In den nächsten Tagen brach eine Welle der Hilfsbereitschaft über Fabienne und ihre Familie herein, wie sie es sich nie hätten vorstellen können.
Aus Paris kam ein Brief als Antwort auf Yves’ Telegramm. Marthe Distel schrieb, dass sie ihr Gespräch jederzeit nachholen könnten, Fabienne solle sich keine Sorgen machen.
Die Handwerker, die das Pourquoi Pas vor eineinhalb Jahren ausgebaut hatten, ließen ihre laufenden Baustellen ruhen. Der eine reparierte die Eingangstür, die Pierre eingetreten hatte. Der nächste tauschte zu Bruch gegangene Bodenfliesen aus. Gemeinsam trugen sie das zerstörte Mobiliar nach hinten in den Garten und stapelten es an der Hauswand entlang. Irgendwann einmal, wenn er Zeit hatte, würde Yves Brennholz aus den Tischen und Stühlen machen.
Der Glaser kam und setzte neue Fensterscheiben ein.
Der Steinmetz maß eine neue Platte für die Theke aus. Ein Stück Marmor in dieser Größe war nicht leicht zu bekommen, bis er etwas Passendes fand, wollte er provisorisch eine Holzplatte montieren.
Alain Pinot bot Yves an, mit ihm in seinem großen Lastenmobil nach Narbonne zu fahren, um dort neue Tische und Stühle zu kaufen.
Auch die Frauen aus dem Dorf halfen. Die einen putzten, die anderen brachten Tischdecken, die sie entbehren konnten – auch wenn es noch keine Tische gab. Wieder andere buken große Schmalzkuchen und versorgten die Handwerker damit. Sogar Violaines Lehrerin Mademoiselle Truffle kam eines Tages vorbei und schwenkte unbeholfen einen Putzlappen.
Bruno teilte seine Zeit auf zwischen dem Herd, wo er große Töpfe mit Eintopf für die Helfenden kochte, und dem Restaurant, wo er überall da anpackte, wo Not am Mann war.
Suzanne de Valmont war ebenfalls zur Stelle. Während ihre Tochter Monalie im Stubenwagen in der warmen Küche schlief, putzte sie die neu eingesetzten Fensterscheiben.
André Decasse und seine Mutter spülten jedes neue Glas, jeden neuen Teller, den Yves eingekauft hatte.
Der Bürgermeister schaute täglich vorbei und verkündete lautstark, dass das Restaurant für die Zeit der Renovierung keinerlei Abgaben zu entrichten habe.
»Wir lassen euch nicht im Stich!«, hörten Yves und Fabienne immer wieder.
Angesichts all der vielen Hilfe gelang es der Familie, den Schrecken der Nacht langsam, aber sicher zu verarbeiten. So gut, wie die Renovierung voranschritt, sah sich Fabienne im Geist schon wieder an ihrem Herd stehen und für die Gäste kochen. Der Gedanke gab ihr Kraft und Zuversicht.
Doch dann erreichte sie die nächste schlechte Nachricht.
Es war früher Morgen, Fabienne und ihre Familie saßen bei Kaffee und lauwarmen Croissants zusammen.
»Oje!« Erschrocken schaute Lucy von der Tageszeitung auf, die sie wie jeden Morgen auf die Schnelle durchblätterte. Ihr Blick wanderte über den Frühstückstisch hinweg zu Fabienne. »Deine alte Bekannte … diese Stéphanie de Carneval … Da steht, sie ist letzte Woche verstorben.«
»Was?« Fabienne zuckte zusammen, als habe sie einen Schlag erhalten. »Stéphanie ist tot? Aber … wie? Warum?« Verwirrt schaute sie von Lucy zu Yves.
»So etwas passiert nun mal. Minou, mein weißes Huhn, ist letzte Woche auch gestorben. Traurig ist das!«, sagte Violaine und ergriff Fabiennes Hand.
»Da steht, es sei ein Unfall mit dem Automobil gewesen«, sagte Lucy stirnrunzelnd.
»Ja, und? Lies vor!«, sagte Fabienne rau.
»›Es wird angenommen, dass Stéphanie de Carneval unterwegs zu ihrem Château in den Bergen war‹«, las Lucy. »›Die Gendarmerie mutmaßt, dass sich der Schal von Madame de Carneval in den Speichen eines der Hinterräder verheddert hat. Als die Verunglückte gefunden wurde, lag ihr Automobil im Graben. Die Fahrerin sei wohl von ihrem eigenen Seidenschal stranguliert worden – so ließ es die Gendarmerie verlauten.‹«
Yves gab ein leises Schnauben von sich, dann murmelte er: »Dieser Tod passt zu Stéphanie.« Zugleich winkte er Violaine davon, die Schule fing bald an.
»Wie kannst du nur so gemein sein?« Fabienne fuhr zu ihm herum. »Wie wäre es mit ein bisschen Mitgefühl?«
»Mitgefühl für die Frau, die dir so viel angetan hat?« Yves schüttelte den Kopf. »Stéphanie hat endlich ihre gerechte Strafe bekommen«, sagte er und stand auf. »Ich fahre jetzt Wein kaufen und bin gegen Mittag zurück. Adieu!«
»Ich räum hier auf«, sagte Lucy und zeigte auf den Frühstückstisch. »Gönn du dir einen ruhigen Moment!«
Fabienne warf ihrer Schwester einen dankbaren Blick zu, dann ging sie hinauf in ihr Schlafzimmer.
Ausgerechnet Stéphanie mit ihrer unbändigen Lust aufs Leben musste so früh sterben, dachte sie, als sie auf ihrem Bett saß. Und was genauso schlimm war – Stéphanie hatte ihr Wissen über Victors Verschwinden mit ins Grab genommen. Nun würde sie nie mehr herausfinden können, was damals wirklich geschehen war. Über den Tod hinaus würden dadurch ihre beiden Leben miteinander verflochten sein …
Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren.
Es war in Carcassonne gewesen, im Dezember 1880, spätabends. Sie hatte an dem Tag ihr Zimmer und ihre Arbeit verloren und war verzweifelt. Als sie verlassen an der Straße kauerte und nicht wusste, wohin sie gehen sollte, hatte jemand sie an der Schulter berührt. Stéphanie Morel, gekleidet in ein feuerrotes Tanzkostüm. Sie hatte unbemerkt das elterliche Weingut verlassen, um heimlich ein Flamencolokal zu besuchen. Spontan hatte sie Fabienne in ihre Kutsche gezogen und mitgenommen. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich als Fabiennes »Retterin« zu sehen! Ob sie dadurch Ärger mit ihren Eltern bekam – das war Stéphanie in diesem Moment gleichgültig. Und sie, Fabienne, war ihrer Retterin damals so dankbar!
Dass Stéphanie, die reiche Tochter des Hauses, sich weiterhin für sie interessierte, hatte ihr natürlich geschmeichelt.
Fabienne seufzte auf. So richtig verstanden hatte sie die ehemalige Freundin nie. Heute dies, morgen das – Stéphanie war ein Leben lang wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte geflattert und war stets eine Meisterin darin gewesen, ihren Willen durchzusetzen.
Unwillkürlich musste Fabienne lächeln. Doch das Lächeln schwand so schnell wieder, wie es gekommen war. War sie etwa gerade dabei, Stéphanies selbstsüchtiges Verhalten schönzureden? Immerhin hatte sie, Fabienne, dadurch vermutlich ihren Sohn verloren!
Eine Zeit lang starrte sie ins Leere. Von unten drang das Klappern von Geschirr zu ihr herauf. Eigentlich hätte sie sich aufrappeln und Bruno beim mise en place helfen müssen. Stattdessen blieb sie weiter auf ihrem Bett sitzen, in dumpfes Grübeln versunken. Dass Stéphanie so ein jähes Ende fand, darauf war sie sicher nicht vorbereitet gewesen.
Aber konnte man auf den Tod überhaupt vorbereitet sein?
Fabienne runzelte irritiert die Brauen. Was war denn das für eine seltsame Frage?, dachte sie und stand abrupt auf. Es war schließlich höchste Zeit, dass sie sich wieder ihren Aufgaben widmete.
Die anstrengenden Tage der Renovierung, die Schreckensnachricht von Stéphanies Tod – eigentlich hätte Fabienne in dieser Nacht vor Erschöpfung sofort einschlafen müssen. Doch das Gedankenkarussell, das durch Stéphanies Tod in ihr ausgelöst worden war, wollte einfach nicht aufhören, sich zu drehen.
Wenn ihr die Stunde einmal so jäh schlagen würde – wäre sie dann »bereit« dafür?, fragte sie sich. Würde sie den Nektar des Lebens in seiner ganzen Fülle gekostet haben? Würde sie genügend gelebt und geliebt haben?
Unruhig wälzte sich Fabienne von einer Seite zur andern. Wenn sie zurückschaute, dann hatten bisher eigentlich nur zwei große Themen ihr Leben bestimmt: die Suche nach ihrem Sohn und der Traum von ihrem Restaurant.
Genau zwei Wochen nach Pierres Gewaltakt erstrahlte das Pourquoi Pas in neuem Glanz. Während Yves den Einkauf von Wein und Champagner übernahm, warteten Bruno, Suzanne und Lucy auf Fabiennes Anweisungen für den Tag der Neueröffnung. Sollte es zur Feier ein besonderes Tagesgericht geben? Wann wollte Fabienne neue Vorräte einkaufen? Oder sollten Bruno und Lucy die Einkäufe übernehmen? War geplant, alle freiwilligen Helfer zu einem Umtrunk einladen? Falls ja – wollte Fabienne einen kleinen Imbiss dazu servieren?
»Das wird man sehen«, sagte Fabienne. Oder: »Das entscheide ich morgen.« Oder: »Das ist im Augenblick nicht so wichtig.«
Yves, Lucy, Marie-Claire und Alain tauschten immer öfter besorgte Blicke. So teilnahmslos kannten sie die umtriebige Köchin nicht.
Selbst als Bruno fragte, ob er für Violaines Geburtstag in der kommenden Woche eine Torte backen sollte, zuckte Fabienne nur mit den Schultern. Irgendwie konnte sie sich zu keiner noch so kleinen Entscheidung aufraffen.
Das in neuem Glanz erstrahlte Restaurant blieb auch die ganze letzte Januarwoche über zu. Und eine Torte gab es zu Violaines zwölftem Geburtstag auch nicht – ohne Fabiennes Zustimmung hatte Bruno sich nicht getraut, so ein teures Backwerk herzustellen. Also besorgte Lucy beim Bäcker kleine Chocolatines. Da von Fabienne weiterhin nichts kam, ging Lucy mit dem Geburtstagskind nach der Schule zum Hafen, wo der Vater von André Decasse sie zur Feier des Tages eine Runde mit seinem Boot mitnahm.
Anfang Februar suchten Bruno und Suzanne Yves auf. Auch Lucy gesellte sich zu dem Gespräch.
»Wie geht es denn nun weiter? Jeden Tag klopfen Leute an die Tür und fragen, wann wir wieder öffnen«, sagte Bruno, als sie rund um einen der neuen Tische im Restaurant saßen. Er klang besorgt und ungeduldig zugleich.
»Es ist doch alles fertig, wir könnten jederzeit wieder loslegen!«, sagte auch Suzanne.
Yves schaute in Richtung Küche, wo Fabienne wie so oft am Küchentisch saß und ins Leere starrte. Als er sie gebeten hatte, zu dem Gespräch dazuzukommen, hatte sie nur abgewinkt, und auch Lucys gutes Zureden hatte nicht geholfen.
Yves schaute in die Runde. »Der Überfall aufs Restaurant, der Tod ihrer alten Bekannten – Fabienne hat das alles noch nicht verkraftet, sie braucht einfach noch ein bisschen Ruhe. Was meint ihr – könnten wir auch ohne unseren chef de cuisine eröffnen?«
Die drei schauten sich an.
»Ohne Fabie?« Lucy runzelte die Stirn. Ihr Blick wanderte zu Bruno.
»Wenn’s nicht anders geht – warum nicht? Ein paar Tage bekommen wir das schon hin«, antwortete Bruno.
»Genau – warum nicht? Wir sind schließlich das Pourquoi Pas!«, fügte Suzanne an und zum ersten Mal seit langer Zeit lachten sie gemeinsam.
»Langsam weiß ich mir keinen Rat mehr, was Fabiennes Teilnahmslosigkeit angeht«, sagte Yves zu Lucy, als sie wieder allein waren. »Ein Urlaub, die Reise nach Paris, eine Fahrt zu Noah oder Guy an den Canal du Midi – ganz gleich, was ich ihr vorschlage, sie hat auf nichts Lust! Und für das Restaurant interessiert sie sich auch nicht mehr.« Er warf hilflos beide Arme in die Höhe.
Lucy nickte grimmig. »Fabienne erinnert mich immer mehr an unsere Maman damals. Je erschöpfter unsere Mutter war, desto teilnahmsloser wurde sie! Genau wie Fabienne jetzt hatte sie irgendwann keinerlei Freude mehr am Leben, sagte zu allem nur noch Ja und Amen. Yves – es muss dringend etwas geschehen!«
Betroffen schaute Yves seine Schwägerin an. »Du tust ja gerade so, als hätte ich deine Schwester geschunden wie einen Ackergaul. Dabei versuche ich ständig, Fabienne zu bremsen, das weißt du ganz genau! Wenn es nach ihr ginge, hätten wir immer noch keinen Ruhetag! Und …«
Lucy hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Keine Sorge, ich kenne meine Schwester. Fabienne brennt für ihre Arbeit, sie merkt gar nicht, dass sie sich selbst dabei zugrunde richtet.«
»Und wie sollen wir verhindern, dass sie völlig ausbrennt? Sie hört doch nicht auf uns …«
»Aus diesem Grund muss jemand anderes dafür sorgen, dass Fabienne wieder zu Kräften kommt! Deine Frau braucht dringend eine Erholungskur, am besten weit weg von allem. Heilende Bäder, stärkende Anwendungen, sich an einen gedeckten Tisch setzen, anstatt selbst zu kochen – das wird Fabienne guttun. Und wir reden hier nicht über Tage, sondern einige Wochen!«
»Eine Kur? Für einige Wochen? Aber wie soll das gehen? Das Restaurant –«
»Das Restaurant muss dann eben ohne Fabie auskommen!« Lucy unterbrach ihren Schwager erneut. »Oder willst du riskieren, dass sie viel zu jung stirbt wie einst unsere Mutter?«