, Manuel, für seine Pariser und Lyoner Kundschaft haben.
»Von dem Schinken hatten Sie das letzte Mal eine Portion zum Probieren in die Austernlieferung gepackt, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe ihn sofort nachbestellt …«
Manuel nickte stolz. Dass sie den Austernlieferungen immer wieder einmal Kostproben von ihren anderen Waren beilegten, war seine Idee gewesen. Die Kunden liebten es, von ihm überrascht zu werden und ein kostenloses Extra zu bekommen.
»Kennen Sie schon diesen rosafarbenen Knoblauch?« Fast zärtlich ließ Manuel seine rechte Hand über einen geflochtenen Zopf aus Knoblauchknollen gleiten. Sie fühlten sich glatt und maserig zugleich an. »Er kommt von einem Bauernhof am Fuße der Pyrenäen.«
»Rosa Knoblauch?« Der Pariser Feinkosthändler runzelte die Stirn.
Manuel nickte. »Ich mag die milde Süße dieser Sorte, die den Gaumen nicht so ›überfällt‹, wie der gewöhnliche Knoblauch es tut. Ein paar winzige Würfel davon über eisgekühlte Austern gestreut – das ist in meinen Augen ein Hochgenuss!« Am liebsten hätte er Monsieur Garrout ein paar Austern auf diese Art probieren lassen, doch dafür blieb heute keine Zeit. Also griff er eilig nach einem kleinen Leinensäckchen im Regal. Die Zeit, ein paar Nüsse zu verkosten, hatten sie noch!
»Diese goldgelben Haselnüsse kommen ebenfalls von einem Hof in unserer Nähe, genau wie die salzig eingelegten Oliven …« Noch während er sprach, legte er je ein paar Nüsse und Oliven auf einen weißen Porzellanteller. Dann holte er einen Senftopf vom Regal und gab mit einem Löffel einen kleinen Klacks davon ebenfalls auf den Teller. Gekonnt öffnete er dann in Windeseile die Austern.
»Erst rosafarbener Knoblauch, nun fast lilafarbener Senf?« Der Feinkosthändler lachte irritiert auf.
»Nicht nur der Gaumen – auch das Auge von Restaurantgästen und Feinschmeckern möchte verwöhnt werden, nicht wahr?«, sagte Manuel. Selbst als er mit seinen Eltern im letzten Jahr bei der Weltausstellung in Paris gewesen war, war Senf, verfeinert mit Kräutern, Gewürzen oder eben Blüten, in keinem Restaurant auf den Tisch gekommen. Das hatte ihn erst auf die Idee gebracht, die feinen Produkte des Südens in den Norden zu verkaufen.
»Dieser Senf wird mit zerstoßenen Hibiskusblüten verfeinert, das verleiht ihm die herrliche Farbe. Austern mit einem Spritzer Zitrone kennt jeder – aber haben Sie schon einmal Austern mit einem Hauch grobem Senf probiert? Greifen Sie nur zu, Monsieur Garrout!«
Der Feinkosthändler ließ sich nicht zweimal bitten. »Dieses leicht blumig-bittere Aroma zu den salzigen Austern … köstlich!«, rief er, und seine Augen weiteten sich wie bei einem Liebhaber, der seine Angebetete nackt vor sich sieht. »Von diesem Hibiskusblütensenf nehme ich alles, was Sie liefern können!«
Die dünne Jacke locker über eine Schulter geworfen, betrat Manuel die Terrasse, wo es sich seine Eltern wie so oft nach dem Abendessen gemütlich gemacht hatten. Seine Mutter mit einer Handarbeit, sein Vater mit der Tageszeitung.
»Ich geh ins Dorf«, sagte er.
»Da komm ich mit!«, rief Émile Sarda sogleich und klappte die Zeitung zu. »Mal wieder eine Runde Boule-Spielen kann nicht schaden.«
Mist!, ärgerte sich Manuel. Einen Moment lang überlegte er, ob er zu einer kleinen Notlüge greifen sollte, doch sogleich entschied er sich dagegen. Sie drei würden sich immer die Wahrheit sagen – das hatten sich seine Eltern und er einst geschworen.
»Ich glaube, heute findet kein Boule-Spiel statt. Ich … ich treffe Adèle.« Unwillkürlich hielt Manuel die Luft an. Seine Mutter war nicht begeistert von seiner Freundschaft mit Adèle Vinet, das wusste er. In Sabrine Sardas Augen hatte er »etwas Besseres« verdient – eine Prinzessin idealerweise, mindestens jedoch eine Comtesse oder Duchesse! Wie Sabrine auf die Idee kam, dass sich solch adelige Damen für ihn interessieren könnten, wusste Manuel beim besten Willen nicht. Aber dass er sich ausgerechnet in die Tochter des Senfmachers Thibaut Vinet verliebt hatte, ärgerte seine Mutter insgeheim – das wusste er, auch wenn sie dies nicht laut sagte. Auch jetzt stieß Sabrine Sarda nur abgrundtiefe Seufzer aus.
Maman und ihr Standesdünkel, dachte Manuel grinsend, dann ging er gut gelaunt davon.
Es war nicht so, dass er etwas gegen die jungen Frauen hatte, die seine Eltern ihm im Laufe der letzten zwei Jahre vorgestellt hatten. Ob Emanuelle Dorée oder Florence Buzac, ob Gisèle Delamare oder Comtesse Jolie de Blanc – sie alle waren auf ihre Art nett. Aber Emanuelle, deren Vater im Elsass eine kleine Konservendosenfabrik besaß, traute sich wegen ihres Stotterns kaum, ein Wort zu äußern. Und Gisèle, deren Großmutter – so munkelte man – vermutlich Gustave Flaubert zu seinem Roman Madame Bovary inspirierte, redete zwar viel, sehr viel sogar, aber immer nur über Bücher! Auch er las gern – über die Austernzucht, das Meer, aus dem angeblich alles Leben stammte, über die Astrologie. »Da habt ihr doch etwas gemeinsam«, hatte seine Mutter gemeint. Von wegen!, dachte Manuel, während die ersten Häuser des Dorfes in Sicht kamen. Mit wissenschaftlichen Werken konnte Gisèle nichts anfangen – sie las nur alte Dichter wie Jean la Fontaine oder Molière.
Manuel blieb für einen Moment stehen und holte ein Steinchen, das ihn schon eine ganze Weile pikte, aus seinem linken Schuh. Es gab auch junge Frauen, mit denen er sich durchaus gut unterhalten konnte, so wie beispielsweise mit Comtesse Jolie de Blanc. Ihre Vorfahren väterlicherseits waren allesamt Seefahrer gewesen, und auch Jolie liebte das Meer über alles. Sie liebte das Schwimmen im Meer, sie liebte das Segeln, das sie so gut beherrschte wie sonst nur Männer. Und sie liebte es, tüchtig Seemannsgarn zu spinnen, dachte Manuel grinsend. Als man ihm Jolie während eines Banketts im Château Les Carrasses in Capestang vorgestellt hatte, war er fasziniert gewesen von der blonden Schönheit … Seine Mutter, hatte er aus dem Augenwinkel heraus bemerkt, hatte seinem Vater schon frohlockend einen Stoß in die Rippen gegeben. »Eine Comtesse und unser Junge – einfach nur perfekt!«, hatte er aus dieser Geste herausgelesen. Dass Jolies Familie einst sogar mit dem französischen Königshaus verbunden gewesen war, beeindruckte Sabrine sehr.
Dass es nicht passte, hatte Manuel allerdings schon am selben Tag herausgefunden, nämlich beim achtgängigen Menü, wo Jolie und er sich »rein zufällig« gegenübergesessen hatten. Die Seefahrertochter hatte wie ein Spatz gegessen, hatte sich weder für das pochierte Ei auf feinem Endiviensalat begeistern können noch für den sanft geräucherten Lachs. Und auch von den Hauptgerichten – ein vorzüglicher Rehrücken und eine perfekt angebratene Dorade – hatte sie nur probiert und die Teller dann fast angewidert von sich geschoben. Auf seine Frage hin, ob sie krank sei, weil sie so wenig esse, hatte Jolie ihn entsetzt angeschaut und gemeint, sie erfreue sich bester Gesundheit, aber für eine Dame zieme es sich nun einmal nicht, zu essen wie ein Matrose.
Essen ziemte sich nicht? Was für ein Blödsinn! Das war zumindest Manuels Meinung. Natürlich mussten die Damen auf ihre schlanke Taille achten. Aber deswegen konnte man doch die feinen Gaben, die der liebe Gott einem schenkte, trotzdem genießen!
Manuels grüblerische Stimmung verflog schlagartig, als die kleine Senfmanufaktur Thibaut Vinet in Sichtweite kam. Adèle jedenfalls liebte das Essen! Hier eine Aprikose, da ein paar Nüsse, ein Stück Baguette oder ein Happen vom Käse – es kam selten vor, dass sie irgendetwas ablehnte. Trotzdem war sie gertenschlank, dachte Manuel schwärmerisch. Und sie hatte die hübschesten Sommersprossen, die man sich vorstellen konnte. Ob sie sprach, ob sie lachte, ob sie eine Grimasse zog – ihre Sommersprossen tanzten bei jedem Minenspiel auf ihrer zarten Haut. Mit Adèle hatte er sich auch immer etwas zu erzählen. Sie sprach so lebendig, dass er regelrecht an ihren Lippen hing.
Manuel seufzte selig, als er den Türklopfer der Senfmanufaktur, in deren ersten Stock die Familie Vinet wohnte, betätigte. So wundervoll wie Adèle war keine andere junge Frau …
Kurze Zeit später saßen sie auf einem Felsbrocken am Strand und aßen die ersten reifen Kirschen, die Adèle in einem kleinen Körbchen mitgebracht hatte. Während sie die tiefroten Kirschen aßen und die Kerne in weitem Bogen in den Sand spuckten, schimpfte Adèle wie ein Rohrspatz.
»Mutter ist so schrecklich altmodisch! Kannst du mir bitte schön sagen, was so schlimm ist an meinem Wunsch, bei der Feldarbeit eine Hose tragen zu dürfen?« Schwungvoll warf sie ihre langen roten Haare über die Schultern nach hinten.
Manuel lachte auf. »Eine Hose – du?«
»Ja, so flotte Sansculottes, wie ihr Männer sie im Sommer tragt! Das wäre bei der Arbeit auf den Senffeldern so viel luftiger als die langen Röcke und Unterröcke. Aber Maman ist so stur! Das Hause Vinet sei ein ehrenvolles, hat sie mir vorgehalten, da passe es nicht, dass die Tochter des Hauses sich kleide wie ein Mann. Pfff!« Adèle nahm ein Steinchen und warf es im hohen Bogen ins Wasser. »Das werden wir ja sehen, wer hier den längeren Atem hat. Wenn sie glaubt, mir weiter vorschreiben zu können, was ich anzuziehen habe, muss ich wohl ausziehen …«
Manuel musste ein Schmunzeln unterdrücken. Adèle und ausziehen? Wohin denn, bitte? Außerdem – sie liebte die Arbeit in der Senfmanufaktur doch viel zu sehr, um sie wegen einer Hose aufzugeben. Er war allerdings klug genug, seine Gedanken für sich zu behalten. »Deine Mutter und du – ihr seid einfach aus demselben Holz geschnitzt. Sie ist stur und du bist es auch«, sagte er stattdessen leichthin. Doch im nächsten Moment runzelte er die Stirn.
»Was ist? Warum bist du so plötzlich still?«, fragte Adèle nach ein paar Minuten.
Er schüttelte nur den Kopf. »Es ist nichts …«, sagte er und hörte selbst, wie unecht er klang.
»Das ist nicht fair! Ich breite regelmäßig mein Herz vor dir aus und du …« Halb spielerisch, halb ernst gab Adèle ihm einen kleinen Stups. »Ich hab doch für alles Verständnis – nun sag schon, was los ist!«
Er verzog den Mund. Eigentlich hatte er sich vor langer Zeit geschworen, über dieses Thema niemandem gegenüber ein Wort zu verlieren. Aber vor ihm saß nicht irgendjemand, sondern Adèle, die er über alles liebte. Falls es wirklich etwas Ernstes wurde mit ihnen, dann sollte sie über ihn Bescheid wissen …
»Als du gerade über deine Maman gesprochen hast, ist mir die Frage durch den Kopf geschossen, wer wohl meine Mutter ist … Immer, wenn ich an sie denke, macht mich das nachdenklich und wütend zugleich. Wahrscheinlich rührte daher mein Schweigen.«
»Deine Maman?« Adèle lachte irritiert auf. »Ich verstehe nicht …«
Er schaute sie an. »Die Sardas sind nicht meine leiblichen Eltern. Sie haben mich adoptiert, als ich noch ein bébé war.« Er zuckte mit den Schultern. So. Nun war es raus!
»Du bist … adoptiert?« Adèle schaute ihn fassungslos an. »Aber … wieso weiß ich das nicht? Das ist ja verrückt! Ich kenne sonst niemanden, der adoptiert ist.«
»Meine Eltern und ich hielten es für das Beste, die Adoption weitgehend geheim zu halten. Ehrlich gesagt, denke ich so gut wie nie daran. Émile ist mein Vater und Sabrine meine Mutter, und sie sind die besten Eltern, die man sich denken kann!«
Adèle nickte. »Ich stelle mir das komisch vor, nicht zu wissen, woher man kommt. Hattest du denn nie das Bedürfnis, mehr über deine leibliche Mutter herauszufinden?«
Manuel schüttelte den Kopf. Allein die Vorstellung, eines Tages der Frau gegenüberzustehen, die ihn ausgesetzt hatte wie einen überflüssigen Welpen, verursachte in ihm eine regelrechte Übelkeit. Was würde er in diesem Moment tun? Wie würde er reagieren? Unwillkürlich ballte er seine Hand zur Faust.
»Weißt du denn, wo sie lebt?« Adèle nahm eine Kirsche und betrachtete sie nachdenklich.
»Ich habe weder einen Namen noch eine Adresse.« Sollte er es damit auf sich beruhen lassen?, fragte er sich stumm. Doch dann hörte er sich sagen: »Es gibt allerdings eine alte Bekannte meiner Eltern, Stéphanie heißt sie. Ich bin mir nicht sicher, aber … ich glaube, sie weiß was. Jedenfalls hat sie früher, als ich ein Kind war, manchmal so komische Andeutungen gemacht …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich aber auch täuschen – es ist Jahre her, dass ich diese Stéphanie das letzte Mal gesehen habe.«
»Mir scheint, das ist ein Rätsel mit vielen Fragezeichen«, stellte Adèle fest, woraufhin er nur kläglich nickte.
Sie nahm seine Hand. »Nun sei nicht so traurig! Wie du selbst sagst – du hast die besten Eltern, die du dir vorstellen kannst!« Ernst schaute sie ihn an. »Wenn der liebe Gott will, dass du deine Mutter kennenlernst, dann wird es irgendwann geschehen. Und wenn nicht, dann versäumst du wahrscheinlich auch nicht viel. Eine Mutter, die ihr Kind hergibt …« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Wenn ich einmal ein Kind bekomme, würde ich es nie hergeben, dazu würde ich es viel zu sehr lieben!«
Manuel warf ihr einen gerührten Blick zu. Adèle war wirklich eine junge Frau mit Herz. Und klug war sie obendrein! »Wahrscheinlich hast du recht.« Er seufzte tief auf. »Jeder Gedanke, den ich an diese Frau verschwende, ist einer zu viel.«