Kapitel 32

Paris, Silvester 1902

»Sagen Sie Monsieur Escoffier, sein Essen war wieder einmal vorzüglich!«, wies Stéphanie den schwarz livrierten Kellner an.

»Es ist mir eine Ehre, unserem Küchenchef Ihr Lob ausrichten zu dürfen, Madame de Carneval.« Der Kellner des Restaurants im Hôtel Ritz machte eine tiefe Verbeugung. »Wünschen die Herrschaften ein Dessert?«

»Nein danke, wir haben noch eine Einladung –«, hob Oscar de Carneval an.

»Bringen Sie mir eine Auswahl der kleinen Törtchen, die Ihr patissier so meisterhaft zaubert«, fiel Stéphanie ihrem Mann ins Wort.

Der Kellner entfernte sich mit einem weiteren tiefen Diener.

Oscar warf seiner Frau stirnrunzelnd einen Blick zu. »Törtchen? Hast du nicht schon genug gegessen?«

Stéphanie funkelte ihn wütend an. »Wenn ich zu wenig esse, ist es dir nicht recht. Wenn es mir schmeckt, tadelst du mich – was willst du eigentlich? Vielleicht solltest du dich besser um deinen eigenen Bauch kümmern!« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger pikte sie hart in Oscars Leib, über dem sich die Weste seines Fracks spannte.

»Wie heißt es immer? Ein Mann ohne Bauch ist wie ein Himmel ohne Sterne. Eine dicke Frau hingegen ist einfach nur unattraktiv«, erwiderte Oscar kühl.

Statt zu antworten, drehte sich Stéphanie beleidigt von ihm weg. Sie und dick – was für eine Unverschämtheit!

Es war kurz vor acht, um neun wollten sie im Palais Garnier sein, um dort in einem erlesenen Kreis der gehobenen Pariser Gesellschaft die letzte Nacht des Jahres zu verbringen. Das altehrwürdige Opernhaus lag wie das Hôtel Ritz am Place Vendôme, sie hatten also nur wenige Schritte zu gehen – ein Grund, warum sie hier abgestiegen waren und nicht in Stéphanies Lieblingshotel, dem Hôtel du Louvre.

Die Törtchen kamen. Sie waren, wie erwartet, schön wie kleine Kunstwerke. Begeistert betrachtete Stéphanie den perfekten roséfarbenen Guss des Erdbeertörtchens, auf dem winzig kleine Erdbeeren aus Zucker prangten. Sie bewunderte den tiefdunklen Glanz der Schokoladenglasur eines Petit Four, das mit echten Rosenblättern dekoriert war. Und wie exakt die Schichten des Mille-feuille gearbeitet waren – ihr geübter Blick erfasste auf die Schnelle mindestens zehn Schichten Blätterteig und Vanillecreme.

»Bon appétit«, murmelte Oscar mürrisch und schaute betont auf seine Uhr.

Ohne ihrem Mann auch nur einen Blick zu widmen, stach Stéphanie mit ihrer Kuchengabel lustvoll in das Erdbeertörtchen. Der Zuckerguss knackte kurz, danach erfuhr die Gabel keinen Widerstand mehr, als sie durch den buttrig-zarten Teig fuhr. Mit geschlossenen Augen genoss Stéphanie das Gefühl des dahinschmelzenden Gebäcks auf ihrer Zunge.

Warum nur hatte sie nicht früher gewusst, wie gut man sich durch reichliches Essen fühlen konnte?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Wenn sie an all die Törtchen, Sablés, Eiskreationen und andere Leckereien dachte, die sie ihrer schlanken Linie zuliebe all die Jahre ausgeschlagen hatte! Eine Schande, dachte Stéphanie und schob sich das schokoladige Petit Four mit einem Bissen in den Mund.

Dass sie, die von Kindesbeinen an eine schlechte Esserin gewesen war, so spät im Leben noch das Essen für sich entdeckt hatte, war für Stéphanie noch immer unfassbar. Das erste Mal nach langer Zeit hatte es ihr wieder richtig gut geschmeckt, als sie in Fabiennes Restaurant gegessen hatte. Und das zweite Mal hatte sie an dem Tag mit Appetit gegessen, an dem Manuel Sarda sie im Château Morel besucht hatte. Nachdem sie ihn verabschiedet hatte, war sie zurück ins Haus gegangen. Die Vorstellung, wie Manuel nun Fabienne aufsuchen und ihr Vorwürfe machen würde, hatte sie innerlich erregt wie schon lange nichts mehr. Wie gern wäre sie bei diesem Gespräch heimlich dabei gewesen! Doch dies war ihr nicht vergönnt, sie hatte sich alles nur in ihrer Fantasie ausmalen können.

Deshalb hatte sich Stéphanie frustriert an dem Tisch im Salon niedergelassen, wo Manuel und sie ihr Gespräch geführt hatten. Und nun?, hatte sie sich gefragt und eine seltsame Leere verspürt. Während sie noch überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, war ihr Blick auf die feinen Häppchen gefallen, die ihre Köchin zubereitet hatte. Sie waren unberührt geblieben – Manuel hatte während ihres Gesprächs genügend andere Dinge zu verdauen gehabt.

Nur um etwas zu tun zu haben, griff Stéphanie nach einem der canapés. Die Brotscheibe, darauf die cremige Remoulade und die Scheiben des hauchdünn aufgeschnittenen kalten Bratens hatten sich beim Kauen seltsam tröstlich in ihrem Mund vermischt. Sie hatte den letzten Bissen gerade geschluckt, als sie schon nach dem nächsten canapé griff – es war mit einem Salat aus Hühnerfleisch und Gurke belegt. Auch dieses Häppchen hatte vorzüglich geschmeckt. Vielleicht war es ganz gut, dass sie etwas zu sich nahm, schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, dachte Stéphanie und verputzte ein drittes canapé.

Danach fühlte sie sich besser, die innere Leere, die sich in ihr hatte breitmachen wollen, war durch das Essen verdrängt worden. Fast schon gut gelaunt war sie in den Garten gegangen und hatte zum Erstaunen ihres Gärtners eine Schere verlangt, um damit die verblühten Köpfe der Rosen abzuschneiden. Und anschließend hatte sie sich noch eine Stunde an ihren Schreibtisch gesetzt und ein paar Briefe geschrieben.

Das Essen gab ihr Kraft. Sie fühlte sich dadurch richtig gut, hatte sie zu ihrem eigenen Erstaunen festgestellt.

Von diesem Tag an aß Stéphanie. Sie aß reichlich, und sie aß in unterschiedlichen Restaurants in unterschiedlichen Städten. Die Überarbeitung ihres Guide Carneval, dessen Neuauflage im Januar in den Druck gehen sollte, erledigte sich somit wie von selbst. Das Leben war so viel einfacher, wenn man einen satten Bauch hatte – diese Erkenntnis erstaunte Stéphanie immer wieder. Ob es das Autofahren war oder die Stunden, in denen sie ihre Restaurantbewertungen schrieb – sie hatte endlich wieder genügend Kraft, um ihren Aufgaben nachzugehen! Mehr noch, sogar ihre Laune war nun viel besser!

Am liebsten war es ihr, wenn sie sich allein in ihr Automobil setzen und Restaurants besuchen konnte. So konnte sie in Ruhe essen, ohne Oscars missfälligen Blick auf sich zu spüren. Dass er ihr das gute Essen missgönnte, hatte sie schnell bemerkt. Ihm wäre es wahrscheinlich am liebsten gewesen, sie hätte sich eines Tages zu Tode gehungert!, dachte sie manchmal, wenn sie wieder einmal den letzten Soßenrest auf ihrem Teller mit Brot auftunkte. Seine Sorge im Frühjahr, sie sei magersüchtig, war nur vorgetäuscht gewesen, dessen war sie sich sicher. Wahrscheinlich hatte er sie in einfach in ein Sanatorium abschieben wollen, weil er ihrer überdrüssig geworden war!

Nicht mit ihr! Von jetzt an würde sie ausreichend essen, sodass sie gegen die ganze Unbill der Welt gewappnet war. Wer aß, war stark! Warum nur war ihr diese Erkenntnis bis jetzt verwehrt geblieben?

»Dein Schal rutscht.« Mit kalten Händen legte Oscar Stéphanie den seidenen, mit dünnen Goldfäden bestickten Schal wieder um die nackten Schultern. Wie zufällig legte er seine beiden Daumen für einen kurzen Moment an ihren Hals und drückte leicht zu.

Stéphanie schauderte, was nicht daran lag, dass sie für die wenigen Meter vom Hotel ins Palais Garnier auf eine Jacke verzichtet hatte, sondern an Oscars Berührung. Genau so drückte er ihren Hals gern beim Beischlaf, manchmal so fest, dass sie keine Luft bekam.

»Lass das!«, sagte sie barsch und zog den Schal enger um sich.

Sie verabscheute seine körperliche Nähe von Jahr zu Jahr mehr – falls dies überhaupt möglich war. Auch nach all der Zeit bestand Oscar noch immer auf seine ehelichen Rechte.

Natürlich hätte sie Oscar längst verlassen können. Aber durch ihn verkehrte sie – so wie heute Abend – in den höchsten Kreisen. Und ohne den Namen von Oscars Bankhaus würde der Guide Carneval wahrscheinlich von heute auf morgen vom Markt verschwinden. Dass Oscar ihr bei einer Scheidung erlauben würde, weiterhin seinen Namen für ihren Restaurantführer zu verwenden, bezweifelte sie.

Außerdem – ob sie die Kraft hatte, noch mal ein neues Leben ohne Oscar anzufangen, bezweifelte sie. Von daher blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Ehemann weiter zu ertragen.

Im neuen Jahr würde sie noch viel längere Geschäftsreisen machen – in die Normandie vielleicht oder bis ganz nach Calais. Dann hätte sie ihre Ruhe vor ihm, dachte sie stumm, als sie das hell erleuchtete Palais Garnier betraten.

Sie grüßten hier, sie wechselten da ein paar Worte. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Leute das Ehepaar de Carneval kannten, und das, obwohl sie die meiste Zeit des Jahres im Süden verbrachten. Immer wieder kam auch jemand auf Stéphanie zu und lobte ihren Guide Carneval. Sie saugte das Lob der Leute auf wie ein Schwamm.

»Ohne den Guide Carneval in der Tasche fahre ich inzwischen nicht mehr los. Ich hätte fürchterliche Angst, ein gutes Restaurant zu verpassen! Wenn die neue Ausgabe herauskommt, werde ich sie sofort kaufen«, sagte gerade ein Herr, dessen Namen Stéphanie nicht kannte.

Im selben Moment gesellte sich Eduard Rosset, ihr Verleger, zu ihnen.

»Mir scheint, die Neuausgabe wird gefragter sein als alle andern zuvor!«, sagte sie zu ihm.

»Davon bin ich überzeugt, Gnädigste«, erwiderte der Verleger charmant. »Aber bevor wir in den Druck gehen, habe ich noch eine kleine Bitte an Sie, verehrte Madame de Carneval.«

»Lassen Sie hören!«, sagte sie gut gelaunt.

Der Verleger begann: »Sie wissen, dass ich mich noch nie in Ihre Arbeit eingemischt habe. Und das habe ich auch weiterhin nicht vor. Was ich mir jedoch von Ihnen erbitte, ist eine kleine Korrektur hinsichtlich einer Ihrer Bewertungen.« Eduard Rossets Blick schweifte in Richtung der Gäste, die inzwischen zu den Klängen eines kleinen Orchesters die Tanzfläche betraten. »Ich habe vor ein paar Tagen meinen Kollegen Clément Richard getroffen, er ist Eigentümer der Librairie Larousse.«

Stéphanie stutzte. Librairie Larousse war doch … Fabiennes Verlag!

Seit Fabienne sie in Narbonne aufgesucht und ihr diese unsägliche Szene gemacht hatte, hatte sie nicht mehr an die ehemalige Freundin gedacht. Die vielen Restaurantbesuche, ihre Reisen, ihre neue Leidenschaft für gutes Essen – ihr Leben war so aufregend, da konnte sie nicht ewig irgendwelchen Ereignissen aus der Vergangenheit nachhängen!

Umso mehr erstaunte es Stéphanie, dass es sie nun bei dem Gedanken an Fabienne heiß und kalt durchfuhr. Allem Anschein nach hatte sie sich gefühlsmäßig doch noch nicht von der Köchin befreit. Der Gedanke ärgerte sie.

»Und?«

Eduard Rosset hob ob ihres ruppigen Tonfalls erstaunt die Brauen. »Clément war im November unten im Süden. An seiner Seite war Marthe Distel, die bekannte Journalistin, die so gekonnt über die Kulinarik schreibt. Beide besuchten das Restaurant Pourquoi Pas, die Küchenchefin Fabienne Mazeau ist seit Langem bei Clément unter Vertrag, ihr Kochbuch Madame bon appétit wird seit Jahren sehr erfolgreich bei Librairie Larousse verlegt.« Er machte eine kurze Pause, als wolle er sichergehen, dass sie ihm gedanklich folgte.

»Das weiß ich alles. Ich kenne Madame Mazeau von früher, und ich habe ihr Restaurant längst in den Guide Carneval aufgenommen«, sagte Stéphanie ungeduldig, während Oscar ihr herrisch zuwinkte.

»Das wiederum ist mir bekannt, Verehrteste. Sie haben dem Pourqoi Pas fünf Münzen gegeben.«

»Ja und?«, wiederholte Stéphanie.

Der Verleger sah sie eindringlich an. »Sowohl Clément als auch die verehrte Marthe Distel sind wahre Experten, wenn es um gutes Essen geht. Beide schwärmten regelrecht von ihrem Besuch im Pourquoi Pas! Sie sagen, in ganz Südfrankreich gäbe es in Bezug auf die Kochkunst keine vergleichbare Qualität. Das machte mich neugierig, also schaute ich mir Ihre Bewertung des Restaurants an.« Er seufzte auf. »Mit Verlaub, Madame de Carneval – ein derart feines Restaurant mit einer Schachtel Pralinés zu vergleichen – finden Sie das nicht ein wenig … kindisch?«

»Kindisch?« Stéphanie glaubte, nicht richtig zu hören. »Ich habe dieses Restaurant in den höchsten Tönen gelobt! Die Wortbilder, die ich verwendet habe, erschienen mir passend.« Wie konnte der Mann es wagen, sie derart zu kritisieren? Wusste er nicht, wen er vor sich hatte?

Der Verleger lächelte säuerlich. »Ich bitte Sie trotzdem, Ihre Beschreibung des Pourquoi Pas zu überarbeiten. Marthe Distel hat vor, in ihrem Magazin La Cuisinière Cordon Bleu eine große Reportage über Fabienne Mazeau zu bringen – danach wird das Pourquoi Pas noch mehr Aufmerksamkeit bekommen! Bestimmt wollen Sie sich mit Ihrer Beschreibung im Guide Carneval nicht blamieren … Ich erwarte Ihren neuen Text spätestens Ende Januar.« Eduard Rosset nickte ihr zu, dann ging er davon.

»Endlich geschafft!«, rief Oscar, als die ersten Häuser von Narbonne in Sicht kamen.

Stéphanie nickte, ihren Blick nicht auf die Häuser, sondern auf den strahlend blauen Himmel gerichtet. Endlich wieder im Süden!

Es war der fünfte Januar, drei Tage hatten sie für die Rückreise von Paris nach Narbonne benötigt. Normalerweise liebte Stéphanie lange Fahrten mit dem Automobil, doch dieses Mal war die Reise von Paris hierher anstrengend gewesen. Gleich zu Beginn waren sie durch einen Schneesturm gefahren, gefolgt von Nebel und Regen. Eine feuchte Kälte hatte sich im Wagen breitgemacht, sie hatten trotz ihrer Pelzmäntel gefroren. Im ersten Hotel, in dem sie übernachtet hatten, war ihr Zimmer dann regelrecht überhitzt. Obwohl Stéphanie das Fenster geöffnet hatte, hatte sie äußerst schlecht geschlafen. Wenigstens hatten sie keine Panne gehabt. Doch nun waren sie endlich angekommen!

Oscar zupfte an Stéphanies Seidenschal, als wäre sie ein Hündchen an einer Leine. »Lass uns zuerst zur Bank fahren, ich benötige ein paar Dokumente«, sagte er, als sie die Stadtgrenze von Narbonne erreicht hatten. »Kannst du mich in einer Stunde abholen?«

Stéphanie, die das letzte Wegstück hinterm Steuer gesessen hatte, entwand sich seiner Berührung. »Kein Problem! Ich trinke solange irgendwo einen Kaffee.«

Kurz darauf parkte sie den Wagen direkt vor der Bank, dann verabschiedeten sie sich. Natürlich hätte sie in das elegante Café gehen können, das gleich um die Ecke lag. Doch stattdessen bog sie in eine schmale, unscheinbare Seitenstraße ein, an deren hinterem Ende es eine kleine Bar gab. Eigentlich war es mehr eine Spelunke, aber der Kaffee, den sie dort kochten, war passabel, hatte Stéphanie vor einiger Zeit festgestellt. Und außerdem gab es kleine in Schmalz ausgebackene Küchlein, die man entweder mit einer deftigen Käsefüllung oder mit Vanillecreme bekommen konnte – eine spanische Spezialität, hatte der Wirt ihr einmal erklärt.

Am späten Vormittag war es noch still in der Bar. Als Stéphanie eintrat, saßen lediglich drei Männer am Tresen und tranken Anisschnaps.

Stéphanie wählte einen Platz am Fenster im hinteren Teil des Raumes, dann bestellte sie Kaffee und drei der Vanilletörtchen. Hier konnte sie wenigstens in Ruhe essen, ohne ständig von jemandem beobachtet zu werden!

Der Kaffee kam, er duftete würzig. Als Stéphanie einen Schluck davon trank, brannte er auf ihrer Zunge. Sie stellte die Tasse ab und schaute nachdenklich aus dem Fenster in die schmale Gasse.

Nun war das neue Jahr schon wieder fünf Tage alt. Neues Jahr, neues Glück – so sagte man. Irgendwelche besonderen Pläne hatte sie nicht. Aber musste man überhaupt Pläne haben?, fragte sie sich, während der Kellner den Teller mit dem Gebäck vor sie hinstellte. Wäre es nicht viel schöner, sich vorzunehmen, einfach nur glücklich zu sein?

Aber was bedeutete Glück für sie? Stéphanie biss einen großen Happen von dem Schmalzgebäck ab. Kleine Brösel rieselten auf ihren Teller.

Zu essen machte sie glücklich. Ihr Restaurantführer machte sie glücklich. Wenn sie im Garten von Château Morel auf einer Bank saß und den Duft der Rosen einatmete – auch dann war sie glücklich.

Aber sonst? Oscar kam in ihrer Aufzählung von Glücksmomenten jedenfalls nicht vor. Damals, im Bistro in Marseille, mit Fabienne zusammen … da war sie glücklich! Natürlich war nicht alles rosig gewesen – die viele Arbeit, der Ärger mit dem Basken, die betrunkenen Matrosen, die schmalen Gewinne am Ende jeder Woche … Und doch, gemeinsam hatten sie alles gemeistert. Und das empfand Stéphanie als Glück.

Irgendwie war es jammerschade, dass Fabienne und sie sich derart entzweit hatten, dachte Stéphanie, während sie sich das zweite Törtchen vornahm. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen, hatten in vielen Dingen gleich gedacht, empfunden, gehandelt. Vielleicht wäre das für immer so geblieben, wenn nicht ständig irgendwelche anderen mitgemischt hätten? Fabiennes Ehemann Yves, ihre Schwester, die ach so hilfsbedürftige Lily, und natürlich Fabiennes Sohn.

Abrupt legte Stéphanie ihr angebissenes Törtchen weg. Diese unselige Victor-Geschichte! Damit hatte der Ärger angefangen. Vielleicht hätte sie sich einfach nicht so oft in alles einmischen sollen? Aber sie hatte es doch gut gemeint – mit Fabienne und mit dem Kind! Gedankt hatte ihr das bis zum heutigen Tag niemand. Vielmehr war sie in den Augen von Fabienne eine gottlose Hexe, zumindest hatte sie ihr das ins Gesicht geschleudert, damals bei ihrem Besuch im letzten Herbst.

Aber wen wunderte es? Sie, Stéphanie, war bei Fabiennes Besuch auch nur wenig feinfühlig gewesen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, fast so etwas wie … Genugtuung empfunden zu haben angesichts Fabiennes Verzweiflung darüber, den Sohn ein zweites Mal verloren zu haben. Das war die Strafe dafür, dass Fabienne sie einst in Marseille im Stich gelassen hatte, hatte sie gedacht.

Und wie fühlte sie sich heute, wenn sie an Fabienne dachte?

Als ihr Verleger es gewagt hatte, sie auf ihre Bewertung des Pourquoi Pas anzusprechen, war sie richtig wütend geworden. Da hatte sie es gut gemeint mit Fabienne und ihrem Restaurant – und als Dank wurde sie kritisiert.

Aber das war ja nicht Fabiennes Schuld, dachte Stéphanie nun. Die Köchin kannte ihre Bewertung des Pourquoi Pas bisher ja gar nicht.

Jeder, der sie beide kannte, versuchte auf seine Art, einen Keil zwischen Fabienne und sie zu treiben, Unruhe zu stiften, ja, sie regelrecht gegeneinander aufzuhetzen, schoss es Stéphanie durch den Kopf. Aufgewühlt rührte sie ihren inzwischen lauwarmen Kaffee mit einem kleinen Löffel um. Warum war ihr das nicht schon viel früher bewusst geworden?

Da hatte sie stets geglaubt, es wäre ihre Aufgabe, das Leben anderer Menschen zu beeinflussen – dabei war es in Wahrheit andersherum: Sie und Fabienne hatten sich manipulieren lassen! Und anstatt für den Erhalt ihrer Freundschaft zu kämpfen, hatten sie es zugelassen, dass sich immer wieder jemand zwischen sie drängte.

Die Vergangenheit konnte niemand rückgängig machen. Was geschehen war, war geschehen. Und Fehler machte jeder, auch sie! Aber nun, da sie so viel klarer sah – war da nicht die Zeit für einen Neuanfang gekommen?

Neues Jahr, neues Glück.

In der Silvesternacht, als die Uhr zwölf Mal geschlagen und den Jahreswechsel verkündet hatte, hatte sie keine guten Neujahrsvorsätze gefasst. Aber dazu war es noch nicht zu spät! Sie würde sich bei Fabienne entschuldigen für alles, was sie ihr – vermeintlich – angetan hatte. Gemeinsam würden sie die ganzen alten Geschichten für immer begraben und Frieden schließen.

Einen besseren Vorsatz für das neue Jahr konnte es gar nicht geben!, dachte Stéphanie euphorisch, als sie auf ihr Auto zuging. Allein bei dem Gedanken, dass Fabienne und sie endlich wieder Freundinnen werden konnten, wurde ihr ganz leicht ums Herz.

Schwungvoll warf Stéphanie das eine Ende ihres Seidenschals über die Schulter. Sie wollte gerade losfahren, als sie noch einmal innehielt. Eigentlich sollte sie jetzt Oscar aus der Bank abholen, aber danach stand ihr gar nicht der Sinn. Wenn sie so darüber nachdachte – auch Oscar hatte immer etwas gegen ihre Freundschaft mit Fabienne einzuwenden gehabt …

Sie zögerte noch einen Moment, dann fuhr sie los. Doch anstatt die wenigen Meter zur Bank zurückzulegen, fuhr sie stadtauswärts.

Im Château Morel war sie frei wie ein Vogel! Sie konnte sich in aller Ruhe die Versöhnung mit Fabienne ausmalen. Sie konnte allein in ihrem Bett schlafen, ohne Oscars aufgezwungene »Zärtlichkeiten« ertragen zu müssen. Sie konnte so viel heiße Schokolade trinken, wie sie wollte. Sie konnte so viel Brot essen, wie sie wollte. Und dazu dicke Scheiben vom gekochten Schinken – Stéphanie lief schon das Wasser im Mund zusammen.

Das Letzte, woran Stéphanie dachte, während sich das Ende ihres Seidenschals in den Speichen des linken hinteren Wagenrads verhedderte, war ein Klacks Dijon-Senf.