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Noch 29 Tage bis zum zweiten Mord
Wie stellt man größtmögliche Normalität her, wenn man zum ersten Mal seit seiner Verhaftung wegen Mordverdachts auf den besten Freund trifft? Wie, zum Teufel, schaut man jemanden ganz normal an? Bringt man das Thema zur Sprache oder besser alles andere, nur das nicht? Und wenn man es zur Sprache bringt, bis wohin darf man gehen?
All das ging Alexander Waldeck, Ben-Lucas Vater, durch den Kopf, als er allein am Stammtisch im Hotelrestaurant Gut Trenthin
auf Holger Simonsmeyer wartete. Vor der ganzen Geschichte hatten sie sich zusammen mit einem weiteren Freund jeden Donnerstag dort getroffen und am ersten Montag des Monats nur sie beide, weil ihre Freundschaft die älteste und längste war, die man sich vorstellen konnte.
Wie fast jeder Mensch wusste Alexander, wie er mit den gängigsten Situationen umzugehen hatte, und als Betreiber eines Bestattungsunternehmens hatte er darüber hinaus ein geschultes Einfühlungsvermögen. Aber auf die Frage, wie er jemandem gegenübertreten sollte, der zehn Monate lang als »mutmaßlicher Mörder« betitelt worden und zufällig auch noch sein bester Freund war, wusste er keine Antwort. Eine solche Situation war in der Enzyklopädie der Verhaltensregeln
nicht verzeichnet. Er musste also auf seinen Instinkt vertrauen. Das Dumme war nur, dass der sich verdrückt hatte.
»Alex!«
»Holger!«
Sie umarmten sich, so wie früher. Lächelten. Sahen sich kurz in die Augen. O Mann, dachte Alexander, ist das normal genug?
Er hatte gehofft, alles möge sich irgendwie von selbst ergeben, wenn er erst mit Holger am Tisch saß. Sie kannten sich seit der Einschulung. Dieselbe Klasse, dreizehn Jahre lang. Dieselben Leistungsfächer, fast dieselben Schulnoten. Saß einer von beiden in der Klemme, holte der andere ihn heraus. Nach dem Abi tourten sie drei Monate lang durch Südamerika, von Brasilien über Paraguay bis Argentinien. Zurück mit einem uruguayischen Frachter von Montevideo nach Bremerhaven. Sie hatten beide in den Berufen ihrer Eltern eine Lehre angefangen und sogar im selben Jahr geheiratet. Letzteres war wirklich Zufall, ebenso, dass ihre älteren Söhne im Abstand von wenigen Monaten geboren wurden und inzwischen genauso gute Freunde waren wie ihre Väter damals.
»Du hast dich gar nicht verändert, siehst topfit aus«, sagte Holger.
Alex überlegte, ob er die Wahrheit sagen oder das Kompliment zurückgeben sollte. Allein dass er über diese Frage nachdachte, war schon eine Veränderung. Sie waren immer offen zueinander gewesen. Dass sie sich nun ein knappes Jahr nicht gesehen hatten – so lange wie noch nie –, war fast so befremdend wie der Grund für die Trennung. Saß ihm wirklich derselbe Holger gegenüber wie der, der zehn Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte
?
»Hattest du früher auch schon Ringe unter den Augen?«, fragte er halb im Ernst und halb im Scherz. So konnte er das Gespräch, je nach Holgers Reaktion, entweder locker oder ernst führen.
»Augenringe, echt? Ich werde der Kurklinik, in der ich ein Dreivierteljahr war, eine schlechte Kritik schreiben.«
»Wie war das Essen?«
»Gut, wenn man Tüfte mag. Dort hießen sie allerdings Kartoffeln. Gab es viermal pro Woche.«
»Und an den anderen drei Tagen?«
»Erbsenpüree.«
Sie lachten, und Alex war erleichtert, dass der Einstieg ins Gespräch so reibungslos klappte. Andererseits steigerte das die Fallhöhe.
»Was wollen wir trinken?«, fragte er. »Was hast du in deinem Kurhotel am meisten vermisst?«
»Mein Mellenthiner Inselbier habe ich in den letzten Tagen schon gezischt«, antwortete Holger. »Heute freue ich mich auf einen erstklassigen Wein.«
Mit dem Besitzer eines Restaurants befreundet zu sein – vor allem, wenn er mit am Tisch saß –, hatte enorme Vorteile. Man bekam jeden Sonderwunsch erfüllt, und der Wein ging immer aufs Haus. Spitzenwein, wohlgemerkt. Wenn Holger jemanden ins Herz geschlossen hatte, war er freigiebig bis zur Unvernunft.
»Du hast übrigens was verpasst«, sagte Alexander. »Während du schwedische Gardinen geküsst hast, haben sie auf Usedom angefangen, Cannabis-Bier zu brauen.«
»Hast du’s schon probiert?«
»Ich werde mich hüten. Du weißt ja, was Eva von allem
hält, was sich irgendwie nach Droge anhört. Es geht das Gerücht, dass sie sogar Schnee ablehnt.«
Sie lachten.
»Gott, habe ich dich vermisst«, gestand Holger. »Wie wichtig Freunde sind, wird einem erst klar, wenn man von Leuten umgeben ist, für die echte Freundschaft bedeutet, dass du sie beim Kartenspielen gewinnen lässt. Ich habe dreihundert Tage lang fast nichts anderes gemacht, als beim Kartenspielen zu verlieren. Hat mich an die tausend Schachteln Zigaretten gekostet.«
Der Plauderton freute Alexander.
»Ich hätte dich wirklich gerne besucht. Aber Bettina hat mir ausgerichtet, dass ich nicht vorbeikommen und auch nicht anrufen soll, sondern nur schreiben. War übrigens mein erster Brief seit Erfindung der E-Mail. Der letzte war ein Liebesbrief, mit dreizehn.«
»An Angeline Dohmel. Ich habe dir dabei geholfen, na ja, eigentlich stammte er zu neunzig Prozent von mir.«
»Ich bin abgeblitzt.«
»Wir sind abgeblitzt.«
Sie lachten erneut. Für einen Moment schien es Alex, als könnten sie die letzten zehn Monate ungeschehen machen, und für die Dauer des Gelächters durchströmte ihn ein Schauer maßloser Glückseligkeit, seinen alten Freund wiederzuhaben. Trotzdem wollte er die Sache mit dem Gefängnis noch nicht auf sich beruhen lassen.
»Wieso durfte ich dich nicht besuchen?«
»Ich wollte nicht, dass du mich so siehst«, antwortete Holger. »Im Gefängnis. Unter Mordverdacht. Ich hätte mich geschämt.
«
»Holger! Wir haben schon so viel zusammen durchgestanden.«
»Das hier ist etwas anderes. Glaub mir, so eine U-Haft ist … demütigend.«
Von Anfang an hatte Alexander es seltsam gefunden, dass Holger sich stärker isoliert hatte als nötig. Sogar seinen älteren Sohn Finn hatte er in der ganzen Zeit nur zwei- oder dreimal gesehen, den jüngeren überhaupt nicht. Bettina war die Einzige, die ihn regelmäßig besuchen durfte.
»Aber wenn du doch unschuldig bist … Hattest du etwa Angst, ich würde …« Alex suchte nach Worten. »Ist es, weil Susann meine Nichte war?«
Holger blickte auf den weiß gedeckten Tisch, als läge dort die passende Antwort.
»Ich … ich kann dir nur sagen, dass … Du kannst dir das einfach nicht ausmalen, Alex.«
In der Tat. An der Vorstellung, selbst verdächtigt zu werden, ein Gewaltverbrechen begangen zu haben, scheiterte Alexander. Der Gedanke war ihm so fremd wie nur irgendwas. Morde gab es in Filmen, Büchern und Zeitungen, man hatte ansonsten nichts mit ihnen zu tun, und schon gar nicht beging man sie. Was Holgers Verhaftung so unheimlich machte, war die Tatsache, dass plötzlich etwas so Schreckliches, so Unfassbares wie die Bluttat an einer Zwanzigjährigen mit dem Dorf im Allgemeinen und Alex im Speziellen verknüpft war.
Die Kellnerin trat an den Tisch, und eine Sekunde lang herrschte betretenes Schweigen. Alexander hatte ganz vergessen, dass Kathrin im Restaurant von Gut Trenthin
arbeitete, Susanns einstmals beste Freundin, was kein Kunststück war, denn Susann hatte zuletzt nur diese eine Freundin gehabt.
Trotzdem – der vermeintliche Mörder und die beste Freundin des Mordopfers, der Arbeitgeber und die Angestellte. Es war eine blöde Situation, die Alex als unbeteiligter Dritter bewältigte, indem er stocksteif dasaß und dem Wasserglas vor ihm größere Aufmerksamkeit widmete, als ihm zustand.
»Wir warten mit dem Essen noch auf Eddi, oder?«, fragte Holger.
»Äh, nein, der ist verhindert, ich erkläre es dir gleich.«
»Also gut, Kathrin, dann nehmen wir Steinpilz-Carpaccio, einen frischen Salat, und weil mir die pommersche Küche so gefehlt hat, Aal in Aspik und Zander auf Haferstroh. Alex, bist du einverstanden? Fein. Dazu bitte eine Flasche vom Rheingau-Riesling. Danke, Kathrin.«
Alex bewunderte Holger für die Coolness, mit der er der jungen Frau gegenübergetreten war. Er wartete, bis sie wieder allein waren, dann fragte er: »Stört es dich nicht, sie hier so nah um dich zu haben?«
»Kathrin Sibelius? Nein, sie hat damals schon hier gearbeitet.«
»Ja, und dir schöne Augen gemacht.«
»Das ist nicht verboten, solange sie es nicht übertreibt.«
»Ich glaube, du genießt das.«
Holger wechselte das Thema. »Erzähl mir, was mit Eddi los ist.«
»Ich habe ihn angerufen, wie du wolltest. Er hat abgesagt.«
»Schade. Aber die Einladung kam wirklich sehr kurzfristig.«
»Nein, Holger. Er hat … für immer abgesagt. Eddi bricht den Kontakt zu dir ab.«
»Oh.«
»Und weil er das tut, breche ich den Kontakt zu ihm ab.
«
»Alex, nicht!«
»Das ist meine Entscheidung, nicht deine. Dieser Idiot hat ziemlich blöd aus der Wäsche geschaut. Hat doch wirklich geglaubt, ich schließe mich ihm an. Ja, er hat es regelrecht verlangt.«
Die Nachricht haute Holger fast um, sie schien allein eine halbe Minute zu benötigen, um von seinem Gehörgang ins Gehirn zu gelangen.
Alex hatte Eddi Fassmacher vor etwa zehn Jahren mit Holger bekannt gemacht. In großen Städten gesellten sich gerne Personen auf ungefähr derselben gesellschaftlichen Ebene, in ländlichen Regionen dagegen entstanden Freundschaften oft über den Sportverein, die Kirchengemeinde oder schlicht über den Sitzplatz am Tresen der Dorfkneipe. Alex kannte vom Sparkassendirektor bis zum Schlosser die unterschiedlichsten Leute, auf die er sich jeweils einstellte. Mit dem einen ging er segeln, mit dem anderen spielte er eine Runde Dart. Eddi war Unternehmer, ihm gehörten etliche Ferienwohnungen, zwei Pensionen und ein Delikatessengeschäft. Er schlug nur selten über die Stränge, hätte also gut zu Holger gepasst, aber wenn man ehrlich war, wirklich dicke wurde er nie mit ihm.
Holger war schon als Kind ein sehr zurückhaltender Typ gewesen, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Seine Eltern waren gesellige Menschen, Holger war recht gut im Sport, ein passabler Segler, nicht dumm, sah gut aus, ein paar Mädchen schwärmten für ihn. Aber er hielt sich immer im Hintergrund. Am Tag nach einer Party redeten alle über alle, nur nicht über Holger, man war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt anwesend gewesen war. So wurde er erst in der Schule, später dann in der Ausbildung und im
Dorf ein Neutrum, gegen das niemand etwas hatte und für das keiner sich interessierte – jedenfalls kein Mann. Außer Alex. Während er viele Freundschaften schloss, begnügte sich Holger mit dieser einen und schien damit völlig zufrieden zu sein. Nachdem er Bettina kennengelernt hatte, taute er etwas auf, trotzdem war klar, dass er keine späte Karriere als Stimmungskanone anstrebte. Dabei hatte er durchaus Humor, konnte locker und witzig sein, jedoch nur mit den richtigen Leuten. Und die waren so rar wie vierblättriger Klee.
»Ich komme drüber weg«, sagte er nach einer Weile, in der Alex ihn hatte nachdenken lassen. »In letzter Zeit, also in den Monaten vor meiner Verhaftung, da hat sich Eddi sowieso verändert. Seine Ansichten sind irgendwie … extremer geworden. Aber lassen wir das.«
Holger atmete tief durch. »Weißt du, wovor ich wirklich Angst hatte? Vor dem ersten Anruf bei dir. Und vor heute Abend. Ich hatte Angst, dass du … dass wir … dass es nicht mehr so sein würde wie vorher. Ich glaube, im Grunde wollte ich deswegen nicht, dass du mich besuchst.«
Der Wein wurde gebracht, und während Kathrin ihn öffnete und präsentierte, Holger daran roch und probierte, Kathrin ihn einschenkte und in den Kühler stellte, setzten sie das sehr private Gespräch natürlich nicht fort, was die Minuten fast unerträglich machte.
Kaum waren sie wieder allein, sagte Alex: »Ich auch. Ich hatte dieselbe Angst.«
»Und? Wie haben wir es bis jetzt hinbekommen?«
»Wirklich gut. Ich hatte noch nicht das Gefühl, ich müsste aufstehen und gehen. Aber das liegt natürlich zum großen Teil an der Spätlese. Die will ich mir nicht entgehen lassen.
«
Sie lächelten und stießen an.
Alex hätte es damit auf sich beruhen lassen können. Sie hatten den Gefängnisaufenthalt angerissen, ebenso Holgers freiwillige Isolation und den verräterischen Freund. Ganz so, als hätten sie eine von Holgers Geschäftsreisen ins Ausland besprochen, hätte Alex nun erzählen können, was er die letzten Monate getrieben hatte. Doch eine solche Schönwetterfreundschaft führten sie nicht, und um zu verhindern, dass es eine werden würde, mussten sie noch einige Dinge durchkauen. Es ging nicht anders.
»Als du verhaftest wurdest«, begann Alex daher, »habe ich zu Eva gesagt: ›Das ist ein schrecklicher Irrtum, morgen ist er wieder frei.‹ Es wurde morgen, es vergingen weitere Tage, und ich sagte: ›Mir erzählt keiner, dass Holger eine Frau im Wald aufschlitzt.‹ Ich habe mich furchtbar mit Eva gestritten, ich habe mich deinem Anwalt als Leumundszeuge angeboten, und ich habe über die Tatsache hinweggesehen, dass du mich nicht sehen oder sprechen wolltest.«
»Heldenhaft.«
»Nein, warte. Alle möglichen Leute haben mich auf dich angesprochen, manche direkt, andere hintenrum. Nach dem Motto: Sie kennen den doch, sind Sie nicht mit ihm befreundet? Wie stehen Sie denn dazu? Sogar meine Kunden haben mich ausgehorcht. Ich habe jedem geantwortet, dass ich fest an deine Unschuld glaube.«
»Damit hast du dich weit aus dem Fenster gelehnt.«
»Ein paar haben mich angesehen, als würde ich mit dir unter einer Decke stecken. Die Monate vergingen, und jede Woche kam Eva mit einem anderen belastenden Detail an, das im Prozess gegen dich zur Sprache gekommen war. Du sollst
eine Affäre mit Susann gehabt haben. Du sollst sie beim Joggen näher kennengelernt haben. Ihr sollt euch immer auf dem Wanderparkplatz am Bach getroffen haben. Sie sollen deine DNS
am Tatort entdeckt haben. Und so weiter. Irgendwann fand ich keine Erklärungen mehr für all das, was du getan haben solltest. Ja, Holger, ich habe an dir gezweifelt. Ebenso an meinem Urteilsvermögen. An unserer Kindheit, unserer Freundschaft. Ich bin die Tage und Jahre durchgegangen, die wir uns nun schon kennen, auf der Suche nach irgendetwas, das mir an dir entgangen sein könnte, ein Charakterzug, eine Vorliebe, ein bestimmtes Verhalten. Ich gebe zu, ich habe den Mörder in dir gesucht.«
»Und? Hast du ihn gefunden?«
»Nein.«
»Tröstlich.«
Holger prostete ihm zu, sodass Alex sich darauf einließ. Der Rheingau-Riesling schmeckte großartig, aber der Moment war grotesk. Ein solches Gespräch führte man bei billigem Rum, den man in großen Schlucken trank, um die Beklommenheit hinunterzuspülen, die das Thema mit sich brachte, am besten an einem Ort, an dem man noch nie war und an den man nie zurückkehren würde. Ein Ort zum Vergessen. Aber nicht bei einer Flasche Weißwein für neunundneunzig Euro in einem sterneverdächtigen Restaurant bei Musik von Vivaldi.
»Schmeckt er dir? Er hat eine ausgeprägte Zitrusnote, und doch kommt der Schiefer durch, findest du nicht auch?«
»Eine ganze Flasche Parfüm könnte mir nicht den schalen Geschmack von der Zunge spülen, und mit dem Riesling hat das gar nichts zu tun. Mir fällt es nicht leicht, darüber zu sprechen. Wie ein Verräter komme ich mir vor, weil ich mir
irgendwann nicht mehr sicher war, was dich angeht. Aber ich kann ganz ehrlich behaupten, dass ich schon vor der Urteilsverkündung über alle Zweifel hinweg war. Ich war und bin mir sicher, dass du für alle aufgestellten Behauptungen eine vernünftige Erklärung hast.«
»Optimist«, erwiderte Holger, und Alex fragte sich, ob das alles war, was sein Freund dazu zu sagen hatte.
Das servierte Steinpilz-Carpaccio verhinderte die Fortsetzung des Gesprächs für eine Minute, doch sobald es die Gelegenheit zuließ, hakte Alex nach.
»Sorry, aber ich muss dich das jetzt fragen: Hattest du eine Affäre mit Susann?«
»Mit einer Zwanzigjährigen?«
»Ja.«
»Das traust du mir zu?«
»Ich glaube, wir kommen schneller voran, wenn du auf Gegenfragen verzichtest. Aber da du es wissen willst: Ja, ich halte es für möglich. Normalerweise sagt ein Mann das nicht zu einem anderen, aber an dieser Unterhaltung ist sowieso nichts normal. Holger, man sieht dir deine einundvierzig Jahre nicht an, du bist topfit, führst erfolgreich ein Hotel …«
»Hör schon auf. Ich war nicht gerade ein Mädchenschwarm, wenn du dich erinnerst.«
»Weil du keiner sein wolltest. Aber deine ruhige Art hat ihre Wirkung auf einen bestimmten Typ Frauen nie verfehlt. Auf Kathrin, zum Beispiel. Wenn wir irgendwo was trinken waren, beim Bowling oder beim Tennis, dann habe ich oft mitbekommen, dass du beobachtet wurdest, und zwar auch von deutlich jüngeren Frauen.«
»Darauf bin ich nie eingegangen.
«
»Weiß ich. Aber dass ein Mann in den Vierzigern auf eine blutjunge Frau abfährt, das steht schon im Alten Testament.«
»Ich habe Susann ja kaum gekannt«, entgegnete Holger.
»Immerhin hat sie mal bei euch im Hotel gejobbt, um sich ein bisschen was dazuzuverdienen. Hier im Restaurant.«
»Aushilfsweise. Aber für den Service ist Bettina zuständig, da mische ich mich nicht ein. Ich vermute mal, Bettina hat sie aus Gefälligkeit für deine Familie eingestellt, speziell aus Gefälligkeit für Eva.«
Im Gegensatz zu seiner Frau hatte Alex seine Nichte nicht sonderlich gemocht, zumindest nicht in ihren letzten Lebensjahren. Das war insofern ungerecht, als für ihn feststand, dass sie krank gewesen war, von irgendetwas besessen, ohne dass er den Namen der Krankheit hätte benennen können. Hätte er aufschreiben sollen, wann und wieso sich Susann falsch verhalten hatte, ihm wäre nichts eingefallen. Genau das war das Problem. Susann war stets so korrekt gewesen, so wahnsinnig bemüht, alles richtig zu machen. Ein Arbeitgeber konnte sich keine bessere Angestellte wünschen. Sie war sogar mitten in der Nacht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, weil ihr eingefallen war, dass sie vergessen hatte, eine Aufgabe zu erledigen. Doch Alex, der seiner Nichte einen Aushilfsjob im Bestattungsinstitut gegeben hatte, fand dieses Verhalten geradezu irre. Je mehr Susann sich bemühte, ihm zu gefallen, desto mehr ging sie ihm auf die Nerven. Sympathie ließ sich nun einmal nicht anzünden wie eine Kerze in der Kirche, und mit Verwandtschaft hatte sie sowieso nichts zu tun, davon konnte ja wohl jeder ein Lied singen.
»Susanns Tod«, sagte er, »hat Eva sehr getroffen. Wie du weißt, hält sie viel von Perfektion, Zielstrebigkeit und starkem Willen, und Susann war ihre Lieblingsnichte. Anders als bei
meinem Schwager und meiner Schwägerin drückt sich Evas Trauer allerdings in Zorn aus. Und wenn man erst mal zornig ist, dann lässt sich das nicht von jetzt auf gleich abschalten.«
»Hört sich an, als wäre es vorerst keine gute Idee, mich bei euch blicken zu lassen.«
Holger brachte diesen Satz ohne erkennbare Bitterkeit über die Lippen, doch Alex wusste, wie sehr er sich beherrschte – was ihm nicht schwerfiel, weil er immerzu beherrscht war. Er hatte den Freund noch nie richtig wütend erlebt, höchstens leicht verstimmt, und das war der zweite Grund, weshalb er an Holgers Unschuld glaubte.
Viele Jahre lang war Holger bei ihm und Eva ein und aus gegangen und umgekehrt. Ihre Frauen belegten gemeinsam Kurse an der Volkshochschule, und Alex’ kleine Tochter Alena-Antonia hatte schon oft bei Holger und Bettina übernachtet, wenn er und Eva mal einen Abend für sich haben wollten. Sie waren immer füreinander da gewesen. Dieses Band war nun zerschnitten, und es gab nichts, was Alex dagegen tun konnte. Seine Frau hatte ihr eigenes Urteil gefällt.
»Leider. Aber für mich und Ben-Luca gilt das nicht. Unsere Jungs machen eh, was sie wollen. Und wir beide treffen uns halt hier oder auf neutralem Boden.«
»Neutraler Boden«, wiederholte Holger traurig. »Und wenn Bettina mal mit ihr spricht?«
»Eva will Bettina nicht sehen. Auch Finn nicht. Ben-Luca darf ihn schon seit Monaten nicht mit zu uns nach Hause bringen. Hat sie dir das denn nicht erzählt?«
»Nein.«
»Eva möchte keinen Kontakt mehr zu deiner Familie. So ist das leider.
«
»Das ist ziemlich un…«
Holger verschleppte das Adjektiv um einige Sekunden, schließlich lautete es »ungerecht«. Alex ging jedoch jede Wette ein, dass es ursprünglich »undankbar« heißen sollte, denn dieses Wort traf es noch besser als das andere. Ja, Eva war in dieser Sache schrecklich undankbar, und Alex vermutete, dass es nicht nur mit Susanns Tod zu tun hatte.
Es gibt Freundschaften, bei denen sich alle Beteiligten von Anfang an auf Augenhöhe befinden und sich niemals von dort wegbewegen, und andere, die einen eher führenden und einen eher folgenden Part haben. Die Beziehung von Holger und Alex hatte dreißig Jahre lang zur zweiten Kategorie gehört. Kinder sind genauso oder vielmehr genauso wenig anspruchsvoll bei der Auswahl ihrer Spielgefährten wie Erwachsene. Oft genügen Kleinigkeiten, wie zum Beispiel, dass der eine zum anderen aufsieht.
Im Alter von sechs Jahren hatte Alexander sich geschmeichelt gefühlt, dass Holger ihn toll fand, weil er a) Kopfsprünge vom Drei-Meter-Brett machen konnte, b) großes Geschick beim Bauen von Sandburgen an den Tag legte und c) Turnschuhe von Puma trug, was in der DDR
recht selten vorkam. Holger schrieb bei ihm ab, er kopierte sein Outfit, so gut er konnte. Dreizehn Jahre später, als beide ihre Ausbildung begannen, legte Alexander sich voll ins Zeug, während Holger lustlos in der Familienpension arbeitete, hatte Alexander eine Freundin nach der anderen und Holger keine einzige. Mit sechsundzwanzig übernahm Alexander das Bestattungsunternehmen seiner Eltern, Holger arbeitete da noch immer unter der Fuchtel seines recht eigensinnigen Vaters.
Die Dinge waren selbstverständlich, hatten sich so sehr
eingespielt, dass Holger und Alexander nie über die unterschwellige Rollenverteilung sprachen, die sie vermutlich nicht einmal wahrnahmen. Alexander jedenfalls konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Gefühl von Dominanz gegenüber Holger empfunden zu haben. Im Rückblick jedoch bemerkte er, dass die Initiative stets von ihm ausgegangen war und Holger sich lediglich angeschlossen hatte, ohne die Ideen maßgeblich mitzugestalten. Eva, die ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte, heiratete in diese Rollenverteilung ein, ebenso wie Holgers Frau Bettina, die lieber schweigend die Drecksarbeit erledigte, anstatt jemanden zu enttäuschen.
Eine weitere Dekade später geriet Alexander in finanzielle Turbulenzen. Damals hatte er sich mit der Eröffnung zweier Filialen des Bestattungsunternehmens übernommen, und Holger hatte ihn, ohne zu zögern, mit einem Privatkredit in beträchtlicher Höhe unterstützt. Im Zuge dieser monetären Krise geriet auch seine Ehe in schweres Fahrwasser, und es waren Bettina und Holger, die erfolgreich vermittelten. Alexander musste eine der Filialen wieder schließen, Holger eröffnete sein Vier-Sterne-Hotel, das zu den schönsten auf Usedom zählte und ganz bestimmt das schönste im Achterland der Insel war. Alexander geriet mit der Rückzahlung des Privatkredits in Verzug, doch Holger ließ ihm alle Zeit der Welt.
Die Dinge waren binnen weniger Jahre auf den Kopf gestellt worden, und Alexander kam damit bedeutend besser zurecht als seine Frau. Ihre Reaktion auf Holgers Verhaftung war derart überzogen …
»Holger, ich will dir nichts vormachen. Dieser Fall, diese letzten Monate, das wird nicht ohne Spuren bleiben. Ziemlich tiefe Spuren. Einschnitte. Du hast mich nie hängen
lassen, und ich werde dich jetzt auch nicht hängen lassen. Aber du bist erst ein paar Tage draußen und hast keine Ahnung, was hier im letzten Jahr abgegangen ist. Wenn du denkst, die Auflösung unseres Dreier-Stammtisches sei alles, was du wegzustecken hast, muss ich dir leider sagen, dass du naiv bist. Hast du dich mal umgesehen? Dein Restaurant ist zu Beginn der Hochsaison halb leer.«
Holger blickte sich um. »Man könnte auch sagen, es ist halb voll.«
»Ja, mit Sensationslustigen. Die beiden da drüben, zum Beispiel.«
»Denen gehört die Segelbootvermietung in …«
»Sie schauen schon die ganze Zeit zu uns rüber, und das bestimmt nicht, weil wir so ein tolles Paar abgeben. Und die fünf älteren Herrschaften am Fenster …«
»Die sind aus dem Seniorenheim in Ahlbeck.«
»Du bist ihr Hauptgesprächsthema. Sie geben sich noch nicht einmal Mühe, es zu verbergen.«
»Das geht vorbei.«
»So ist es. Anstatt über dich zu tuscheln, werden sie schweigsam in ihren Ressentiments gegen dich spazieren gehen.«
Der Spinatsalat wurde serviert. Er sah köstlich aus, aber Alex war der Appetit vergangen. Holger schien auch nicht animiert. Die paar Happen, die er aufgabelte, spülte er mit einem ganzen Glas Riesling hinunter.
»Bettina hat gesagt, es sei vorbei.«
»Als deine Frau bekommt Bettina nicht mit, was ich mitbekomme. Das erste Kapitel ist vielleicht vorbei, mehr nicht. Die Leute haben Fragen an dich.«
»Was denn für Fragen?
«
»Bitte, Holger, streng deine Fantasie an.«
»Die habe ich gerade zum Rauchen vor die Tür geschickt. Los, sag schon.«
»Wie ist deine DNS
an den Tatort gelangt? Was hat es damit auf sich, dass du mit Susann auf dem Wanderparkplatz gesehen wurdest, kurz bevor sie starb? Was hattest du überhaupt auf diesem Wanderparkplatz zu suchen?«
»Kommt mir eher vor, als wären das deine Fragen, nicht die der Leute.«
»Was erwartest du? Dass ich zehn Monate lang mit Watte in den Ohren herumlaufe? Wie oft willst du noch hören, dass ich zu dir halte? Soll ich mir bei jedem Gang unseres Abendessens eine Kerbe in den Finger ritzen und den Treueschwur erneuern? Um dir deine Antworten glauben zu können, muss ich dir erst einmal Fragen stellen dürfen, oder nicht?«
»Im Prozess hat man mir tausend Fragen gestellt.«
»Vergiss den Prozess. Was die Leute wissen, haben sie von Susanns Eltern erfahren, die als Nebenkläger auftraten.«
»Die sind voreingenommen, das muss doch jedem klar sein.«
»Natürlich sind sie voreingenommen, alle Menschen sind voreingenommen, sonst wären es Computer. Was wäre, wenn einer deiner Angestellten angeklagt würde, einen Gast in deinem Hotel vergewaltigt zu haben, und dann freigesprochen würde? Erzähl mir nicht, dass du ihn künftig noch im Zimmerservice einsetzt. Die Leute haben Angst, Holger. Im Wald wurde eine junge Frau aufgeschlitzt, und seit deiner Verhaftung ist nichts mehr vorgefallen.«
»Du hörst dich an wie die Staatsanwältin.«
»Das Dorf ist voll von Staatsanwälten. Wenn du nicht offensiv
mit dieser Tatsache umgehst, dann wirst du in Trenthin, ach was, auf der ganzen Insel keinen leichten Stand haben.«
»Offensiv?«
Alex trank einen Schluck Wein, auch um Tempo und Heftigkeit aus dem Gespräch zu nehmen.
»Ich denke da an eine Gemeindeversammlung, bei der du alles in Ruhe darlegst, feierliche Schwüre abgibst, den Leuten in die Augen schaust und ihnen Rede und Antwort stehst. So etwas kannst du gut. Du müsstest dich nicht einmal verstellen, denn vor dieser elenden Geschichte warst du einer der seriösesten Geschäftsleute hier. Du bist der perfekte Schwiegersohn. Natürlich muss das gut vorbereitet werden, und ich würde mich bereit erklären …«
»Ich soll mich vor irgendwelchen Leuten rechtfertigen? Vor den Senioren dort drüben, die sich das Maul über mich zerreißen? Nur weil ich eine Stunde auf einem Wanderparkplatz zugebracht habe? Nackt machen soll ich mich vor jedem, der das möchte? Nein, dann sollen die Leute lieber denken, was sie wollen. Du meinst es gut, Alex, aber ich glaube, du übertreibst. In drei Monaten ist Gras über die Sache gewachsen.«
»Auf Susanns Grab wächst kein Gras.«
»Ich wurde freigesprochen«, beharrte Holger nach einigem Grübeln. »Und damit hat es sich.«
Alexander dachte kurz darüber nach. »Theoretisch, ja. Praktisch haben der eine und der andere Satz wenig miteinander zu tun.«
Daraufhin schwiegen beide – Holger, weil ihm eine Illusion genommen worden war, Alexander, weil er sich miserabel fühlte, sie dem Freund genommen zu haben. Seine tägliche Arbeit bestand darin, sich in die Notlagen seiner Mitmenschen
einzufühlen und ihnen Kraft zu geben, nicht, ihnen Hoffnungen zu rauben. Mindestens dreimal in der Woche brachen Kunden in seinem Geschäft zusammen, meistens wenn alles ausgesucht und besprochen war und sie nur noch aufstehen und den Laden verlassen mussten. Nie hatte Alexander diese Hoffnungslosigkeit stärker gespürt als bei Susanns Eltern, seinem Schwager und seiner Schwägerin, nie hatte die Verzweiflung ihm derart tief in die Augen gesehen wie am Tag nach dem Auffinden der Leiche. Der Blick der am Boden zerstörten Eltern war auf seine heimlich gehegten Vorbehalte gegen seine brillante Nichte getroffen und hatte ihm ebenso schlaflose Nächte bereitet wie der Verdacht gegen Holger, dem er nun Auge in Auge gegenübersaß.
»So geht das nicht«, sagte er, nachdem die Fischplatte serviert worden war. Er ließ Messer und Gabel fallen, lehnte sich mit dem Oberkörper über den Tisch und wiederholte leise: »So geht das nicht, Holger.«
Der Freund wusste genau, was gemeint war, lehnte sich zurück und kippte die restlichen Tropfen Riesling in sich hinein.
»Nicht heute, Alex«, bat er fast flehentlich.
»Doch, genau heute! Scheiße, Holger, wir haben uns nie etwas vorgemacht. Als wir mit acht Jahren die halbe Ernte der LPG
von den Bäumen geholt und damit Apfelweitwurf gespielt haben und ich deswegen Dresche von meiner Oma bekam, habe ich dir da nicht meinen roten Hintern gezeigt? Als der dicke Bernd dich verprügelt hat, haben wir da nicht zusammen gelitten? Als du dein erstes Date mit Bettina hattest und ich meines mit Eva … Ich könnte die Aufzählung ewig fortsetzen. Ich will nicht, dass das aufhört. Ich will nicht, dass unsere Freundschaft kaputtgeht. So, und jetzt erzählst du mir al
les, und zwar restlos alles über diesen beschissenen Tag im letzten Juli.«
»Alex …«
»Keine Ausflüchte. Ich will es wissen, auch wenn wir noch eine ganze Flasche Riesling dazu brauchen.«
Holger blickte grüblerisch zu Boden, wich Alexanders Blick aus. »Die brauchen wir tatsächlich.«
Einige Monate später, September
Um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, ging ich Susanns übliche Joggingstrecke ab – in normalem Schritttempo, da es mit meiner Fitness nicht allzu weit her war.
Jeden Tag, ziemlich genau um vierzehn Uhr, war die sportliche junge Frau an ihrem Elternhaus in Trenthin losgelaufen. Die meisten Dauerläufer absolvieren ihr Sportprogramm am Morgen, doch nach Aussage ihrer Mutter bevorzugte Susann die Stunde nach dem Mittagessen, um den Biorhythmus, also das Nachmittagstief, zu überlisten. An einigen Nachbarhäusern vorbei gelangte ich schnell zu dem Uferweg, der idyllischer nicht verlaufen konnte.
In Trenthin gab es einen winzigen Hafen, der aus zwei langen hölzernen Bootsanlegestegen bestand. Ein Fischer holte gerade das Segel ein, jemand lud ein paar Eimer aus, zwei Kinder saßen auf dem Steg und tauchten die Beine in den spiegelglatten blaugrauen Peenestrom. Alles wäre zum Träumen ruhig gewesen, hätten nicht die Möwen aufgeregt über dem Hut des Fischers und seiner Ladung getanzt
.
Kaum hatte ich die letzten Häuser des beschaulichen Dörfchens hinter mir gelassen, führte ein Steg mitten durch das Schilf. Enten, Haubentaucher, Teichrohrsänger – sobald ich innehielt und den Blick ins Dickicht richtete, entdeckte ich einen Vogel. Ich weiß auch nicht genau, warum, aber irgendwie hob das meine Stimmung. Dazu die reine, wunderbare Luft. Herrlich.
Ich musste an eines der Haiku denken, das erste, das ich aus dem Papierkorb in Tallulahs Zimmer gefischt und entrollt hatte. Es trug die Nummer 179.
Trenthin, wo Effi,
Madame B. und Lady C.
ihren Spaß haben.
Das Kurzgedicht im perfekten klassisch-japanischen Silbenrhythmus 5–7–5 spielte auf drei titelgebende literarische Figuren an: Effi Briest von Theodor Fontane, Madame Bovary von Gustave Flaubert und Lady Chatterley von D. H. Lawrence. Bei allen drei Frauen handelte es sich um gelangweilte Gattinnen auf dem Lande, die sich in erotische Eskapaden stürzten.
Die Landschaft des Usedomer Achterlandes lockte romantische Gefühle geradezu hervor – verträumte Stillleben allenthalben, eine elegische Ruhe, anmutige Gehöfte, gebogene Wege, die an Obsthainen vorbeiführten, über Wiesen aufsteigender Nebel, der vom Wind getrieben die Gestade küsste … Kaum eine fühlende Frau konnte sich auf Dauer der Poesie dieser Natur entziehen, und die Abgeschiedenheit förderte zusätzlich eine Lust zum Abenteuer, zum Wagnis zutage. Susann hatte diese wunderbar gefährliche Mischung aus romantischer Lage, Schönheit und Einsamkeit Trenthins nicht nur erkannt, so
ndern war ihr wohl auch erlegen. Zumindest deutete ein weiteres Haiku aus ihrer Feder darauf hin, die Nummer 227.
Verbotene Frucht
Mein Liebhaber der Lüge
Bitteres Warten
In diesem Haiku sprach sie eindeutig von sich, wohingegen das andere darauf verwies, dass Amouren im beschaulichen Trenthin keine Seltenheit waren. Nur, woher wusste sie das?
Nach etwa zweihundert Metern gelangte ich an ein indisches Restaurant namens Papadam
, dahinter waren ein Parkplatz und eine Zufahrt, zu beiden Seiten von wilden Sträuchern eingehegt. An der Tür hing ein Schild: Vorübergehend geschlossen
.
Nach allem, was ich wusste, kam diesem Restaurant eine gewisse Rolle zu, und zwar sowohl was die Geschehnisse vor den Morden an Susann und der zweiten jungen Frau anging als auch jene in den Tagen vor dem Brand. Ich nahm mir daher vor wiederzukommen, oder besser, ein paar Nachforschungen anzustellen und Kontakt mit der Familie aufzunehmen.
Ein paar Minuten später gelangte ich an ein Haus, das so hübsch, einsam und idyllisch gelegen war, dass es sich um ein Museum handeln musste. Das Dach war reetgedeckt, die Fensterrahmen waren blau, und die Reflexionen des Wassers zauberten wabernde Lichtpunkte auf die weiße Fassade. Was dem Anwesen jedoch das eigentlich Besondere verlieh, war das Drumherum: eine Mischung aus Bauerngarten, wilder Schönheit und künstlerischer Raffinesse. Ein Schriftzug über dem schmiedeeisernen Eingangstor besagte: Treten Sie ein
. Genau das tat ich dann auch.
Der Kiesweg gabelte sich in drei Richtungen. Man konnte
direkt auf das Haus zulaufen, das etwa zwanzig Schritte entfernt stand, oder nach links gehen, wo stolze mannshohe Sonnenblumen aufragten, ergänzt durch die letzten Malven des Sommers und die ersten Astern des Herbstes. Disteln, Schlehen und Dünengras brachten die typische Schlichtheit des Nordens in die bunten Beete. Rechts von mir verlief eine Hortensienallee, deren zahlreiche üppige Büsche in allerlei Farben und Mischtönen gediehen. Obstbäume dienten als Nistplätze für die Singvögel.
Dass es sich weder um ein Museum noch um ein Privathaus handelte, erkannte ich an den Skulpturen, den Vasen, tönernen Tellern und Töpfen, die dekorativ zwischen die Pflanzen platziert waren und Preisschilder trugen. Darauf aufgedruckt stand: Künstlerhaus Rosemarie Busch
. Einen Augenblick später entdeckte ich den Namenszug über der Haustür, und einen weiteren Augenblick später erschien die Hausherrin höchstselbst.
Dass es sich um die Künstlerin handelte, erkannte ich, noch bevor sie mir die Hand entgegenstreckte. Hätte ich mir vorher je Gedanken gemacht, wie ich mir eine auf Usedom lebende Künstlerin vorstellte, Rosemarie Busch wäre dieser Vorstellung sehr nahegekommen. Ihr Erscheinungsbild war ein wenig extravagant. Sie trug ein farbenreiches, luftiges, im Wind flatterndes Kleid sowie eine aufwändig gefertigte Halskette mit allerlei Perlen und bunten Steinsplittern. An ihren Händen leuchteten mehrere Bernsteinringe im Sonnenlicht. Dieses fantastische Outfit umrahmte ein schlichtes Äußeres. Sie benutzte kein Make-up, und ihre stumpfen strohblonden Haare, die sie offen trug, waren von ersten grauen Strähnen durchsetzt. Kurz, eine Frau über fünfzig, der es nichts ausmachte, eine Frau über fünfzig zu sein
.
»Willkommen bei Rosemarie Busch«, sagte sie.
Im ersten Moment glaubte ich, mich geirrt zu haben und einer Angestellten der Künstlerin gegenüberzustehen.
»Oh, ich dachte, Sie sind es selbst«, erwiderte ich amüsiert.
»Ich bin es selbst.«
»Ach so.«
»Rosemarie Busch öffnet täglich um elf Uhr ihre Pforten. Sie sind heute ihre erste Besucherin.«
Von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, fand ich reichlich seltsam. Nur von einem gekrönten Haupt hätte ich das angenommen.
»Doro Kagel. Ich verbringe ein paar Tage hier.«
»Der September ist ein wunderbarer Monat. Abends geht die Sonne in sämtlichen Gelb- und Rottönen über dem Schilf unter. Ja, genau dort. Spüren Sie den Wind auf der Haut? Er ist viel angenehmer als im August.«
»Sie haben recht. Ich liebe den September.«
Rosemarie Busch lächelte mich an. »Wie schön! Sie sind eine verwandte Seele.«
Der schwindelerregend schnelle Aufstieg von einer Fremden zu einer verwandten Seele war gewöhnungsbedürftig, aber zum Glück ersparte sie mir einen Kommentar.
»Kommen Sie, ich wollte gerade mit dem Tagwerk beginnen. Heute bemalt Rosemarie Busch Meeressteine, die sie zu Ketten verarbeitet.«
Einen schöneren Arbeitsplatz als den ihren gab es nicht: ein großer, naturbelassener Holztisch im Garten, ein schattiger Platz, ein laues Lüftchen, etliche Pinsel, Farben, Steine, eine große Kanne Tee, ein Sortiment Tassen …
»Früchtetee, eigene Mischung, eigene Trocknung«, sagte
sie. »Rosemarie Busch macht alles selbst. Suchen Sie sich eine Tasse aus.«
»Nehmen Sie irgendeine«, sagte ich.
»Nein, nein, Sie müssen sich eine aussuchen, das ist wichtig, sonst harmonieren Sie nicht mit der Tasse.«
Ich harmonierte mit einer großen Mohnblume, und während mir die Künstlerin einschenkte, dachte ich darüber nach, welche Rückschlüsse sie wohl aus meiner Wahl zog, ganz so, als würde ich beim Psychiater auf der Couch liegen.
»Sie können von Ihrer Arbeit leben?«, fragte ich. »Auch im Winter?«
»Rosemarie Busch bekommt Aufträge zur Ausgestaltung von Hotels, Restaurants und Firmen aus der ganzen Ostseeregion.«
»Man begegnet Ihrer Arbeit in der Tat überall«, gab ich zu. »Ich wohne auf Gut Trenthin
, da wimmelt es von Ihren Schöpfungen, nicht wahr?«
Sie richtete den Blick auf einen kleinen Stein, den sie mit einem Haarpinsel zu bemalen begann. »Ja, dieses Hotel war ein guter Kunde. Außerdem vertreibt Rosemarie Busch Schmuck über eine Internetseite. Ein paar Kurse gibt sie auch.«
»Bernsteinkurse?«
»Unter anderem. Sie haben davon gehört?«
»Die Frau eines Zeugen im Fall Susann Illing hatte einen Bernsteinkurs belegt. Womöglich bei Ihnen?«
Sie sah weiterhin den Stein an, den sie mit ruhiger Hand verzierte. »Wahrscheinlich. So viele Kursanbieter gibt es im Achterland nicht. Wir gehen an abgelegenen Strandabschnitten spazieren und suchen Bernsteine. Hinterher bearbeiten wir dann entweder gemeinsam die Fundstücke, oder Rosemarie
Busch stellt den Kursteilnehmern eigene Steine zur Verfügung. Gegen Gebühr.«
Ein bisschen ironisch sagte ich: »Meistens sind es dann wohl Ihre Bernsteine, oder?«
Rosemarie Busch, die eigentlich alles mit einem Grundlächeln zu tun schien, zeigte keine Veränderung ihres Ausdrucks.
Ich war mir nicht genau darüber im Klaren, was ich an ihr nicht mochte, da ich sie kaum kannte und sie mir nichts als Freundlichkeit entgegenbrachte. Vielleicht hatte ich einfach nur zu lange in Berlin gelebt, wo man direkte, offensive Nettigkeit eher argwöhnisch betrachtet.
»Kannten Sie Susann Illing?«, fragte ich.
»Aber natürlich. Jeder hier kannte sie. Wieso fragen Sie?«
»Ihr Job ist das Bearbeiten hübscher Gegenstände, die in der Natur vorkommen. Mein Job ist das Aufdecken schmutziger Gemeinheiten, die in der Natur des Menschen liegen.«
Sie verstärkte ihr Grundlächeln ganz leicht. »So, Sie sind also Journalistin.«
Rosemarie Busch wechselte Pinsel und Farbe, drehte den Stein und malte weiter. »Mein Haus liegt an Susanns Laufstrecke. Und Sie gehen die Strecke ab?«
»So ist es.«
»Ja, sie ist fast jeden Tag hier vorbeigekommen.«
»Hat sie mal bei Ihnen Halt gemacht?«
»Nein. Wozu?«
Wie von mir bestellt, kam ein Jogger vorbei, der ihr einen kurzen Gruß zuwarf.
»Aber sie hat Sie gegrüßt?«, fragte ich. »Ich meine, der Weg ist nur ein paar Schritte von Ihrem bevorzugten Arbeitsplatz entfernt.
«
»Wenn Susann joggte, dann joggte sie. Sie war sehr konzentriert in allem, was sie tat. Fast verbissen, möchte ich sagen. Nein, wir hatten so gut wie keinen Umgang miteinander. Sie war viel jünger als Rosemarie Busch. Außerdem war sie eher praktisch orientiert. Sie wollte Ökonomie studieren und kannte sich blendend im Steuerrecht und mit Statistiken aus. Mit Bernsteinen und Tontöpfen konnte sie nichts anfangen.«
»Sie meinen, Susann hat ein wenig auf Sie und Ihre Arbeit herabgesehen?«
Endlich blickte sie kurz auf. »Das habe ich nicht gesagt. Sind Sie eine von denen, die einem das Wort im Munde verdrehen?«
Interessanterweise war sie erstmals von der dritten Person in die erste gewechselt. »Ich habe meinen Zungenverdreher zu Hause vergessen und versuche nur, Susanns … wie soll ich sagen? Ich will ihre Psyche verstehen. Ihre Seele, wenn Sie so wollen.«
»Soso, ihre Seele«, wiederholte Rosemarie Busch und konzentrierte sich wieder auf Stein und Pinsel, die sie geschickt und noch immer mit enorm ruhiger Hand führte. Es entstanden blau-weiße Blüten. »Susanns Seele stelle ich mir wie ein quadratisches, aufgeräumtes Zimmer vor.«
Die Wörter »Seele« und »aufgeräumt« hatte ich noch nie in einem Satz gehört. Entsprechend zog ich die Augenbrauen hoch, was Frau Busch bemerkte, ohne den Blick vom Stein zu nehmen.
»Sie hatte immer alles im Griff, alles war an seinem Platz. Auch in ihrem Kopf, verstehen Sie?«
»Bitte entschuldigen Sie, aber für jemanden, der so gut wie keinen Umgang mit ihr hatte …
«
»Weiß Rosemarie Busch so einiges über sie«, beendete sie meinen Satz. »Ich war früher ihre Kunstlehrerin, von der fünften bis zur zehnten Klasse.«
»Kunstlehrerin sind Sie also auch?«
»War ich, bis vor einigen Wochen, in Teilzeit. Kleine Aufbesserung des Salärs. Es war sehr schön, mit Kindern zu arbeiten, denn deren Köpfe und Herzen sind noch frei von Barrieren, sie atmen noch die wilde, hemmungslose und beflügelnde Luft der Fantasie.« Sie machte eine Pause und fügte mit dunklerer Stimme hinzu: »Die meisten jedenfalls.«
»Susann nicht? Lassen Sie mich raten. Ihre Bilder waren aufgeräumt.«
Rosemarie Busch lächelte über ihr normales Maß hinaus. »Enorm realistisch. Zumindest ab der achten Klasse. Das war in der Zeit ihrer großen Veränderung.«
Ich wartete einen Moment, dann sagte ich: »Vielleicht erraten Sie meine nächste Frage.«
Frau Busch drehte den Stein um und bemalte die Rückseite mit derselben Geduld und Präzision.
»Als Susann ungefähr vierzehn Jahre alt war, ist etwas mit ihr passiert. Vorher war sie ein durchschnittliches Mädchen, sowohl was ihre Leistungen als auch ihr Benehmen anging. Vielleicht ein bisschen bäuerlich. Ihre Eltern sind ja schon … nun denn, eher einfach gestrickte Leute. Wenn die Mutter mal ein Buch in die Hand nahm, war es ein Kochbuch. Und der Vater ist das Musterbeispiel eines Westberliner Altachtundsechzigers: ein strukturloser Bummler, dessen Träume letztendlich mit ihm auf dem Hocker in der Kneipe landeten. Beide recht nett, aber schlicht. Alles deutete darauf hin, dass Susann sich in dieselbe Richtung entwickelte.
«
Ich atmete zweimal aus und ein. Mein anschließendes Räuspern war, wie ich fand, ein akzeptabler Ersatz für unhöfliches Drängeln.
»Anfangs waren es nur kleine Veränderungen. Ihre Noten verbesserten sich in fast allen Fächern, sie kleidete sich adretter, sonderte sich von den anderen Mädchen ab … Eines Tages erschien statt ihrer Mutter ihre Tante zum Elternabend, und dabei blieb es. Ja, die liebe Tante Eva, oder besser Eva Regina, darauf legte sie immer großen Wert, soweit ich mich erinnere. Die Frau hat Haare auf den Zähnen, das kann ich Ihnen sagen! Nur gut, dass die Leute in der Regel tot sind, wenn sie unter ihre Fittiche geraten. Sie ist die Frau des Leichenbestatters Alexander Waldeck.«
»Hat sie großen Einfluss auf Susann ausgeübt?«
»Ganz gewiss. Susanns plötzlicher Eifer, immer die Beste sein zu wollen, und zwar in allem, Literatur, Reiten, Flötespielen, Mathematik, das ging wohl auf das Konto der Tante. Ebenso der neu entdeckte Ordnungssinn und die fanatische Effizienz, mit der sie ihre Zeit einteilte. Aber die Sache schien mir komplizierter zu sein, so als ob … nun ja, so als wollte Susann noch eine Schippe drauflegen. Die vielen ehrenamtlichen Engagements, zum Beispiel, die sind so gar nicht Frau Waldecks Ding. Oder dass Susann sich nach dem Selbstmordversuch ihrer Schwester intensiv um Tallulah gekümmert hat, das hat sogar mich überrascht. Vorher hat sie das arme Ding nicht besser behandelt als eine Gutsherrin die Schweinemagd. Sie war schon reichlich seltsam. Widersprüchlich und schwer einzuschätzen.«
Was ich erfuhr, war äußerst informativ, ging jedoch über das hinaus, was eine Kunstlehrerin normalerweise über ihre
ehemaligen Schülerinnen zu berichten weiß. Vielleicht war das dem Tausendseelendorf geschuldet, wo man an einem Ende der Straße erfuhr, dass sich jemand achtundvierzig Stunden zuvor am anderen Ende einen neuen Briefkasten montiert hatte. Allerdings lebte Rosemarie Busch abseits des Dorfes, und zwar nicht nur was die Lage ihres Hauses betraf, wie mir schien. Woher also wusste sie so viel?
»Kann es sein, dass Susann häufiger in Ihrem Laden war?«
»Wo denken Sie hin! Das wäre ja so, als würde ein Taschenrechner ein Zirkuszelt betreten. Was sollte er wohl darin tun?«
Ich lachte. Auf ihre eigene, spezielle Weise war Rosemarie Busch recht amüsant, und ich war bereit, meine Meinung über sie zu revidieren. Was hieß da überhaupt Meinung? Es war eher ein diffuses Gefühl als ein konkreter Gedanke, das mich ihr gegenüber fremdeln ließ.
Eine Minute lang trank ich den Früchtetee aus der Mohnblütentasse und sah Frau Busch bei der Arbeit zu, die sie schweigend, lächelnd und vielleicht sinnierend verrichtete. Mir war, als ob sie den Stein zwischen ihren Fingern regelrechte liebte und ihm nur das Beste und Schönste angedeihen lassen wollte.
»Haben Sie Susann am Tag ihres Todes vorbeilaufen sehen?«
Sie vermalte sich und wischte den Fleck mit einem alkoholgetränkten Tuch weg. »Nein, denn wie Sie vorhin selbst richtig sagten, hat Rosemarie Busch an jenem Nachmittag einen Bernsteinkurs gegeben.«
»Wo war das?«
»Er findet jedes Mal woanders statt, je nach Laune und Wetter.«
»Und wohin haben Laune und Wetter Rosemarie Busch an
jenem Tag verschlagen? Derart außergewöhnliche und erschütternde Ereignisse lassen uns normalerweise erinnern, wo wir uns zum Zeitpunkt des Dramas befanden.«
»Da sehen Sie mal, wie verschieden die Menschen sind. Gerade wegen des erschütternden Ereignisses hat Rosemarie Busch die Erinnerung an diesen speziellen Bernsteinkurs völlig verloren.« Sie streute ein Pulver über den bemalten Stein, hielt ihn für ein paar Sekunden in den Strahl eines Föns und überreichte ihn mir. »Blau steht Ihnen hervorragend. Bitte, nehmen Sie ihn.«
»Oh«, rief ich. »Das ist ausgesprochen lieb von Ihnen.«
»Und die Mohnblütentasse bitte auch.«
»Nein, das kann ich nicht annehmen.«
»Hat Ihnen der Tee geschmeckt? Hier bitte, ein Fünfzig-Gramm-Tütchen.«
Sie machte mich verlegen mit ihrer Großzügigkeit, zumal ich vorher nicht gerade nett über sie gedacht hatte. Fast benommen folgte ich ihr in den Laden, wo sie den Stein mit einer einfachen Flechtkette aus Schnüren und Bändern versah und alles hübsch verpackte. Natürlich dachte ich darüber nach, ob ich ihre Geschenke zurückweisen oder mit irgendetwas vergelten sollte. Mir fiel auf die Schnelle allerdings nichts ein.
Der Laden war mit Amphoren, Vasen, Skulpturen, handgemalten Bildern und Emaillen bestückt. An einem Fischernetz vor dem Fenster hingen Dutzende Schmuckstücke, alles liebevoll dekoriert. Gerne gab ich es nicht zu, aber der Raum hatte das gewisse Etwas. Ich fühlte mich wohl darin, was auch an dem heimeligen, großen Brennofen lag, in dem wohl gerade etwas trocknete, da er eine angenehme Wärme und einen erdigen Duft ausstrahlte
.
Gerade als ich einen letzten Versuch unternehmen wollte, der Peinlichkeit des unerwiderten Geschenkesegens zu entgehen, nahm sie einen Rechnungsblock zur Hand.
»Rosemarie Busch gibt Ihnen fünfzig Prozent auf den Stein und zwanzig Prozent auf Tasse und Tee. Das macht dann zusammen zweiundvierzig Euro.«
Bevor ich etwas sagen konnte, überreichte sie mir meine »Einkäufe« in einem Baumwollbeutel.
So also sah das Schicksal der verwandten Seelen von Rosemarie Busch aus. Ich zahlte den Betrag stumm und mit einem flauen Gefühl im Magen, aber ich zahlte ihn. Beim Abschied stand ich ein bisschen neben mir, so als hätte ich gerade ein Nahtoderlebnis gehabt.
Der Weg von Susanns Joggingstrecke führte mich zunächst durch ein beschauliches Niemandsland zwischen Schilf und Peenestrom auf der einen Seite und windgebeugten Bäumen und Büschen auf der anderen Seite. Der Mörder hätte dort einerseits leichteres Spiel gehabt, denn es gab allerlei Versteck- und Fluchtmöglichkeiten. Andererseits war auch mehr los. Ich zählte binnen zehn Minuten neun Spaziergänger oder Jogger – nicht gerade viel und doch neun Personen mehr als zwischen Park- und Campingplatz.
Nach etwa einem Kilometer gelangte ich an besagten Campingplatz, diesmal jedoch von der anderen, der Uferseite. Das Gelände für die Wohnmobile und Zelte dehnte sich weit aus und war eingezäunt, unterbrochen von zwei Türen, zu denen nur die Camper Schlüssel hatten. Ein Spaziergänger hätte also nicht so einfach eine Abkürzung nehmen können, um zur Landstraße oder auf den Waldweg zu gelangen. Die alten
Schilder, auf denen Insel-Camping Lieper Winkel, Inhaber Udo und Mareike Diane Illing
stand, waren abgehängt und durch neue Schilder ersetzt worden: Camping Stilles Wasser, Inhaber Eddi Fassmacher
.
Einen weiteren Kilometer später begegnete mir derselbe Name noch einmal, diesmal vor einer Anlage mit zwölf relativ neuen Ferienhäusern, die zwischen Uferweg und Landstraße platziert worden waren. Herr Fassmacher war wohl so etwas wie der König des Lieper Winkels, denn Gut Trenthin
gehörte ihm neuerdings ebenfalls, wie mir die Rezeptionistin Kathrin verraten hatte. Es lag etwa fünfhundert Meter von den Ferienhäusern entfernt. Am ehemaligen Simonsmeyer-Hotel endete jegliche Bebauung. Im weiteren Verlauf des Weges, der schon bald vom Ufer wegführte, spazierte ich durch Wald, Felder und Wiesen, wo sich Hasen, Rehe und Störche labten. Ein älteres Paar kam mir entgegen, ansonsten war ich eine halbe Stunde der einzige Mensch auf weiter Flur. Hätte jemand vorgehabt, Susann umzubringen, wäre dieses abgelegene Stück Natur ideal gewesen.
Nach zwei Kilometern kam ich an einen Streichelzoo, der von begeisterten Kindern, ihren Eltern und unzähligen Felltieren belebt war. Nicht weit davon entfernt kreuzten sich zwei Wege. Der eine führte am Fußballplatz und am Friedhof mit der Trauerhalle vorbei direkt nach Trenthin, das laut Beschilderung eins Komma zwei Kilometer entfernt war. Der andere führte über die Landstraße zu dem Wanderparkplatz. Der zweite Weg war Susanns bevorzugte Route gewesen, ihre »große Runde«. Er führte vom Wanderparkplatz zum Campingplatz, den sie – da sie als Familienmitglied einen Schlüssel besaß – ohne Schwierigkeiten durchlief, um am Uferweg
wieder herauszukommen. Diesem folgte sie dann bis Trenthin, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Eine beachtliche Strecke. Die Abkürzung vom Streichelzoo nach Trenthin nahm sie nur selten. Hätte sie den Weg an ihrem Todestag gewählt, würde sie vermutlich noch leben.
Was war bei meiner Wanderung nun eigentlich herausgekommen, außer dass ich mir eine Blase gelaufen hatte und um zweiundvierzig Euro ärmer war?
Konkret: gar nichts. Ich hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, der die These von der Täterschaft Holger Simonsmeyers auch nur im Entferntesten anfocht. Allerdings auch keinen, der die These untermauerte. Immerhin hatte ich mir einen Überblick über die geografischen Gegebenheiten verschafft, und etwas war mir dabei dann doch aufgefallen.
Erstaunlich viele Personen, die in irgendeiner Weise mit dem Verbrechen und seinen Folgen zu tun hatten, lebten oder arbeiteten entlang der Joggingstrecke von Susann. In dem indischen Restaurant hatte sie nach Aussage ihrer Mutter bei Buchführung und Steuererklärung geholfen. Rosemarie Busch hatte zur Tatzeit einen Bernsteinkurs gegeben, an dem auch die Frau eines wichtigen Zeugen teilgenommen hatte. Zudem erhielt ich im Hotel Gut Trenthin
, wo Rosemarie Buschs Prospekte auslagen, die Auskunft, dass die Kurse immer in der Nähe des Künstlerhauses stattfanden, also nicht weiter als zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Und Eddi Fassmacher war inzwischen nicht nur der neue Pächter des Campingplatzes, der davor der Familie des Opfers gehört hatte, sondern auch der neue Eigentümer des Hotels, das der Familie des vermeintlichen Täters gehört hatte.
Da das Papadam
noch geschlossen und ich Frau Busch
bereits auf unvergessliche Weise begegnet war, musste ich nicht lange überlegen, auf wen ich meine Aufmerksamkeit als Nächstes richten sollte.