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Noch fünfzehn Tage bis zum zweiten Mord
Auszug aus Susanns Tagebuch vom 2. Juli
Ich habe heute etwas in Erfahrung gebracht, das mich fast umgehauen hat. Eigentlich ist es ziemlich banal, aber es ist etwas anderes, so etwas selbst zu entdecken, erst recht in der eigenen Familie …
Bevor ich weiterschreibe, ich habe noch etwas anderes entdeckt, schon vor einiger Zeit. Tallulah schnüffelt in meinem Zimmer herum.
Lula, falls du diese Zeilen liest: Du solltest dich was schämen. Das ist voll daneben. Schnüffeln geht gar nicht, vor allem nicht in den Tagebüchern anderer Leute. Okay, ich war auch ab und zu in deinem Zimmer und habe mich umgesehen. Mama und Papa haben mich nach deinem Selbstmordversuch gebeten, mehr als nur ein Auge auf dich zu haben. Aber ich habe ihnen gesagt, dass das falsch sei und sie sich intensiver um dich kümmern sollten, anstatt dir nachzuspionieren. Ich bin ja nicht blöd, blind und taub, ich merke doch auch, dass sie mich dir vorziehen. Aber mal ehrlich, wenn du dich nur nicht so gehen lassen und diese
depressive Musik hören würdest. Ich mache mir echt Sorgen um dich …
Eigentlich glaube ich nicht, dass Lula meine Tagebücher gefunden und gelesen hat. Sie sind zu gut versteckt. Trotzdem, ganz sicher bin ich mir nie. Schon mehr als einmal habe ich mir überlegt, ob ich meine Ephemeriden digital schreiben und in einer Cloud deponieren sollte. Am Ende kann ich mich damit nicht anfreunden, so wenig wie mit E-Books. Ich habe solche Dinge lieber in der Hand, wo sie nach Papier duften und beim Umblättern rascheln, als dass sie geräusch- und geruchlos im Äther umherschwirren. Auch wenn das die Gefahr birgt, dass neugierige Schwestern mitlesen.
Ach so, ja, meine Entdeckung … Wie geht man damit um, wenn man dahinterkommt, dass jemand in der Familie etwas absolut Falsches tut? Klar, man stellt denjenigen zur Rede. Und wenn das nichts hilft? Darf jemand, der uns nahesteht, etwas Unmoralisches tun, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen?
Haiku Nummer 297
Keine Liebe mehr
Für das eigene Idol
Auf fremden Wegen
Tallulah steckte sich nacheinander zwei zu Kügelchen geformte Papierfetzen in den Mund und spülte sie mit Cola hinunter.
»Sekt oder so hast du nicht?«, fragte sie Amrita.
»Mein Vater hasst Alkohol.«
»Meiner auch, er vernichtet ihn, wo er ihn sieht«, sagte Tallulah lachend und vertilgte ein weiteres Kügelchen
.
Sie sah sich um. Amritas Zimmer war das langweiligste, das sie je gesehen hatte, noch langweiliger als Susanns, und das wollte was heißen. Bei Tallulahs Schwester war auch alles an seinem Platz gewesen. Es hatte eine Ecke zum Flötespielen gegeben, eine Ecke mit einem Sessel zum Lesen und Relaxen, ein nach Genres sortiertes Bücherregal, genau wie im Buchladen, eine Stelle für hübsch gerahmte Fotos an der Wand … In Amritas Zimmer hingegen gab es keine Eckchen für dies und das, ganz einfach deshalb, weil es kein Dies und Das gab. Amrita hatte keine erkennbaren Interessen, nicht mal einen Computer. Wie in einer Nonnenklause gab es ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl sowie einen Schreibtisch, der so aufgeräumt war, dass Tallulah am liebsten das matschige Papierkügelchen daraufgespuckt hätte. Das Auffälligste waren noch Finns Bambus-Basteleien, die überall herumstanden, sowie die bunt bemalte Holzstatuette einer Frau mit vielen Armen und Gesichtern.
»Das ist Parvati, die hinduistische Muttergöttin und Göttin der Liebe«, erklärte Amrita. »Natürlich nur der ehelichen Liebe und der Mutterliebe, sonst würde mein Vater nicht zulassen, dass ich sie aufstelle.«
Tallulah verdrehte die Augen. »War ja klar.«
Amrita lächelte schelmisch, wobei sie ihre wunderschönen Zähne zeigte. »Aber sie hat noch einige andere Beinamen und Funktionen. Als Lakshmi ist sie die Göttin des Glücks, als Uma die Göttin des Lichts und der Schönheit, als Kali die Göttin der Zerstörung und des Todes, und als Durga …«
»Ehrlich, ich würde sterben, wenn ich so viele Aufgaben hätte«, kürzte Tallulah die Belehrung ab. »Die arme Frau müht sich ab, und keiner greift ihr unter die Arme. Na ja, sind auch ziemlich viele.
«
Das letzte Stück von Susanns Tagebucheintrag des 2. Juli, Haiku Nummer 297, landete in Tallulahs Mund.
»Darf ich dich was Indiskretes fragen, Lula?«
»Yap, leg los.«
»Warum isst du Papier?«
Das war eine gute Frage und tatsächlich indiskret, denn sie stieß bis ins Innerste vor, in den Kern aller Probleme, die Tallulah hatte und schon immer gehabt hatte. Dass es diese ernsthaften Probleme gab, war ihr durchaus bewusst. Ihr war klar, dass es nicht normal war, sich das Leben nehmen zu wollen, Papier mit einer Flasche warmem Prosecco hinunterzuspülen und in einem Saustall zu wohnen. Nur vermochte sie nichts dagegen zu tun. Die Dinge geschahen, das war alles, was sie dazu sagen konnte.
»Ich weiß es nicht.«
»Wieso lässt du es dann nicht?«
»Hm.«
»Was steht überhaupt auf dem Papier?«
»Das ist das Tagebuch von Susann.«
»Deiner Schwester? Sie ist tot.«
»Hab ich mitbekommen.«
»Du hast sie nicht gemocht, oder?«
»Wow, du hast gerade echt einen Lauf.«
»Aber du könntest … Du könntest das Tagebuch verbrennen oder in den Müll werfen oder daraus kleine Papierflieger basteln und sie aufs Meer hinaussegeln lassen.«
»Ja, ich könnte mir auch den Hintern damit abwischen. Oder in einen Kochtopf damit Leim herstellen.«
»Oder der Polizei übergeben. Wer weiß, was da alles drinsteht.
«
»Tja, wer weiß das schon?«
»Stattdessen frisst du ihr Tagebuch auf wie der Wolf die Eingeweide des Lämmchens.«
»Tolles Bild. Write a book.
«
»Also? Warum machst du all das nicht?«
»Das ist so, als würdest du einen klebrigen Teigklumpen in die Hand nehmen, sie umdrehen und dem Teig sagen, er kann fließen, wohin er will. Probier mal aus, was passiert.«
Amrita dachte darüber nach. »Du bist aber kein Teigklumpen.«
»Doch, irgendwie schon.«
Tallulah staunte selbst, dass sie darüber sprach, ausgerechnet auch noch mit Amrita. Wie jeder mit einem einzigen Blick hätte feststellen können, hatten die beiden Mädchen nicht viel gemeinsam, außer dem Alter. Allein der Zufall hatte sie zusammengebracht: Im Schulbus wollte niemand neben Amrita sitzen und keiner neben Tallulah. Die eine war ihnen zu bieder und langweilig, die andere zu asozial. Nach Tallulahs Selbstmordversuch hatten einige Mitschülerinnen sich verpflichtet gefühlt, sie zu trösten, doch sie hatte ihnen den Finger gezeigt und gesagt, sie sollten bleiben, wo der Pfeffer wächst. Daran hatten die meisten sich gehalten, den anderen spuckte sie ins Gesicht. Nur Amrita nicht. Sie anzuspucken wäre gewesen, wie ihr die Unschuld zu nehmen.
Über Monate hinweg hatten sie sich langsam angefreundet, die indische Nonne und die Proletin, und irgendwann hatte Tallulah ihr von Farhad erzählt. Wie bei so vielem anderen hatte sie sich auch dabei nichts gedacht. Ihre Freundschaft war für sie wie ein Kaktus oder ein Hamster, den man für eine Weile hat, sich aber keinen großen Kopf macht, wenn er eingeht
.
»Lula, es gibt einen bestimmten Grund, warum ich dich zu mir eingeladen habe«, gestand Amrita, als handele es sich um eine ernste Verfehlung.
»Ich hoffe sehr, du willst nicht, dass ich da weitermache, wo Kathrin aufgehört hat.«
»Kathrin Sibelius? Sie hat mir das Reiten beigebracht, das einzige Hobby, das mein Vater mir gönnt.«
»Na ja, es gibt Gerüchte, dass sie dir auch das Knutschen beigebracht hat.«
»Ich bin nur vom Pferd gefallen …«
»So nennt man das also in Indien.«
»… und sie hat mich wieder auf die Beine geholt.«
»Hey, ich kann das verstehen. Finn ist nicht ohne, dem kann man nicht unvorbereitet wie ein viktorianisches Mädchen entgegentreten.«
»Sei bitte einfach mal ruhig.«
»Weißt du, was du da verlangst?«
Tallulah amüsierte sich königlich. Bisher hatten sie sich nur auf dem Schulhof oder im Bus getroffen. Ohne einen Bruder oder ein Elternteil ins Eiscafé zu gehen, war Amrita nicht erlaubt. Überhaupt war Alleinsein, außerhalb des Hauses, ein No-Go für sie. In einer Klause saßen Leute, die mehr Spaß haben durften als sie, und Tallulah fand, dass man in solchen Fällen das Eis am besten damit brach, es ordentlich krachen zu lassen.
»Du musst mir einen Gefallen tun, Lula. Gleich kommt Marlon vorbei …«
»Der
Marlon?«
»Wir wollen zusammen sein. Nur eine Stunde …«
»Boah, du bist wohl von der schnellen Truppe, was? Sieht
man dir gar nicht an. Scheint, dass Kathrin ganze Arbeit geleistet hat. Es ist noch keine Woche her, da hat dein Vater Finn rausgeworfen, und jetzt hast du es mit Marlon.«
»Nein, er schleicht schon seit einer Weile um mich herum.«
»Marlon kann schleichen? Nach allem, was man so hört, ist er ein Wurfgeschoss, dass auf die Frauen drauffällt. Auf Frauen jeden Alters, übrigens.«
»Das sind bloß böse Gerüchte. Er ist ganz anders.«
»Ja klar, er und Mick Jagger. Mir soll’s recht sein. Es gibt hässlichere Männer, von denen man es sich besorgen lassen kann.«
»Sag nicht so ordinäre Sachen.«
»Jetzt komm halt mal runter von deinem Schimmel. Also, was hab ich damit zu tun? Ich hoffe, ich muss euch nicht dabei zusehen.«
»Ich steige aus dem Fenster …«
»Ist ja krass. Damit deine Eltern und Brüder dich nicht sehen?«
»Mein Vater macht gerade seinen Nachmittagsspaziergang, Mama schläft. Und Ganesh wird mich nicht verraten, er weiß sowieso Bescheid.«
»Worüber?«
»Dass ich mich manchmal aus dem Haus schleiche.«
»Cool.«
»Normalerweise schlendere ich einfach nur ein bisschen durch die Gegend oder liege herum. Mein Vater will nicht, dass ich draußen allein bin. Und was mein Vater nicht will, das will Ramu auch nicht. Er ist Papas ganzer Stolz und will es bleiben.«
»Komisch, in jeder Familie gibt es einen Streber. Wieso ist das so?
«
Tallulah warf einen Blick aus dem Fenster. Es befand sich nur einen Meter über dem Flachdach des Restaurantanbaus, der wiederum an eine Garage grenzte. Vielleicht wäre es für Tallulah ein Problem gewesen, hinunter und wieder herauf zu kommen, nicht jedoch für die schlanke Amrita mit ihrer Eins im Turnen.
»Ich lasse die Musik laufen«, erklärte sie, »und ab und zu musst du lachen oder ein bisschen lauter sprechen, damit mein älterer Bruder keinen Verdacht schöpft.«
»Was, wenn er reinkommt?«
»Das macht er eigentlich nie.« Amrita blickte erst auf die Uhr und dann in die Ferne. Da stand Marlon auch schon in seiner ganzen Pracht, mit seinem von Farbklecksen übersäten Blaumann und allem Drum und Dran.
»Beachtlich«, sagte Tallulah. »Zwischen zwei Ficks weißelt er noch schnell mal eine Wand.«
»Wenn du so was sagst, werde ich traurig.«
»Sugar
, du redest wie ein Kinderstar, benimmst dich aber wie eine Nutte. Genug geklönt. Zisch ab und hab Spaß.«
Eine Minute später saß Tallulah allein in der Klause, angestarrt von einer vierköpfigen indischen Göttin, hörte Helene Fischer und brach alle paar Minuten wie eine Irre grundlos in Gelächter aus – und das alles ohne Prosecco. Sie ärgerte sich, keine Flasche mitgebracht zu haben, und zog kurz in Betracht, nach unten ins Restaurant zu gehen und sich an der Bar zu bedienen. Ganesh hätte bestimmt nichts dagegen einzuwenden, er war ziemlich locker drauf. Ramu hingegen … Neuerdings trug er Seitenscheitel und Sakko, und solchen Typen war nicht zu trauen, wenn es um kleine, harmlose Gaunereien ging. Amrita hatte recht, ihn vorsichtshalber nicht einzuweihen.
Frustriert holte Tallulah ihr Smartphone hervor. Jetzt war
eigentlich nicht die richtige Zeit für einen Chat mit Farhad, nachmittags kaufte er immer ein oder trank Mokka mit seinen Kumpels. Doch sie riskierte, ihm ein Hallo zu schicken, um zu sehen, ob und wie er reagierte. Farhad mochte es nicht, beim Mokka gestört zu werden.
Während sie auf seine Antwort wartete, dachte sie daran, dass die süße Amrita vielleicht gerade den ersten Sex ihres Lebens hatte. Dieselbe Erfahrung hatte Tallulah vor gut einem Jahr gemacht. Sie hatte Susann angebettelt, für ein Wochenende mit ihr und Kathrin nach Berlin fahren zu dürfen. Es hatte geklappt, und als die beiden kulturbegeisterten Freundinnen die Oper besuchten, hatte sie sich im Hotel mit dem Mann getroffen, mit dem sie seit einiger Zeit heimlich chattete: Farhad. Dass er sich als Einunddreißigjähriger herausstellte – statt der im Profil angegebenen vierundzwanzig Jahre –, störte sie überhaupt nicht. Er war ein großartiger Liebhaber mit einer Million Brusthaaren und dem Duft von Moschus auf der Haut. Während in der Oper Wagners Isolde den Liebestod starb, wurde Tallulah zur Frau.
Susann bekam zunächst nichts mit. Tallulah war vorsichtig, ließ sich nichts anmerken, änderte ständig den Code ihres Handys und ihr Passwort bei Facebook. Irgendwann kam sie dann doch noch dahinter. Das war zwei Tage vor ihrem Tod.
Das fröhliche »Pling« ihres Smartphones ließ Tallulahs Herz höherschlagen, wie immer, wenn Farhad auf einen Chat einstieg.
Farhad: Salam aleikum
, Honigmund.
Lula: Störe ich?
Farhad: Ich bringe Aaliyah gerade bei, wie man Tabbouleh macht.
Lula: Wer ist Aaliyah
?
Farhad: Eine Neue.
Lula: Neue was?
Farhad: Angestellte.
Lula: Ach so. Und Tabbouleh?
Farhad: Ist ein Salat aus Bulgur, Petersilie, Tomaten und Zwiebeln. Schlag das Rezept nach, mach ein Tabbouleh und schick mir das Foto, ja?
Lula: Wieso?
Farhad: Weil ich es sage. Weil wir es bei uns in der Bar als Snack servieren.
Lula: Dafür hast du ja jetzt Aaliyah.
Lula: Hallo?
Lula: Farhad?
Er hatte sich ausgeklinkt. Eine Minute lang war Tallulah sauer, eine weitere Minute unsicher. Danach machte sie sich Vorwürfe, derart zickig gewesen zu sein.
Sie schlug gerade das Rezept für Tabbouleh nach, als jemand an der Tür klopfte. Noch bevor Tallulah irgendwie reagieren konnte, kam Ramu herein und sah sich verwundert um.
»Wo ist Amrita?«, fragte er.
Sie hatte genau zwei Möglichkeiten. Sie konnte sich entweder innerhalb von wenigen Sekunden eine haarsträubende Lüge ausdenken oder die skandalöse Wahrheit enthüllen. Verärgert durch Aaliyah, Tabbouleh, ihre eigene Dummheit, Helene Fischer und die vierköpfige Göttin, beschloss Tallulah, ausnahmsweise mal nicht zu lügen. Im Übrigen ging es ja nicht um sie, sondern um Amrita.
»Deine Schwester ist zum Fenster raus, um sich mit einem geilen Muskelprotz zu treffen, der sie in diesem Augenblick entjungfert.
«
Ramu guckte sie an wie der Ochse das Scheunentor. Sie konnte ihn einfach nicht leiden, diesen biederen Schwiegersohn-Typen, Papa Tschainis ganzer Stolz. Die Brille, den mageren Körper, das gestärkte weiße Hemd und die dunkle Hose mit den Bügelfalten hasste sie sogar.
»Noch Fragen?«
Zu ihrer eigenen Verblüffung verließ er kommentarlos das Zimmer und schloss die Tür.
Wie so vieles andere, hatten sie auch das schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gemacht: ein dîner d’amour
im besten französischen Restaurant der Insel, einem Golf-Resort. Man bekam dort auf Wunsch ein Separee, in dem man vor den Blicken anderer Gäste geschützt war und zugleich eine wunderschöne Aussicht auf das nahe gelegene Achterwasser hatte, das im Mondschein glitzerte.
Für diesen Anlass hatte Bettina sich endlich mal wieder in Schale geworfen. Nicht in das übliche adrette Business-Outfit, nein, in ein blassrosa Abendkleid von Balenciaga, das sie vor Jahren gekauft, aber erst zweimal getragen hatte. Vielleicht war der Hut ein bisschen übertrieben. Ach, egal! Sie hatte plötzlich Lust an der Übertreibung, Lust, das Leben zu feiern.
»Mein Gott, siehst du heute Abend gut aus«, sagte sie zu Holger, der natürlich Smoking trug.
»Blöd, das wollte ich gerade zu dir sagen.«
»Dann tun wir so, als wäre nichts gewesen, und fangen noch einmal von vorne an.«
Sie warteten drei Sekunden und riefen gleichzeitig: »Mein Gott, siehst du heute Abend gut aus.«
Bester Laune betraten sie das Amadee
, wo der Kellner sie auf
das Freundlichste empfing und zum Separee führte. Natürlich wurde das Personal dafür bezahlt, genau das zu tun, dennoch war es eine Wohltat, endlich einmal nicht mit schamloser Offenheit oder aus Augenwinkeln gemustert zu werden. Im Amadee
war alles, wie immer, perfekt und charmant zugleich. Die Pariserin Lucille, die mit ihrem aus Köln stammenden Mann das Hotel vor fünfundzwanzig Jahren eröffnet hatte, war eine gute Bekannte von Bettina, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass sie den besten Tisch bekamen, auf dem sie eine Flasche Blanc de Blancs aufs Haus vorfanden.
»Lucille ist ein Schatz«, sagte Bettina. »Ich weiß gar nicht, wie wir uns bei ihr revanchieren sollen.«
»Sprich bei der nächsten Versammlung der Kirchengemeinde eine Runde Französisch mit ihr. Glaub mir, in Deutschland lebende Franzosen vermissen das am meisten.«
Bettina war die Vorsitzende der katholischen Kirchengemeinde, Lucille ihre Stellvertreterin. Sehr groß war die Gemeinde nicht in diesem Bundesland, in dem fast nur Atheisten und Protestanten lebten, doch das gab der Gruppe einen umso größeren Zusammenhalt.
Austern, Hummersuppe, getrüffelte Gnocchi, Rehrücken provençal – am Essen lag es nicht, dass der Abend nicht so verlief, wie Bettina es erhofft hatte. Alles war wunderschön, sogar das Wetter spielte mit, und die Unterhaltung mit Holger war flüssig und streifte kein einziges der Probleme, mit denen sie sich herumschlugen.
Trotzdem war er nicht ganz bei ihr. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, vielleicht war es eine jener übersinnlichen Schwingungen, von denen Männer gerne behaupteten, dass nur Frauen sie wahrnähmen. Und womöglich lag es
tatsächlich an ihr selbst. Seit dem Beinahe-Reitunfall kam es ihr vor, als brauchte sie von Tag zu Tag ein wenig mehr Kraft, um das innere Stimmchen zu übertönen. Dabei handelte es sich um ein keckes Ding, das steif und fest behauptete, dass hinter dem ohnehin schon bewölkten Horizont eine finstere Gefahr heraufziehe. Es war leicht, davor Angst zu haben. Zugleich war es unmöglich, mit dem Finger darauf zu zeigen.
Im Gegensatz zu dem schwarzen Etwas, das auf ihrem Zitronensorbet schwamm.
»Was ist denn das?«
»Sieht aus wie ein Stück Trüffel.«
»Holger, ich bitte dich. Trüffel im Sorbet?«
Bei näherem Hinsehen entpuppte es sich als fette Schmeißfliege. Man hätte es als Missgeschick oder Fauxpas einstufen können, wäre Holgers Sorbet nicht mit einer mattglänzenden Schicht aus Zwiebelbutter überzogen gewesen.
»Je suis très desolé
«, brachte die herbeigeeilte Lucille ihren Kummer zum Ausdruck, wobei ihr faltiges, charaktervolles Gesicht deutlich länger schien als gewöhnlich. »Ihr Lieben, es tut mir ja so leid. Wir haben die Schuldige bereits ausfindig gemacht: Carmen Beitzke, eine unserer Hilfsköchinnen. Sie hat bereits gestanden. Kennt ihr sie?«
Bettina und Holger sahen sich an. »Ich glaube, sie wohnt in Balm«, sagte Bettina. »Ging mal in Finns Schulklasse.«
»Als Grund hat sie angegeben … Alors
, das könnt ihr euch vielleicht denken«, sagte sie an Holger gewandt. »Ich habe ihr natürlich ordentlich den Kopf gewaschen.«
»Armes Ding, vielleicht könnte ich mal mit ihr reden?«, fragte Bettina. »Wenn sie sich bei mir entschuldigt, musst du sie nicht entlassen.
«
»Oh, ich werde sie nicht entlassen.«
»Auch eine Abmahnung macht sich nicht gut im Zeugnis.«
»Abmahnen werde ich sie auch nicht.«
Nun war es Bettinas Gesicht, das sich deutlich verlängerte. »Lucille, so etwas darfst du dem Personal nicht durchgehen lassen. Wenn das jeder macht …«
»Ihr müsst mich verstehen, mes amis
. In meiner Küche arbeiten bereits zwei Eritreer, eine Senegalesin, ein Nepalese und ein Pakistani. Die einzig anerkannte Sprache ist die mit Handzeichen. Ich finde einfach keine Leute mehr, obwohl ich achtzig Prozent über dem Mindestlohn zahle. Seht ihr die sechs leeren Tische dort drüben? Ich hätte sie mühelos besetzen können, aber ich habe nicht genug Kellner und Köche. Eine einzige Krankmeldung genügt, und alles steht kopf. Wenn ich Carmen entlasse oder wenn sie selbst geht, brauche ich ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahr, um die Stelle neu zu besetzen. In dieser Zeit muss ich zwei weitere Tische leer lassen. Das kostet mich geschätzt …«
»Lucille«, unterbrach Holger. »Schon gut. Wir haben dich verstanden. Es ist nicht so wichtig.«
»Merci
, liebster Holger.«
»Ich störe die deutsch-französische Freundschaft nur ungern, aber ich sehe das ganz anders«, protestierte Bettina. »Wenn es nur eine Laune von Carmen gewesen wäre, bitte sehr. Aber sie würde dasselbe morgen wieder tun. Frag sie mal, ich wette, sie stimmt mir zu.«
Lucille rang die Hände und stand auf. »Wir bringen euch ein neues Sorbet, und der Käse nachher geht aufs Haus.«
»Mit einer Kakerlake als Beilage?«, fragte Bettina.
Lucilles Gesicht zog sich wieder zusammen, besonders die
Augen. »Ich werde ihn selbst schneiden und servieren, ma chêre
, ohne Kakerlake. Übrigens, es gehört eigentlich nicht hierher … Die Kirchengemeinde hat einen anonymen Brief erhalten, in dem behauptet wird, du hättest vor über zwanzig Jahren eine Abtreibung vorgenommen, Bettina. Vielleicht könntest du das bei unserer nächsten Sitzung richtigstellen.«
Nachdem Lucille gegangen war, gab es eine Minute des Schweigens und der Starre, bevor sich Holgers Hand langsam auf ihre legte.
Sie hatte es ihm nie gesagt. Ganz am Anfang ihrer Beziehung – sie waren damals nur wenig älter gewesen als Finn heute – hatte es eine derart leidenschaftliche Phase gegeben, dass Bettina sich auf der Stelle fünf Kinder mit Holger wünschte, möglichst über Nacht. Sie hatte die Pille umgehend abgesetzt und wenig später doch wieder genommen, als ihr die weitreichenden Auswirkungen einer frühen Schwangerschaft bewusstwurden. Doch da war es bereits zu spät gewesen.
Sie hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. »Es war falsch von mir, dir zu verschweigen, dass … Zuerst war da die Angst vor deiner Reaktion, und wenn man mal ein paar Wochen lang ein Geständnis vor sich herschiebt, wird es immer schwerer, die Wahrheit zu sagen. Dann kam Finn, und ich dachte … ich dachte, es wäre nicht mehr wichtig. Das war natürlich blöd. Nein, blöd ist das falsche Wort. Meine Gefühle damals waren wie … wie Wollmäuse unterm Bett: hässlich, grau und eklig. Ich weiß auch nicht, ich hätte … Vor ein paar Jahren habe ich es Eva Regina erzählt, im Vertrauen natürlich. Sie meinte, späte Beichten seien ungefähr so nützlich wie Pflaster auf vernarbten Wunden.«
»Wollmäuse«, sagte er
.
Sie sah auf und blickte in das feine, nur für sie sichtbare Lächeln, das sie bei keinem anderen Menschen fand.
»Unter dem Bett«, sagte sie, und plötzlich war es da, was sie den ganzen Abend lang, nein, seit seiner Freilassung oder vielmehr seit seiner Verhaftung vermisst hatte: diese besondere Intimität, die er ausstrahlte und von der sie im Laufe der Jahre abhängig geworden war.
Sie lachte kurz und befreit auf, wie man es tut, wenn man etwas Kostbares, Verlorenes wiederfindet. Doch das Thema war ihr zu ernst, um ihm mit Humor zu begegnen.
»Wie geht es dir damit, Holger?«
»Ich dachte, das hätte ich dir bereits durch die Blume gesagt.«
»Ich würde mich besser fühlen, du würdest die Blume dieses eine Mal weglassen.«
Er seufzte und nahm sich Zeit, versenkte den Blick ins Achterwasser und kehrte zu ihr zurück. »Wir haben zwei großartige Kinder, oder? Alles andere ist unwichtig. Ganz ehrlich, das fühle ich und nichts anderes.«
Heiße Tränen stiegen in ihr auf. »Weil du der großartigste Mann der Welt bist.«
»Sag das nicht.«
»Doch, das sage ich und wiederhole es sogar noch mal: der beste Mann, den es gibt.«
Mit Lob hatte Holger noch nie gut umgehen können, schon gar nicht, wenn es aus vollem Herzen kam. Rasch wechselte er das Thema.
»Du solltest keinesfalls als Vorsitzende der katholischen Kirchengemeinde zurücktreten, auch wenn sie dich dazu drängen. Denn das werden sie.
«
Es fiel ihr schwer, die Gedanken auf die nächste Vorstandssitzung der Kirchengemeinde zu fokussieren. Zu viele Gefühle versperrten ihr den Zugang zu rationalen Überlegungen.
»Allen voran Lucille«, hakte er nach. »Wenn es um Religion geht, versteht sie keinen Spaß. In ihrem Schlafzimmer hängt bestimmt ein Bild des Papstes.«
Bettina war es müde, eine Freundin nach der anderen zu verlieren, und Lucille hatte sie definitiv verloren. Noch vor einem Jahr hätte die Französin den Brief nicht einmal erwähnt, sondern direkt in den Mülleimer befördert. Vielleicht wusste Lucille selbst noch nicht, dass sie sich von Bettina entfernt hatte, das mochte sein. Doch das änderte nichts daran. Wie die anderen auch, war sie dabei, sich von Bettina abzusetzen.
Bettina zwang sich, auf Holgers Ratschlag einzugehen, auch wenn sie keine Lust auf diese Diskussion hatte.
»Du bist Protestant, du verstehst das nicht. Das wäre so, als würdest du Schwangerschaftstipps verteilen. Einige Mitglieder der Gemeinde werden sich furchtbar aufregen, und ich bin ungern das Angriffsziel, wenn ich unrecht habe, und das ist in dieser Frage der Fall.
»Es ist so lange her!«
»Zeit ist hierbei unerheblich. Außerdem, als es eben um diese Carmen ging, warst du ungefähr so kämpferisch wie ein Feldhase. Aber ich soll dem Sturm die Visage hinhalten, oder wie?«
Sie hatte ihm eigentlich keine Vorwürfe machen wollen. Nun war es doch passiert, und sie musste einsehen, dass das Bild, das sie gerade benutzt hatte, erschreckend real war. Sie befanden sich tatsächlich in einem Sturm, zwei Feldhasen auf weiter Flur, und es gab nichts, so schien es, was sie den Elementen entgegenzusetzen hatten
.
Ben-Luca kam sich vor wie ein Verräter, als er neben seiner Mutter im Auto saß, auf dem Weg zu einem weiteren Treffen von Marlons sogenannter Bürgerwehr. Bisher hatte er sich um eine Teilnahme an den wöchentlichen Sitzungen gedrückt. Er war zwar Mitglied der etwa fünfzehnköpfigen Gruppe, nahm aber in keiner Weise an deren Aktivitäten teil, zu denen neben dem Begleitservice für junge Frauen auch anonyme Attacken gegen Holger Simonsmeyer im Internet gehörten. Neulich waren ein paar Jungen mit der Sprayflasche losgezogen und hatten im Schutz der Dunkelheit Parolen an die Mauern des Hotels gesprüht. Immer wenn er gefragt wurde, ob er bei dieser oder jener Aktion mitmachte, erfand er eine Ausrede. Es wäre nur konsequent gewesen, aus der Bürgerwehr auszusteigen, doch auch dann wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen, in diesem Fall an der Dorfgemeinschaft und dem Fußballverein im Allgemeinen und seiner Mutter im Speziellen.
»Jetzt zieh nicht so ein Gesicht«, bat sie ihn.
»Mir ist übel.«
»Dann mach das Fenster auf.«
Als könnte frische Luft ein schlechtes Gewissen vertreiben. Nur seiner Mutter wegen war er mitgekommen. Sie hatte den halben Nachmittag auf ihn eingeredet, und da sein Vater an diesem Tag einen vollen Terminkalender hatte und abwesend war, fehlte ihm der Rückhalt. Also hatte er nachgegeben.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte sie.
Diesen Satz hörte er nicht oft, und ob er es wahrhaben wollte oder nicht, für einen kurzen Moment tat ihm das Lob gut.
»Ich wüsste nicht, warum.«
»Ich bin mir bewusst, dass es dich Überwindung kostet, dich gegen Finn zu stellen.
«
»Ich stelle mich nicht gegen Finn«, korrigierte er.
»Für mich war es auch nicht leicht, Bettina als Freundin abzulegen.«
»Ich lege Finn nicht ab«, beharrte er.
»Du weißt, wie ich das meine.«
Nein, wusste er nicht. Er verstand auch nicht, wieso und inwieweit sich seine Mutter in der Bürgerwehr engagieren wollte. Was konnte sie schon tun? Er hatte Mühe, sich vorzustellen, wie sie mit einer Spraydose in der Hand im Chanel-Kostüm über die Insel lief und ungelenke Botschaften sprühte. Oder die Simonsmeyers im Internet wüst beschimpfte. Die schlimmsten Wörter, die seine Mutter verwendete, waren »verflixt« und »Hornochse«. Fäkalbegriffe lehnte sie strikt ab. Schon jemanden als Idioten zu bezeichnen, wäre ihr nie passiert.
Das Treffen fand im Grünen Hut
statt, einer uncoolen Schänke, die er nur von langweiligen Geburtstagsfeiern langweiliger älterer Verwandter kannte.
»Guten Abend, Toni«, rief seine Mutter zuckersüß dem Wirt zu. »Wie geht es dir? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Das letzte Mal bei der Beerdigung deines Vaters im letzten Jahr, richtig? Das war mal eine schöne Feier, ich erinnere mich gut, sehr bewegend. Warst du zufrieden? – Das freut mich. Wo geht’s noch mal lang? Du weißt schon, für … Genau. – Nach unten in den Partykeller? Wie passend!«
Auf dem Weg die dunkle Treppe hinunter verwandelte ihre Honigstimme sich in kaltes Metall.
»Dass die sich ausgerechnet in dieser miefigen, klebrigen Kneipe treffen müssen«, beklagte sie sich. »Und dann auch noch im Keller mit der Kegelbahn, auf der schon Kugeln rollten, als Adenauer Kanzler wurde.
«
Obwohl die Stufen nach unten führten, kam es Ben-Luca vor, als müsse er einen Berg besteigen, die Beine wurden ihm schwer, sein Wille ermüdete. Schon von Weitem hörte er die Stimmen der Anwesenden, allen voran die von Eddi Fassmacher, der nicht nur sein Taufpate, sondern als Freund seines Vaters oft Gast bei ihnen zu Hause gewesen war, der ihm mehrfach heimlich Geld zugesteckt, der ihm zu Weihnachten und den Geburtstagen Wünsche erfüllt hatte.
»Was macht denn Onkel Eddi hier?«, fragte er.
»Ich wusste, dass er kommt. Wir haben uns quasi verabredet.«
»Wieso mischt der denn da jetzt mit?«
»Du hast es noch immer nicht verstanden, wie? Das ist jetzt eine echte Bürgerbewegung, nicht länger ein fantasieloser Haufen spätpubertärer Kicker, die zusammengenommen gerade mal auf die Hälfte des Intelligenzquotienten von Eddi Fassmacher kommen.«
Das letzte Quäntchen von Ben-Lucas Motivation löste sich unter den verbalen Schlägen seiner Mutter auf.
»Ich wäre jetzt lieber bei Alena«, gestand er.
»Tante Mareike passt auf Alena auf, bis dein Vater nach Hause kommt.«
»Ja, aber Susanns Mutter hat hier mehr verloren als ich.«
»Ich bitte dich, meine Schwester würde zwei Packungen Taschentücher nass schluchzen, das wäre alles, was sie zustande brächte. Geh vor. Nun geh schon.«
Als Ben-Luca die Tür aufstieß, konnte er sich kaum rühren und erst recht nichts sagen.
Neben Marlon saß Maik, ein früherer Schulkamerad, der gut in Französisch war und Ben-Luca mehrmals bei Tests aus
der Patsche geholfen hatte. Jamie, der bis vor Kurzem Stallbursche bei Simonsmeyers gewesen war und ihm nicht selten Geld geliehen hatte, war ebenso da wie Robbie, ohne den er den Praktikumsplatz in der Gärtnerei nicht bekommen hätte, und Carmen aus Balm, die ihm vor sechs Jahren das Knutschen beigebracht hatte. Da waren Herr und Frau Bertram, in deren Bäckerei er immer die Sonntagsbrötchen holte. Da war Simon Finckenbach, dem die Lackiererei gehörte. Da war Abel Dorst, der Schulbusfahrer, der auf der jährlichen Kirmes den Clown mimte. Kathrin Sibelius, die für jenen Mann arbeitete, der das Ziel dieser Hatz war. Onkel Udo, Susanns Vater, der aussah, als stünde der Sensenmann bereits hinter ihm. Und da war Tallulah, seine Tochter, deren Lustlosigkeit so offensichtlich war wie das neue Skorpion-Tattoo auf ihrem Hals.
Sie alle hörten Eddi Fassmacher zu, der im Stehen redete, wobei er seinen dicken Bauch derart herausstreckte, dass es aussah, als würden die Hemdknöpfe im nächsten Moment quer durch den Raum schießen.
»Hallo, Eva. Kommt rein«, sagte er und gab Ben-Luca die mächtige Hand. »Schön, dich zu sehen, mein Junge. Deine Mutter hat mir am Telefon schon gesagt, dass du dich endlich durchgerungen hast, Schulter an Schulter mit uns zu kämpfen.«
Kämpfen, dachte Ben-Luca. Du lieber Himmel!
»Setzt euch doch. Ich habe Marlon gerade gesagt, dass es eine großartige Idee war, den Begleitservice zu gründen. Dafür gebührt ihm große Anerkennung, allerdings sollten wir allmählich in ein anderes Stadium übergehen. Wir müssen professioneller werden.«
Er ließ die Worte einen Moment lang im Raum stehen,
bevor er in eine Tüte griff und zwei seltsam aussehende Geräte hervorholte.
»Ich habe siebzig Elektroschocker besorgt, weitere sind bestellt. Die verteilen wir ab sofort unter der Bevölkerung.«
Er ließ eine Handvoll davon herumgehen, die betrachtet wurden wie Mondgestein, mit Neugier und einer gewissen Ehrfurcht. Die Reaktionen reichten von »cool« über »jawoll« bis »oje«.
»Wer keinen will, muss auch keinen nehmen. Aber wer einen nimmt, der macht bitte kein großes Aufheben darum, denn die Dinger sind … ihr könnt es euch vielleicht denken … nicht ganz legal. Ich habe auch Pfefferspray besorgt, allerdings kommt man einem echten Killer damit wohl nicht bei.«
Seine Mutter legte einen Elektroschocker vor Ben-Luca auf den Tisch.
»Wenn die Dinger nicht legal sind«, warf er ein, »wie kommst du dann an so was ran, Onkel Eddi?«
»Du stellst echt schwierige Fragen, mein Junge.«
»Das tut die Polizei auch.«
»Der Staat hat uns enttäuscht. Er ist selbst schuld, wenn seine Bürger ihr Wohl in die eigene Hand nehmen. Übrigens ist es nicht verboten, eine Bürgerwehr zu gründen.«
»Sheriff zu spielen, dagegen schon«, konterte Ben-Luca. »Von uns kann keiner mit diesen Schockern umgehen, und das meine ich nicht nur technisch. Wir sind auch nicht geschult, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Die Zweckentfremdung ist doch vorprogrammiert. Ich sehe jetzt schon überall Nachbarskatzen und Maulwürfe tot herumliegen.«
»Wenn ein paar Maulwürfe dran glauben müssen, ist das nicht weiter schlimm. Im Übrigen vertraue ich auf die
Anständigkeit meiner Mitbürger. Und was die Herkunft der Schocker angeht … ich will nicht, dass der Eindruck entsteht, in unserer Sammlungsbewegung ginge es intransparent zu.«
Jetzt ist es also schon eine Sammlungsbewegung, dachte Ben-Luca.
»Die Geräte haben wir mit der Hilfe der FWV
erhalten, einer Partei, die bei der letzten Kommunalwahl immerhin eins Komma acht Prozent der Stimmen bekommen hat.«
»FWV
?«, fragten mehrere der Anwesenden.
Auch Ben-Luca hatte noch nie von denen gehört. »Freie Wähler Vorpommern?«, riet er.
»Freie Wehr Vorpommern«, korrigierte Eddi.
Ben-Lucas Einspruch zum Trotz steckte fast jeder der Anwesenden mindestens einen Elektroschocker ein, auch seine Mutter.
»Kommen wir nun zum nächsten Tagesordnungspunkt. Eva, du wolltest zum Thema Internet berichten.«
»So ist es«, sagte Ben-Lucas Mutter, setzte ihre Lesebrille auf und blätterte die Notizen durch. »Das ist ja alles schon ganz nett, die Liste der Lieferanten, die mit Simonsmeyers zusammenarbeiten, hat schon einige Wirkung gezeigt. Ich habe sie nach einigen Recherchen noch erweitert. Leider ist die Webseite des Hotels inzwischen besser geschützt, ich vermute, dass Finn zusätzliche Sicherungen eingebaut hat, die ich bis jetzt nicht umgehen konnte.«
»Dabei könnte ich helfen«, warf Kathrin ein und erhielt dafür einen wohlwollenden Blick von Eddi. »Ich arbeite ja vor Ort, vielleicht bekomme ich was raus.«
Ben-Lucas Mutter notierte die Idee sofort. »Weil du dich gerade ins Spiel gebracht hast, liebe Kathrin«, begann sie. »Ich
habe mir überlegt, dass ein Protestmarsch der jungen Frauen stattfinden könnte. Vom Hafen durchs Dorf bis zum Hotel. Um die Genehmigung und die Medienberichte würde ich mich kümmern.«
»Aber ich kann doch nicht gegen meinen Arbeitgeber marschieren.«
»Das würde ich nie von dir verlangen. Aber du könntest im Hintergrund die Organisation übernehmen. Und mal mit Amrita Sayyap… mit Herrn Tschainis Tochter sprechen, ob sie nicht mitmarschieren will. In Multikulti-Zeiten kommt so etwas wahnsinnig gut an. Und ihr beide versteht euch doch gut.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Du hast ihr das Reiten beigebracht. Und gerüchteweise auch noch einiges mehr.«
Kathrin sperrte bereits den Mund auf und holte tief Luft, als Marlon sie unterbrach. »Das übernehme ich«, rief er.
Ben-Lucas Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Was genau? Das mehr?«
»Ich werde sie fragen, ob sie mitmarschiert.«
»Wie nett von dir«, sagte sie leicht sarkastisch und machte ein weiteres Häkchen.
»Was die Resonanz in den sozialen Medien angeht, also vor allem Facebook, Instagram und Twitter, ist da noch ziemlich viel Luft nach oben. Leute, wir müssen wesentlich aktiver werden. Meine Absicht ist, den Protest unter dem Hashtag freekillerusedom
zu bündeln, um bundesweit Aufmerksamkeit zu erregen. Schreibt, was das Zeug hält, ruhig auch mal aggressiv und provokant oder auf Englisch, um internationaler zu werden. Das kommt immer gut. Habe ich was vergessen?
«
Sie ging die Notizen durch, als überprüfe sie ihre Einkaufsliste im Supermarkt, während Ben-Luca sich fühlte, als wäre er gerade gegen eine Laterne gelaufen. Hinter den Attacken im Netz steckte tatsächlich seine eigene Mutter. Das war so, als hätte er gerade herausgefunden, dass sie eine von Europol per Haftbefehl gesuchte Millionenbetrügerin war.
Carmen Beitzke rief lachend: »Ich habe den beiden Simonsmeyers neulich eine Schmeißfliege ins Sorbet getan, als sie im Amadee
waren. Und Zwiebelbutter drüber geleert.«
Ben-Lucas Mutter grinste breit und blinzelte mehrmals. »Wirklich? Das ist ja toll. Äh, wie ist gleich noch dein Name?«
»Carmen.«
»Soso. Was ich noch sagen wollte … Wir sollten die Simonsmeyers auch direkt anschreiben, per SMS
und E-Mail oder über das Kontaktformular auf der Hotel-Webseite. Macht euch keine Sorgen wegen eurer Anonymität, da gibt es Möglichkeiten, und in den sozialen Medien seid ihr eh anonym, das ist ja das Tolle. Wir sollten möglichst rund um die Uhr aktiv sein, also ein paar von uns schreiben eher morgens, andere nachmittags, abends oder nachts. Herr und Frau Bertram, Sie stehen doch bestimmt sehr früh auf, um die Brötchen zu backen.«
»Um drei Uhr nachts«, sagte die Bäckerin. »Aber wir haben es nicht so mit dem Internet.«
»Ach, das bringt Ihnen schnell jemand bei. Vielleicht Carla, unsere Schmeißfliegenkönigin. Machst du das, Kindchen?«
»Carmen.«
»Ups. Zurück zum Thema. Der Killer muss begreifen, dass alle ihn hassen, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag, dass er sich nicht einfach in seinem Haus oder Hotel vor unserem Hass verstecken kann.
«
»Das klingt alles sehr professionell, Eva«, lobte Eddi.
»Ja, lieber Eddi, aber wir bräuchten noch eine Gallionsfigur. Jemand, der mit seinem Leid die Nation erschüttert. Meine Schwester Mareike wäre dafür prädestiniert, wenn sie nicht so … so passiv wäre. Ich werde ein paar Bilder von ihr posten. Trotzdem brauchen wir jemanden, der seinen Kummer in die Welt hinausschreit. Mit dem die Leute sich identifizieren können, ihr versteht? Das ist ungemein wichtig. Man kann keine spannenden Geschichten erzählen ohne Identifikationsfigur.«
Ihr Blick haftete nur kurz auf ihrem Schwager Udo, der damit beschäftigt war, mit den Augen ein Loch in die Dielen zu bohren.
»Tallulah«, sagte sie dann.
»Ich? Eine Gallionsfigur? Also echt, Tante Eva, ich weiß nicht, ob …«
»Papperlapapp. Du bist Susanns kleine Schwester. Der Killer hat dir dein Vorbild genommen, deine größte Förderin, ja, sogar deine Lebensretterin, wie wir alle wissen. Dieser Aspekt wird die Menschen zum Weinen bringen. Ich habe da schon ein paar gute Ideen, mein Kind.« Zufrieden klappte sie den Notizblock zu. »Ihr werdet sehen, all diese Maßnahmen zusammengenommen wirken Wunder. In drei Monaten sind wir die ganze Sippe los.«
Auf dem Rückweg suchte Ben-Luca nach einem Einstieg, um seiner Mutter klarzumachen, wie schäbig er ihr Verhalten fand. Er suchte vergeblich, denn er wollte sie nicht verletzen, nicht mit ihr streiten. In letzter Zeit hatte es ständig Reibereien zwischen ihnen gegeben. Wie so viele Jungen seines Alters tat er zwar immer, als wären seine Eltern nicht mehr die
wichtigsten Bezugspersonen in seinem Leben oder zumindest von abnehmender Bedeutung. Tatsächlich jedoch vermisste er die Tage schmerzlich, als das Verhältnis zu seiner Mutter frei von Störungen gewesen war. Im Gegenteil, sie hatte ihm mit Geduld und Fleiß durch so manche Krise geholfen. Ohne sie wäre er gewiss einmal, wenn nicht zweimal sitzen geblieben. Auch als es damals finanziell nicht so gut lief, hatte sie ihm weiterhin Herzenswünsche erfüllt wie den kostspieligen Schüleraustausch, als er für drei Monate nach Straßburg gegangen war. Oder die Angelausrüstung samt Ruderboot. So mancher würde sagen, derartige Opfer gehörten selbstverständlich zur Mutterschaft, doch da war Ben-Luca anderer Meinung und fand sich bestätigt, wenn er mitbekam, wie das in anderen Familien lief.
Natürlich hatte seine Mutter ihre Macken. Sie forderte viel, und manchmal forderte sie es zu vehement und hartnäckig. Einen Gang zurückschalten, fiel ihr ungeheuer schwer. Alles musste wie am Schnürchen laufen. Tat es das mal nicht, musste man alles tun, um diesen Zustand möglichst schnell wieder zu erreichen. Im Gegensatz zu Finns Mutter, die Umarmungen und sonstige Streicheleinheiten geradezu inflationär verteilte, war sie in solchen Dingen ein wahrer Geizkragen.
Umso erstaunlicher war, dass sie sich an diesem Abend, als sie an einer einsamen Kreuzung vor einem Stoppschild hielt, ihm unverhofft zuwandte und ihre Hand auf seine Wange legte.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie.
»Das glaube ich nicht.«
»Du denkst, dass es ziemlich verlogen ist, Tallulah für unsere Zwecke einzuspannen, wo sie sich doch nie etwas aus Susann
gemacht hat. Dass Eddi zu weit geht, wenn er Elektroschocker verteilt, gesponsert von einer dubiosen Partei. Und dass es ziemlich gemein von mir ist, eine mediale Großoffensive gegen die Simonsmeyers zu starten.«
Der Motor schnurrte leise in der Nacht, und das Licht einer Laterne fiel in die Augen seiner Mutter. Sie waren dunkel, mit einem violetten Schimmer, und er kannte niemanden, der so schöne Augen hatte wie sie.
»Du hast recht«, sagte er und sah sie lange an. »Das denke ich tatsächlich.«
Sie streichelte über seine Haare. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das das letzte Mal getan hatte.
»Und ich denke, nein, ich weiß, dass du dich mit Susann in den Monaten vor ihrem Tod nicht mehr so gut verstanden hast«, fügte er hinzu.
»Das kann man so nicht sagen.«
»Kann man wohl. Sie hat damals herausgefunden, dass du ein Kind hast wegmachen lassen. Damit ist sie zu ihren Eltern gelaufen, und drei Tage später wussten es der Postbote, der Segelbootverleiher und die Kassiererin im Supermarkt. Mir hat Susann es selbst erzählt. Ich fand die Aktion ziemlich daneben von ihr. Die Sache ging sie nichts an. Und jetzt ziehst du dieselbe miese Nummer mit Finns Mutter ab. Schreibst einen anonymen Brief an die katholische Kirchengemeinde und quatschst aus, was dir eine Freundin mal im Vertrauen erzählt hat. Tu nicht so ahnungslos. Ehrlich, Mama, so was geht gar nicht.«
Sie schluckte.
»Glaubst du, dass Holger Simonsmeyer deine Cousine umgebracht hat?
«
Ben-Luca verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Ich weiß es nicht. Wirklich, ich bin mir nicht sicher.«
Nachtfalter tanzten vor den Scheinwerfern des Autos, einer von ihnen verirrte sich durch eins der heruntergelassenen Fenster ins Wageninnere.
»Gut, das akzeptiere ich«, sagte sie. »Und ich verlange nicht länger von dir, dass du dich in dieser Sache engagierst. Aber für mich besteht an Holgers Schuld kein Zweifel. Deshalb kann ich nicht die Hände in den Schoß legen.«
»Und wieso glaubst du so fest daran? Es gibt bisher nur Indizien, und dem Gericht waren die nicht gut genug.«
»Er hat geschwiegen, oder nicht? Also hat er etwas zu verbergen. Und was die Indizien betrifft, wenn ich vor der Küchentür stehe, es nach Hackfleisch und Tomatensoße riecht und ich das Wasser sprudeln höre, dann muss ich keinen Blick hineinwerfen, um zu wissen, dass du dir mal wieder Spaghetti bolognese machst.«
Mit einer blitzschnellen Bewegung erschlug die Hand, die eben noch seine Wange und Haare gestreichelt hatte, den Nachtfalter.
»Man muss konsequent seiner Bestimmung folgen«, erklärte sie. »Tut man das nicht, hat das Folgen. Dann entfernt man sich von seinen Überzeugungen, seinen Hoffnungen und berechtigten Erwartungen. Das ist ein schleichender, aber erbarmungsloser Prozess, der damit endet, dass man einer von diesen Abermillionen Menschen wird, die sich im Herbst ihres Lebens entweder wundern, weil sie fast nichts von dem erreicht haben, was sie sich erträumten, oder, was fast noch schlimmer ist, sich nicht mal mehr daran erinnern können. Ich weigere mich, so jemand zu werden. Mehr noch, es ist mir
körperlich unmöglich. Auch wenn das Härte bedeutet, gegen mich und andere. Ich würde ansonsten wahnsinnig.«
So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen, so intim, ihr Inneres nach außen kehrend.
»Ich musste schon viele schwere Entscheidungen in meinem Leben treffen. Die Maschinen, die meinen Vater am Leben gehalten haben, abschalten zu lassen, war grauenvoll. Meine Mutter ins Heim zu geben, war genauso schlimm. All meinen Schmuck zu verkaufen, selbst die sentimentalen Stücke, als es uns damals materiell schlecht ging, das war ungeheuer demütigend. Und nein, es ist mir nicht leichtgefallen, Bettinas Geheimnis öffentlich zu machen. Aber ich will verflucht sein, wenn ich diesen Mörder nicht dazu bringe, unsere Insel zu verlassen. Sonst liegt am Ende schon sehr bald wieder jemand tot im Wald. Willst du das?«
Noch immer war sie ihm auf gewisse Weise fremd, aber allein die Tatsache, dass sie ihm einen Einblick gewährte, brachte sie ihm näher. Sie erkannte ihn an, sie redete mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Zum ersten Mal forderte sie nichts von ihm, außer ein bisschen Verständnis.
Wie hätte er sie da noch verurteilen können?
Alex hatte sich schon länger nicht mehr im Grünen Hut
blicken lassen, und als er die Kneipe betrat, erinnerte er sich sofort wieder, warum. Abgewetzte Eichenmöbel, verschlissene Polster, Plastikfische an den Wänden … Kaum zu glauben, dass er sich dort früher wohlgefühlt hatte, wenn er mit Holger ein paar Bier zischte. Sie waren anspruchslos, und das Publikum war jünger gewesen. Oft war Musik gespielt worden, manchmal hatten sie halb betrunken mit Mädels getanzt, sie zu
Cola mit Rum eingeladen, Karten oder Darts gespielt – die Neunziger halt. Auch nach seiner Heirat und der Übernahme des Bestattungsunternehmens war er manchmal noch hergekommen. Aber dann hatte Holger das Restaurant eröffnet, inzwischen waren sie wählerischer geworden, freuten sich auf ein gutes Essen, auch mal einen Wein oder Drink, kurz: Sie wollten Ambiente. Wenn es das jemals im Grünen
Hut
gegeben hatte, dann war es vom Graubraun der Eichenholzpaneele langsam verschluckt worden. Die wenigen Männer und Frauen, die an der Theke oder im Lokal saßen, sahen sämtlich aus, als würden sie nur darauf warten, dass es Nacht wurde, dass der nächste Tag anbrach, es Mittag, Abend und wieder Nacht wurde. Anstatt dass sie sich zusammentaten und unterhielten, brütete jeder an einem anderen Abschnitt des hufeisenförmigen Tresens, hinter dem der Wirt vor lauter hängenden Gläsern und verstaubtem künstlichen Efeu fast verschwand.
»Hallo, Alex.«
»Hallo, Toni. Wo ist er?«
Der Wirt deutete auf das andere Ende des Tresens, wo Alex im beigefarbenen Licht einer Wandlampe seinen Schwager Udo erkannte.
»Ein paar von den anderen haben vorhin angeboten, ihn nach Hause zu fahren«, erklärte Toni. »Aber er wollte unbedingt noch bleiben.«
»Welche anderen?«
Toni ignorierte die Frage. »Ich habe dann bei ihm zu Hause angerufen, aber da geht keiner ran.«
»Wie viele hatte er?«
Der Wirt nickte zum Zapfhahn. »Da steht sein zwölftes. Plus ein paar von den Shots mit Rum, auf die er so abfährt.
«
»Sein zwölftes plus Rum?«, wiederholte Alex und hörte sich eine Spur zu vorwurfsvoll an.
»Soll ich dem armen Kerl etwa auch noch das Recht nehmen, sich zu betäuben? Warum habe ich dich wohl angerufen? Vielleicht kannst du ja was ausrichten und ihn heimfahren.«
»Ja, danke, Toni, das war richtig«, gab Alex zu.
»Übrigens, seinen Autoschlüssel habe ich einkassiert. Ein Bier aufs Haus?«
»Ein Alster, bitte.«
Langsam ging Alex zu seinem Schwager hinüber, der in sein leeres Glas blickte, als erwartete er, dass ein Wunder daraus emporstiege. Wenn man ihn so sah, war nur schwer vorstellbar, dass Udo einmal jung und der lustigste Geselle der Insel gewesen war, dass man ihn nie schlecht gelaunt oder grüblerisch erlebt hatte, dass er immer und überallhin ein Lachen und einen Spaß mitbrachte. Im Alter von zwanzig Jahren war er um die Welt gesegelt, ein echter Abenteurer, und bald darauf war er Vater geworden, stolz wie Bolle und kein bisschen betrübt, dass die Jugend damit für ihn auf gewisse Weise vorbei war. Danach wollte er nie etwas anderes, als für seine Familie und seinen Campingplatz da sein.
»Tag, Udo«, sagte Alex und legte ihm die Hand auf die Schulter. Beinahe hätte er »Wie geht’s?« gefragt, aber obwohl es nur eine Floskel war, fand er sie in Udos Fall nicht angemessen.
Er setzte sich neben ihn auf einen Barhocker. Sofort stieg ihm ein muffiger Geruch in die Nase, und der Anblick fettiger Haare und dunkler Ränder unter den Fingernägeln machte die Sache nicht besser.
»Eva lässt dich grüßen. Sie wollte mitkommen, aber Ben-
Luca ist verabredet, und Alena-Antonia ist zu jung, um allein zu bleiben. Wie wäre es, wir fahren zu mir, und du schläfst bei uns, wenn du heute nicht nach Hause willst.«
Udo schüttelte fast unmerklich den Kopf, und wie aufs Stichwort brachte Toni, der Wirt, das zwölfte Bier sowie ein Alster. Sie stießen miteinander an, und für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich ihre Blicke. Der Mann neben Alex, der Ehemann der Schwester seiner Frau, war nicht einfach nur betrunken. Da war nichts mehr, nicht die Spur von Leben in diesen steingrauen Augen. Udo war fast genauso alt wie er selbst, aber mit dem eingefallenen graustichigen Gesicht und dem ungepflegten Zehn-Tage-Bart sah er mindestens zehn, wenn nicht fünfzehn Jahre älter aus.
»Wie geht’s Tallulah?«, fragte Alex, um den Schwager aus seiner Lethargie zu holen. »Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«
»Tallulah«, kam Udo ein kränkliches Echo über die Lippen, bevor der Name verhallte und Stille hinterließ. »Sie war vorhin hier. Mit Eddi, Marlon und den Kickern. Sie wird unsere Gallo… Gallinofigur.«
Alex schob die wirren Bemerkungen auf den Alkohol. Langsam verstand er, was Ben-Luca meinte, wenn er vom großen schwarzen Vogel sprach, der die Familie Illing mit seinem Schatten bedeckte.
Leise atmete er durch. »Udo, sieh mal, ich weiß, dass du einen gewaltigen, einen entsetzlichen Verlust erlitten hast. Aber du hast Mareike und eine zweite Tochter, die dich beide brauchen, und zwar den Udo, der du früher warst. Natürlich kannst du nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, und es wird nie wieder so sein, wie es mal war. Trotzdem geht das
Leben für euch weiter. Susann würde nicht wollen, dass ihr euch aufgebt. Ich habe mir überlegt … ich meine, wir könnten zum Beispiel versuchen, eine Stiftung mit Susanns Namen ins Leben zu rufen. Wenn wir mit der Bürgermeisterin sprechen, dann beteiligt sich vielleicht auch die Gemeinde daran. Das wäre doch etwas. Etwas Sinnvolles, mit dem wir …«
»Was macht dein Sohn denn so?«, fragte Udo.
»Ben-Luca? Wieso? Was …?«, stammelte Alex, irritiert von dem Gedankensprung. »Oh, er … hat sein Abi sausen lassen, will eine Lehre machen, weiß aber noch nicht, welche. Eva versucht ihn zu drängen, bei uns einzusteigen, aber ich … ich finde es besser, wenn er Zeit zum Überlegen hat. Ich schätze, er ist noch auf der Suche nach seinen Stärken.«
»So, schätzt du?«, fragte Udo und starrte wieder in das Glas vor ihm.
»Ja, wieso?«
»Jemand hat deinen Sohn dabei beobachtet, wie er mit Finn Simonsmeyer auf dem Bolzplatz trainiert hat«, sagte Udo.
Alex lachte kurz auf. »Dabei beobachtet. So wie du das ausdrückst, könnte man meinen, er betreibe illegalen Waffenhandel.«
»Könnte man meinen«, wiederholte Udo ins Glas hinein. »Ich schätze. Ins Leben rufen. Wahnsinn, wie du dich artik… artiklieren kannst. Du warst immer der Schlaukopf der Familie, Alex. Nein, ehrlich, ich sage das ganz neutral und neidlos. Nichts gegen deine Frau. Eva ist unermüdlich. Und die Art, wie sie geht, nein, sie geht nicht, sie … sie schreitet wie eine Königin durch ihr Reich. Aber sie hat nicht deinen … wie heißt das? Inter… Intel… Na ja, du weißt schon, was ich meine, du bist doch der Schlauli. Meine Mareike und ich, wir sind einfache Leute, wir
können da nicht mithalten. Die Einzige, die es mit dir aufnehmen konnte, war Susann. Aber im Gegensatz zu dir, Alex, war meine Susann eine ehrliche Haut. Grundehrlich. Mit moralischen Prinzipien. Du nicht. Du bist ein Drecksack.«
»Udo«, seufzte Alex und wollte erst noch etwas hinzufügen. Doch er wusste sowohl aus seinem Berufsleben wie auch durch private Erfahrungen, dass es drei Typen von Menschen gab, mit denen jegliche Diskussion sinnlos war: Fanatiker, Paranoide und Betrunkene. Einmal mehr bestätigte sich das nun. Egal, was er entgegnete, es würde nirgendwohin führen.
»Willst du wissen, warum?«
»Im Grunde nicht.«
»Du hörst dir das jetzt trotzdem an. Du legst dich mit dem Simonsmeyer ins Bett. Nicht buchstäblich. Aber du triffst dich mit ihm, ihr geht schön essen, trinkt Wein, lasst es euch gutgehen. Der Onkel und der Mörder. So was nenne ich einen Drecksack. Einen Opportun… Opportuni… Ach, du weißt, was ich meine.«
Alex kniff die Lippen zusammen. Er wurde nicht gerne an den Abend erinnert, an dem er etwas erfahren hatte, das er lieber nicht erfahren hätte. Er war selbst schuld, er hatte insistiert und schließlich Erfolg gehabt. Und das hatte er nun davon: ein schlechtes Gewissen.
»Was soll ich denn machen? Er ist mein Freund«, erwiderte er.
»Und ich bin dein Schwager.«
»Bin ich hier, oder nicht? Ich kann für euch beide da sein.«
Udo klatschte mit der flachen Hand auf den Tresen. Abrupt stand er auf. »Nein, kannst du nicht. Du musst dich entscheiden. Die Familie oder der Mörder!
«
»Das Gericht hat Holger freigesprochen«, wiederholte er gebetsmühlenartig.
»Ich nicht«, schrie Udo. »Zählt das denn überhaupt nicht?« Er lief am Tresen auf und ab, wobei er nacheinander den Leuten in die Augen blickte, die überrascht waren von der unverhofften Lautstärke und Energie in diesem Tempel der Einsamkeit.
»Der Mörder hat lauter Rechte, das Recht zu schweigen, das Recht auf so viele Anwälte, wie er will, und wenn er mal Schnupfen hat, wird der Prozess unterbrochen. Er darf den Gutachter der Anklage durch den Kakao ziehen, weil der vor zwanzig Jahren mal seiner Bürohilfe den Hintern getätschelt hat, und natürlich hat er das Recht darauf, dass ihm der Mord zu einhundert Prozent nachgewiesen wird, nicht nur zu neunundneunzig Prozent. Nein hundert, hundertzehn, hundertzwanzig Prozent. Nur weil dieses eine Prozentchen fehlt, werden ihm alle Kosten erstattet, und selbst wenn der Mörder schuldig gesprochen wird, hat er das Recht, unzurechnungsfähig zu sein. Vielleicht war er ja besoffen, oder er leidet unter einer Störung. Verdammt! Tausend Rechte hat er, der Mörder. Und welches Recht hat Susann? Keins mehr. Sie ist tot, mausetot, und mausetote Menschen haben keine Rechte. Aber ich, ich bin ihr Anwalt, und ich sage, dass das so nicht enden darf. Das Verfahren geht weiter, es geht so lange weiter, bis der Kerl bestraft worden ist, der das getan hat. Und heute Abend, Alex, heute Abend haben wir endlich den ersten Schritt dahin gemacht. Und jeder, der nicht mit mir auf diesem Weg geht, der sich heraushält, ist ein feiger Lump«, rief er und sah sich nach allen Seiten um.
Die Angesprochenen, der Wirt und die Besucher der Kneipe,
die Udo alle seit vielen Jahren kannten, blickten beschämt zu Boden oder in ihre Gläser. Doch wie meistens, wenn Menschen zu Recht beschuldigt werden, suchten und fanden sie schnell jemanden, der in ihren Augen noch schuldiger war als sie selbst. Es dauerte nur Sekunden, bis sie ihre Blicke hoben und zu Alex gleiten ließen, zaghaft zunächst, dann selbstbewusst. Je mehr sie ihn anklagten, umso mehr entlasteten sie sich selbst.
Udo sah Alex unvermittelt an. »Und wer mich aufzuhalten versucht, der wird sein blaues Wunder erleben.«
Er torkelte nach draußen, wobei er die Taschen nach seinem Schlüssel absuchte, den Toni schon vor Stunden eingezogen hatte.
Alex ließ zwei Zwanziger auf dem Tisch liegen. »Ich fahre ihn nach Hause«, sagte er und versuchte, die kritischen, mitunter feindlichen Blicke zu ignorieren. »Gute Nacht.«
Ein Echo darauf erhielt er nicht.
Draußen lehnte Udo an seinem Auto, den Kopf in den Armen vergraben, die er auf dem Dach verschränkt hatte. Als Alex sich ihm näherte, knirschten seine Schritte auf dem Kies des Parkplatzes, und sein Schatten fiel ihm voraus, verursacht von der grellen Lampe am Eingang der Kneipe. Jenseits des Lichtkorridors herrschte stockdunkle Nacht, der Grüne
Hut
lag etwa zweihundert Meter außerhalb von Trenthin, umgeben von Wald und Wiesen. Nirgendwo ein Geräusch, nur Alex’ Atem und das leise Schluchzen seines Schwagers.
Eine Minute lang stand er einfach nur neben Udo, unschlüssig, was er sagen oder tun solle. Natürlich hätte er aus dem Repertoire eines Bestatters jede Menge tröstlicher Worte hervorholen können, und er war nahe dran. Aber im letzten Augenblick spürte er, dass er damit in diesem Fall nichts
ausrichten, im Gegenteil, alles nur noch schlimmer machen würde. Mit normalen Mitteln war seinem Schwager nicht auf die Beine zu helfen. Vielleicht könnte ein erfahrener Psychotherapeut es schaffen, doch davon wollte Udo nichts wissen. So war er schnell wieder am Ende seines Lateins und stand hilf- und ratlos da, als Zaungast der Abwärtsspirale.
»Komm, Udo, ich fahre dich nach Hause.«
Sein Schwager schluchzte etwas in seine Arme hinein. »Ist das alles, was dir einfällt? Mich ins Bett zu bringen?«
»Ich sage dir ganz offen, ich weiß nicht, wie ich dir sonst helfen soll. Denkst du, mir geht es gut damit? Ich kann versuchen, mir vorzustellen, wie du dich fühlst, aber ich glaube nicht, dass mir das über einen bestimmten Punkt hinaus gelingt.«
Ruckartig hob Udo den Kopf. »Genau soo ist es! Das kannst du nicht, da hast du endlich mal etwas Wahres gesagt. Du hast nicht die leiseste Ahnung, wie es mir geht. Dafür müsstest du nämlich ein Kind verlieren, und zwar nicht durch Unfall oder Krebs, nein, es müsste im Wald ermordet werden. Alena-Antonia oder Ben-Luca, aufgeschlitzt und abgeschlachtet.«
»Es ist nicht sehr nett, so etwas zu sagen.«
»Nicht nett? Weißt du was, es ist gemein, so etwas zu sagen. Richtig gemein sogar. Aber denk mal, Alex, mir hat das keiner einfach nur an den Kopf geworfen, mir hat man das angetan. Du willst wissen, wie das ist? Ich kann’s ja mal versuchen. Ich bin kein Wortkünstler, so wie du, aber ich tue mein Bestes.«
Alex ließ es zu, dass Udo seine Schultern ergriff und umklammerte. Große, glasige, verzweifelte Augen starrten ihn an.
»Das ist, als würde man tausend Nadeln in dich reinjagen. Jede Erinnerung ist vom Traum zum Albtraum geworden. Wie
du das kleine Würmchen zum ersten Mal in den Armen gehalten hast, wie es einem Tennisball hinterhertorkelte, wie es bei einem Ratschlag mild gelächelt und ›Ach, Papa!‹ geflüstert hat. Und dann die Stunden, in denen du glücklich warst, wenn dein Kind glücklich war, und die anderen Stunden, wenn es unglücklich war und du alles dafür getan hättest, es wieder froh zu sehen. Du hast dir ein neues Auto verkniffen, damit dein Kind die Spielsachen und Kleidung bekommt, die es sich wünscht. Aber das alles waren keine Opfer, du hast es gerne getan, weil du dir die bestmögliche Zukunft für dein Kind erhofft hast. Für das Kind, das eines Tages im Wald abgeschlachtet wird. Von einer Sekunde zur anderen ist die Zukunft erloschen. Das ist, als würde jemand dir das Herz rausreißen, Alex. Es tut so weh, so unbeschreiblich weh, und du kannst den Schmerz nicht abschalten, egal welche Pille du einwirfst oder wie viele Bier oder Rum du trinkst. Er ist da, Alex, immer, von früh bis spät und selbst im Schlaf, er pocht und pocht, und du hörst dein Kind um Hilfe schreien, während du selbst wie gelähmt bist.«
Als würde er tatsächlich von einer Lähmung erfasst, brach Udo zu Alex’ Füßen zusammen, kauerte kniend auf dem Kies, die Augen und Wangen rot von Tränen. Alex unternahm einen halbherzigen Versuch, ihn aufzurichten, gab ihn aber rasch auf und wischte sich erst einmal die Spucketröpfchen aus dem Gesicht, die ihn während Udos Klage getroffen hatten.
Plötzlich sah Udo ihn von unten an, und seine Augen funkelten nicht mehr vor Trauer, sondern vor Zorn. »Und dann erzählt dir jemand, dass dein eigener Schwager mit dem Mann einen hebt, der für den ganzen Schmerz verantwortlich ist, der deinem Kind die Zukunft gestohlen hat, der dir die Zukunft
gestohlen hat. Du stehst nicht einfach nur daneben, während ich vor die Hunde gehe, Alex, du gibst mir auch noch einen Tritt.«
Was in diesem Moment in Alex vorging, beschämte ihn selbst. Er erkannte, wie unfair die Anschuldigung war. Doch Sympathie und Antipathie hatten bekanntlich nur selten mit Fairness zu tun. Man mochte oder mied Menschen nicht aus Gerechtigkeitsliebe. Und so konnte Alex – auch wenn er Mitleid für seinen Schwager empfand – nichts dafür, dass er sich maßlos über ihn ärgerte, wahrscheinlich mehr, als er es verdiente. Aber was Udo da von ihm verlangte … Er kannte Holger seit fünfunddreißig Jahren, schon in seinen ersten Kindheitserinnerungen kam er vor, und es gab praktisch keine Epoche seines Lebens, in welcher der Freund keine wichtige Rolle gespielt hatte. Wenn Udo von ihm verlangt hätte, sich von seinem Vater oder von seinem Sohn loszusagen, wäre das ungefähr auf das Gleiche hinausgelaufen. Und das, was Holger ihm vor einigen Tagen gestanden hatte, änderte daran viel weniger, als es vielleicht hätte ändern müssen.
Und Udo andererseits? Er hatte an seinem Schwager stets die Fröhlichkeit geschätzt und die Genügsamkeit, die von ihm ausgegangen war. Gestritten hatten sie nie. Das war es dann aber auch schon. Sie hatten sich zu den Feier- und Geburtstagen gegenseitig eingeladen und vielleicht noch einmal im Jahr zu einem Grillabend getroffen. Ansonsten hatten Alex und Udo nicht viel miteinander zu tun gehabt, zu verschieden waren ihre Interessen und Charaktere. Eva war technisch sehr interessiert, sie begeisterte sich für alle Neuerungen der Medienkommunikation, und Alex schätzte Wein und gutes Essen, kochte leidenschaftlich gerne. Drei-, viermal im Jahr fuhren
sie zu Konzerten und Festivals. In Udos und Mareikes Leben hatte sich alles um die Kinder und den Campingplatz gedreht. Dagegen war auch gar nichts zu sagen. Bloß – um sich nahezukommen, hatte es nun einmal nicht gereicht. Und was das Verhältnis der beiden Schwestern anging, so war Eva schon immer die Bestimmende und Mareike die Stille, Nachgiebige gewesen, ohne dass es eine besondere Herzlichkeit oder Tiefe gegeben hätte.
»Wir reden darüber, wenn du wieder nüchtern bist«, sagte er und unternahm einen zweiten, diesmal erfolgreichen Versuch, Udo auf die Beine zu helfen. Mühsam schleppte Alex ihn zu seinem eigenen Auto, entsperrte es und öffnete die Beifahrertür, um seinen Schwager hineinzusetzen.
In diesem Augenblick riss Udo ihm den Schlüssel aus der Hand und stieß die Beifahrertür auf, sodass Alex zu Boden fiel. Er benötigte einige Sekunden, um zu verstehen, was geschehen war, da bog Udo bereits vom Parkplatz auf die Landstraße ein. Alex versuchte noch, ihn einzuholen, doch es war zu spät. Schlingernd und ohne Licht, wurde das Fahrzeug von der Dunkelheit verschluckt.
Alex rannte zurück in den Grünen
Hut
.
»Toni, gib mir schnell Udos Schlüssel!«
»Wieso? Was ist los?«
»Er ist mit meinem Auto auf und davon, und das in seinem Zustand.«
»Hättest du mal besser aufgepasst.«
»Wollen wir das gemütlich bei einem Bierchen ausdiskutieren, oder gibst du mir jetzt endlich den verdammten Schlüssel?«
Als er hatte, was er wollte, fuhr Alex in Richtung Trenthin,
so schnell er konnte. Nur zwei Kurven später hielt er wieder an. Sein Auto lag mit eingedrücktem Motorraum zwischen zwei Bäumen im Straßengraben, und Udos regloser, blutüberströmter Körper hing reglos hinterm Steuer.
Einige Monate später, September
Ich ließ mir gerade das Müsli vom Büfett schmecken – eine pommersche Mischung mit extra vielen Gerstenflocken –, da stand er plötzlich vor mir, der Bauch. Das war tatsächlich das Erste, was ich sah: ein riesiger Bauch, direkt vor meinem Gesicht. Und dann eine große, fleischige Hand, die sich mir entgegenstreckte.
»Frau Kagel? Eddi Fassmacher. Guten Morgen.«
Das war er also, der neue Eigentümer des Hotels, der neue Pächter des Campingplatzes, der Besitzer zahlreicher Ferienwohnungen und einiger weiterer Unternehmen, der König des Lieper Winkels.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Natürlich, bitte sehr.«
Mein allererster Eindruck war, dass es sich bei Eddi Fassmacher um einen gemütlichen, humorigen Mann handelte, der gerne aß und trank, vor allem Rotwein, wenn ich seine von etlichen Äderchen durchzogenen Wangen richtig deutete. Sein Oberkörper erinnerte mich an eine riesige Quitte, was sicherlich auch mit der grünlich gelben Farbe seines Hemdes zu tun hatte.
»Schmeckt Ihnen das Müsli?
«
»Es ist köstlich.«
»Alles aus regionalem Anbau. Darauf legen wir großen Wert.«
»Großartig«, lobte ich, was ihm zu gefallen schien.
Er bekam eine Tasse Kaffee gebracht, an der er kennerisch roch, bevor er einen Schluck davon trank.
»Den Kaffee«, sagte er lachend, »müssen wir allerdings aus Kenia importieren. Noch.«
Ich musste zugeben, dass ich ihn mir anders vorgestellt hatte, irgendwie drahtiger, eifrig, ernst und hölzern. Mit einem Falstaff hatte ich nicht gerechnet. Umgehend zog ich in Betracht, ihm gedanklich Unrecht getan zu haben, als ich ihn in die Kategorie Kriegsgewinnler eingeordnet hatte. Vielleicht hatte er Mareike Illing nur einen Gefallen tun wollen, als er den Pachtvertrag für den Campingplatz übernahm. Und warum dieses schöne Hotel, in dem wir beide saßen, leer stehen und verkommen lassen? Da war es doch besser, dass ein Investor aus der Region die Leitung übernahm und den Markenkern weiterführte.
»Was haben Sie eigentlich, wenn ich fragen darf, mit dem niedergebrannten Cottage vor, sobald die Behörden es freigeben?«
»Darüber habe ich schon nachgedacht«, antwortete er und blickte zur Decke, wo offensichtlich die Zukunft waberte. »Dort entsteht ein wilder Garten mit Nischen und Rückzugsorten, mit Liegen und Strandkörben, Möglichkeiten zum Grillen und Picknicken.« Er fand schnell auf die Erde zurück. »Nichts soll mehr an die jetzige Traurigkeit erinnern.«
»Traurig, in der Tat«, sagte ich. »Sie haben die Opfer der Brandkatastrophe gekannt?
«
»Alle vier. Mir jagt es einen Schauer über den Rücken, wenn ich an die armen, unschuldigen Kinder denke. Derjenige, der das getan hat, ist nicht weniger ein Verbrecher, als Holger es war. Ich hoffe, Herr Linz schnappt ihn und erschießt ihn beim Fluchtversuch.«
»Mit Schnappen gehe ich konform. Erschießen … das ist schon sehr drastisch, und natürlich wird das nicht passieren.«
»Stimmt wohl. Schade. Unsere Gesetze, Frau Kagel, sind zu lasch. Sie als Gerichtsreporterin erleben es doch andauernd, dass Schufte nach ein paar Jahren wieder rauskommen, oder?«
»Schon richtig.«
»Wenn sie überhaupt überführt werden. Das ist eine Riesensauerei. Die Hinterbliebenen leiden ein Leben lang, und die Täter sitzen, wenn man Glück hat, ein paar Jährchen bei Fernsehen und guter Verpflegung ab, knüpfen nebenbei im Knast noch ein paar Kontakte, und wenn sie rauskommen, feiern sie eine Party im Puff. Hat man Pech, feiern sie gleich nach der Urteilsverkündung. Ich bin kein leicht erregbarer Mensch, Frau Kagel, aber so was macht mich wütend.«
Auch wenn ich Fassmachers Ansichten im einen oder anderen Punkt nicht teilte, konnte ich doch nachvollziehen, wie er zu seiner Meinung gekommen war. Auch ich konnte nicht immer still sitzen, wenn ich Gerichtsverfahren verfolgte, auch mein Herz schlug bis zum Hals, wenn Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern oder Menschen ihre Freunde durch sinnlose Gewalt verloren haben und ohnmächtig miterleben müssen, wie Angeklagte sich der Verantwortung entziehen und auf Verjährung oder Unzurechnungsfähigkeit setzen.
Auf der anderen Seite, wenn ich mir die Alternative ausmalte, bekam ich einen Schreck. Eine Justiz, die sich nicht
mehr an den Grundsatz hielte, dass man im Zweifel für den Angeklagten urteilt, wäre reine Willkür. Selbstverständlich muss der Angeklagte alle Möglichkeiten einer Verteidigung bekommen, muss die Schuld mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Und natürlich wäre auch niemandem damit geholfen, würden die Täter im Gefängnis nicht resozialisiert, sondern in Kretins verwandelt. Ein Dilemma, das wir alle aushalten, mit dem wir leben lernen müssen.
»Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel«, sagte Fassmacher. »Habe ich erst neulich in der Zeitung gelesen. Den Fahrer eines Möbeltransporters hat irgendwann der Hafer gestochen, und aus einer Laune heraus rast er plötzlich los und jagt viel zu schnell um eine Kurve. Der Laster kippt um und fällt auf einen mit fünf Personen besetzten Pkw. Alle fünf Insassen sind auf der Stelle tot, darunter drei kleine Kinder. Wissen Sie, welche Strafe der Fahrer bekommen hat?«
Ich wusste es. Mit den Details war ich zwar nicht vertraut, aber ein Kollege hatte darüber einen Beitrag in einer großen Tageszeitung verfasst. Dennoch war der Fall in der Öffentlichkeit untergegangen.
»Zehn Monate«, sagte ich. »Auf Bewährung.«
»Zehn Monate auf Bewährung«, wiederholte er. »Weil es keinen Vorsatz gab. Mir fallen dafür nur Worte ein, die ich in Gegenwart einer Dame nicht in den Mund nehme, schon gar nicht, wenn sie frühstückt.«
Mir waren Debatten wie diese nur allzu vertraut. Oft hatte ich mit Freunden, mit meinem Sohn und früher auch mit Yim über den einen oder anderen umstrittenen Fall diskutiert. War ich einst eine feurige Verfechterin einer besonnenen,
abwägenden Justiz gewesen, gingen mir in den letzten Jahren mehr und mehr Argumente verloren. Oder die Argumente verwandelten sich in hohle Floskeln. Wie sollte ich rechtfertigen, dass zwei Männer von zwanzig Jahren, die ein nächtliches Autorennen durch die Innenstadt veranstalteten und dabei eine Frau erfassten und töteten, mit gerade einmal zweieinhalb Jahren Gefängnis bestraft wurden? Ich kam mir selbst schäbig vor, wenn ich der Öffentlichkeit erklärte, dass die Täter unter das Jugendstrafrecht fielen, dass sie alkoholisiert und nicht mehr Herr ihrer Sinne waren, dass sie Reue zeigten, nicht vorbestraft waren und das Urteil deswegen im Großen und Ganzen in Ordnung ging. Wurde das der jungen Mutter von zwei Kindern gerecht?
Auch da galt wieder: Wie sähe die Alternative aus? Angenommen, die Täter bekämen zehn Jahre. Dann wäre schnell jemand zur Hand, dem das noch immer zu milde war. Lebenslänglich, also fünfzehn Jahre? Wurde das dem Tod der jungen Mutter gerechter? Spätestens mit fünfunddreißig waren die Raser wieder in Freiheit, und die junge Mutter war noch immer tot. Es würde nicht lange dauern, und jemand käme auf die Idee, Auge um Auge zu fordern: Todesstrafe für Mörder und Totschläger.
»Ein weites Feld«, sagte ich, und Fassmacher gab sich mit der Plattitüde zufrieden.
»Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht den Appetit verderben.«
»Haben Sie nicht, Herr Fassmacher. Ich kann Ihren Standpunkt durchaus verstehen, wenngleich … Belassen wir es dabei, ja?«
»So machen wir’s«, sagte er, lächelte breit und trank den
Kaffee aus. »Ich habe gehört, Sie stellen ein paar Fragen hier und dort wegen … na ja, Sie wissen schon.«
»Wegen der Morde«, sagte ich.
»Wegen der Morde«, echote er.
»Ganz normal für eine Journalistin«, sagte ich.
»Ganz normal für eine Journalistin«, echote er erneut. »Ich möchte nur, dass Sie auf sich aufpassen.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ich dachte, das liegt auf der Hand.«
»Auf meiner nicht.«
»Ja, also … Sie müssen bedenken, dass da draußen noch immer derjenige herumläuft, der den Brandsatz in das Cottage geschleudert hat. Der Schuft könnte sich genötigt sehen, Ihnen auf die Pelle zu rücken. Und dann sind da ja auch noch die wohlmeinenden Bürger, die nichts anderes getan haben, als sich und ihre Nachbarn vor einem Mörder zu schützen, und die nun in ein schlechtes Licht gerückt werden.«
»Was, wenn einer der wohlmeinenden Bürger den Brandsatz geworfen hat?«
»Oh, das wage ich zu bezweifeln, Frau Kagel. Trotzdem, diese wohlmeinenden Bürger werden ihren guten Ruf mit Zähnen und Krallen verteidigen, davon gehe ich aus. Deswegen schauen Sie lieber einmal mehr als einmal weniger über die Schulter, bitte tun Sie mir den Gefallen.«
Er stand auf. »Möchten Sie noch einen Kaffee?« Er winkte eine Kellnerin heran. »Sie müssen unbedingt ein Glas von unserem naturtrüben Apfelsaft probieren. Er stammt von Streuobstwiesen im Achterland, sehr lecker. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.
«
Zunächst fuhr ich nach Rostock, um die Haiku bei der Staatsanwaltschaft abzuliefern, dann spontan nach Berlin. Neben der schlichten Tatsache, dass ich Kleider zum Wechseln und den Kulturbeutel brauchte, um noch ein paar Tage auf Usedom zu bleiben, dämmerte mir, dass Tallulah Illing möglicherweise eine zentrale Figur war, um Licht ins Dunkel um den Mord an Susann zu bringen. Noch am selben Abend wollte ich sie in der Shisha-Bar besuchen, in der sie arbeitete. Während des Prozesses gegen Holger Simonsmeyer war sie nicht in Erscheinung getreten, da sie weder der Anklage noch der Verteidigung nützlich erschien, und nicht ein einziges Mal war sie als Zuschauerin gekommen. Aber sie war irgendwie in den Besitz der Haiku gelangt, und die Haiku waren das Einzige, was mich im Moment voranbringen konnte.
»Voranbringen«, murmelte ich sarkastisch vor mich hin. Voranbringen wobei? Dabei, mein Gewissen zu beruhigen? Meine Ruhelosigkeit zu überdecken?
Während der Fahrt nach Hause dachte ich jedoch über andere Dinge nach. Fassmachers »Sorge« um mein Wohlergehen durfte ich getrost als Warnung verstehen. Dieser gemütliche, leutselige Mann hatte mir lächelnd zu verstehen gegeben, dass die Dorfbewohner sich durch meine und Linz’ Nachforschungen – um es mal vorsichtig auszudrücken – belästigt fühlten. Das passierte mir natürlich nicht zum ersten Mal. Als Gerichtsreporterin bleibt es nicht aus, dass man mit Kriminellen und ihren jeweiligen Milieus zusammentrifft. Mal sind es religiöse Hintergründe, die zur Solidarisierung führen, mal familiäre und mal – wie in diesem Fall – moralische.
Am Anfang meiner Tätigkeit hatte ich mich strikt geweigert, solchen Menschen, die sich zusammenrotteten und ihre
eigenen Gesetze machten, einen moralischen Beweggrund zuzubilligen. Die Worte Moral und Miliz schienen mir nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun zu haben. Ich musste dann immer voller Abscheu an die Bilder aus Rostock-Lichtenhagen denken, wo in den neunziger Jahren eine Horde Wutbürger ein Asylbewerberheim mit Brandsätzen angegriffen hatte, beklatscht von Sympathisanten.
Im Laufe der Jahre differenzierte ich mehr und mehr, und ich muss zugeben, es fiel mir anfangs äußerst schwer. Aber wie sollte ich jemandem absprechen, in dessen Straße vierzehnmal innerhalb von zwei Jahren eingebrochen wurde, sich mit anderen Geschädigten zusammenzutun, um Streife zu laufen und dem Einbrecher notfalls mit der Gartenschaufel eins überzuziehen? Wie sollte ich Eltern verweigern, deren Töchter unentwegt von jungen Männern begrapscht wurden, eine Art Selbstverteidigungsklub zu gründen? Und was könnte ich einem idyllischen, friedlichen Dorf entgegenhalten, das innerhalb eines Jahres zwei grauenhafte Morde auszuhalten hatte, wenn es beschließt, einen dritten auf eigene Faust zu verhindern?
In allen drei Fällen war die Polizei überfordert gewesen, denn selbst der engagierteste und fähigste Polizist kann nicht an drei Orten gleichzeitig sein. Wenn der Staat das Gewaltmonopol beanspruchte, so die Argumentation der Milizionäre, dann musste er es auch allumfassend und konsequent ausüben.
Ja, ich gestand der Usedomer Bürgerwehr zu, dass sie aus moralischen Motiven entstanden war, mehr noch, dass sie fast schon so etwas wie ein moralisches Recht gehabt hatte, sich zu gründen, um die Dorfgemeinschaft zu schützen. Das hieß jedoch nicht zwangsläufig, dass sie auch stets moralisch gehandelt
hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die besten Absichten zu den wirrsten und grausamsten Taten führen. Noch gab es keinen Hinweis darauf, dass ein Mitglied der Bürgerwehr den Brandsatz in das Haus der Simonsmeyers geworfen hatte. Aber völlig von der Hand zu weisen war der Verdacht nun auch wieder nicht, und es war nur logisch, wenn Linz in diese Richtung ermittelte.
Zu Hause hatte ich alles im Nu erledigt. Für Notfälle stand eine fertig gepackte Tasche mit Klamotten der Saison bereit. Darin befanden sich stets auch etwas Bargeld, ein ungelesenes Buch und die wichtigsten Utensilien, die ich zum Online-Banking und für andere Aktivitäten im Internet benötigte.
Yim war nicht da. Bevor ich mit einem Restaurantbesitzer liiert war, hatte ich nicht geahnt, wie viel Arbeit dahintersteckt. Die Öffnungszeiten des Lokals sind noch das Geringste. Einkaufen, Marketing, Buchhaltung, Personalsuche – mein Mann war praktisch immer auf Achse.
»Bin zu Hause«, schrieb ich ihm eine Kurznachricht.
»Bin in der Markthalle«, schrieb er zurück. »Suche verzweifelt frische Doraden. Alles klar bei dir?«
»So weit schon. Werde ein paar Tage auf Usedom verbringen zwecks Recherche.«
»Viel Glück.«
Ich dachte bitter: So also sieht die Konversation im siebten Ehejahr aus, wenn beide Partner in ihren jeweiligen Berufen aufgehen.
Auf dem Tisch lagen ein Stapel neuer DVD
s, daneben zwei ungenutzte Kinokarten für den gestrigen Abend, darunter zwei weitere Karten für den morgigen. Yim war Cineast, seine große Leidenschaft waren Filme, und verständlicherweise wollte
er mich an seinem Leben teilhaben lassen. Schmerzlich wurde mir wieder einmal bewusst, dass wir nicht in derselben Welt lebten.
Die Shisha-Bar, in der Tallulah arbeitete, öffnete erst um neunzehn Uhr, daher arbeitete ich zunächst an den anderen Projekten, die ich weder vernachlässigen wollte noch durfte. Im Anschluss nahm ich mir noch einmal die Prozessunterlagen des Falls Simonsmeyer vor, vor allem die Zeugenliste. Dabei sprang mir ein Name ins Gesicht: Ramu Sayyapparaju. Der ältere Sohn des indischen Restaurantbesitzers studierte Jura in Berlin. Im Prozess hatte er insofern eine Rolle gespielt, als sich seine Telefonnummer im Handyspeicher von Susann und sein Name für den Vormittag in ihrem Kalender befunden hatten. Die Anklage hatte ihn aufgerufen, weil er und Susann an jenem Morgen die Steuerunterlagen des Restaurants durchgegangen waren und sie irgendwie abwesend auf ihn gewirkt hatte, nicht ganz bei der Sache. Sie schien ihm ein Problem zu wälzen. Daraus leitete die Anklage ab, dass das Treffen mit Holger Simonsmeyer auf dem Wanderparkplatz keineswegs zufällig erfolgt, sondern dass er der Grund für Susanns Verstörung gewesen war.
Meine Erinnerung an den jungen Inder war lückenhaft. Er war Ende zwanzig, schlaksig, befand sich damals auf der Zielgeraden zum Examen. Vermutlich hatte er sein Studium inzwischen beendet, denn daran, dass er den Abschluss geschafft hatte, zweifelte ich keinen Augenblick. Ramu S. hatte im Zeugenstand souverän, ausgeglichen, höflich und hochkonzentriert auf mich gewirkt. Zumindest hatte ich mir das so aufgeschrieben, denn detailliert erinnern konnte ich mich an seinen Auftritt nicht. Nur dass sein Vater im Publikum gesessen hatte, war mir noch eine Notiz wert gewesen
.
Für mich war er interessant, weil er mit Susann noch wenige Stunden vor ihrem Tod gearbeitet hatte und weil er jemand war, der sie nicht in einem familiären oder freundschaftlichen Kontext kannte. Vielleicht konnte der angehende Jurist, der sicher analytisch dachte, mir sogar mit den Haiku helfen. Im Grunde war Ramu S. nur ein Strohhalm für meine Recherchen, doch hatte ich schon häufiger erlebt, wie wichtig Strohhalme manchmal werden. Außerdem wohnte er in Berlin, und ich beschloss, mit ihm die Zeit bis zur Öffnung der Shisha-Bar zu überbrücken.
Jemanden mit Namen Ramu Sayyapparaju aufzuspüren, sollte deutlich einfacher sein als den richtigen Thomas Mayer, und mit meinen Kontakten sowieso. Trotzdem fand ich ihn nur bei Facebook, um ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Bis neunzehn Uhr zehn erhielt ich keine Antwort.
Das Palmyra
hätte kaum einen besseren Standort haben können als die Goltzstraße, eine der beliebten nächtlichen Ausgehmeilen in Berlin. Zwischen einer blau ausgeleuchteten Bar zur Linken und einer in Grün getauchten zur Rechten fiel es durch tiefe, tiefe Schwärze auf. Es setzte bei der Laufkundschaft eine gewisse Courage voraus, das Lokal zu betreten. Immerhin gab es keinen Türsteher, und nachdem ich erst einmal eingetreten war, erhellte sich die Welt, sie wurde sogar bunt. Ehe ich Piep sagen konnte, ploppte hinter dem schwarzen Vorhang der Orient vor mir auf, in all seinen Klischees. Nur Scheherazade fehlte noch.
Die meisten Plätze auf den Sesseln, Stühlen und Ottomanen waren noch frei, die übrigen überwiegend von Männern besetzt. Dennoch, auch ein paar Frauen besuchten die Bar und
pafften an Wasserpfeifen, was mir das gute Gefühl gab, nicht völlig fehl am Platz zu sein.
Da ich mich vorbereitet hatte, wusste ich, wie Tallulah aussah, aber ich hätte sie auch so erkannt. Schwer zu erklären, warum. Sie wirkte ein wenig lustlos auf mich, passiv und unerfahren. Sowohl ihr Nasenpiercing als auch die schwarz gefärbten Haare mit den blonden Strähnen an der Stirn waren billig und dilettantisch gemacht. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir Tallulah exakt so vorgestellt.
Ich hatte Glück, und Tallulah, nicht einer der männlichen Kellner, kam an meinen Tisch, der sich auf Höhe meiner Fußknöchel befand und mit allerlei Messing dekoriert war.
Ich gab mich sofort zu erkennen. »Wir haben gestern telefoniert. Doro Kagel.« Dann fügte ich eine Lüge hinzu: »Ich soll Sie von Ihrer Mutter lieb grüßen.«
Tallulahs Reaktion war deutlich freundlicher als am Tag zuvor am Telefon. »Oh. Geht es ihr gut?«
»Es hat einen schlimmen Brand in Trenthin gegeben, wussten Sie das?«
»Nö.«
»Das Cottage der Simonsmeyers.«
»Ich schaue es mir auf YouTube an.«
»Es scheint Sie nicht besonders mitzunehmen. Wie dem auch sei, unter diesen Umständen hält Ihre Mutter sich tapfer«, seufzte ich und wusste nicht, ob es die Wahrheit oder gelogen war. Möglicherweise beides. »Sie macht sich natürlich Sorgen.«
»Wegen Farhad? Muss sie nicht. Er ist ein lieber Kerl.«
Tallulahs Blick ging zum Tresen, wo ein ungefähr einen Meter neunzig großer und einhundertneunzig Pfund schwerer,
bärtiger tätowierter Mann stand, bei dessen Betrachtung mir nicht als Erstes das Adjektiv »lieb« einfiel. Wie auch immer, ich bezweifelte, dass Mareike Illing überhaupt wusste, wer Farhad war.
»Sind Sie mit ihm zusammen?«, fragte ich. »Wo haben Sie ihn kennengelernt?«
»Im Internet. Er hat jemanden gesucht.«
Sie ließ offen, ob er jemanden für die Bar, das Leben oder das Bett gesucht hatte, doch das ging mich auch gar nichts an. Zweitens konnte Tallulah durchaus recht haben, und Farhad war ein lieber Kerl. Drittens hätte ich mir mit jedweder Einmischung die Chancen auf ein gutes Gespräch verbaut.
»Hätten Sie ein paar Minuten für mich Zeit?«, fragte ich.
»Ja, wenn Sie was trinken.«
»Keinen Alkohol, ich muss noch fahren.«
»Der marokkanische Minztee ist sehr lecker. Was rauchen Sie?«
Ich zuckte zusammen. »Muss ich?«
»Ist besser. Dann können wir reden, während ich die Shisha aufbaue.«
Was tut man nicht alles, um mit Informanten ein Vertrauensverhältnis zu entwickeln.
»Banane, Kokos, grüner Apfel«, zählte sie die Geschmacksrichtungen auf. »Frozen Papaya, Wassermelone, Schoko …«
»Vielleicht etwas, das es nicht auch an der Eistheke gibt«, bat ich.
Sie dachte nach. »Virginia Honey. Honig und Tabakgeschmack.«
Darauf einigten wir uns, und eine Minute später kam Tallulah mit allerlei Gerätschaften herbei, von denen ich nicht
die geringste Ahnung hatte, wie sie zusammenwirken würden. Das war mir aber auch egal, denn wie versprochen begann Tallulah zu reden.
»Hab nachgedacht«, sagte sie. »Muss einen Schlussstrich unter den ganzen Kram ziehen. Usedom, Susann, die Toten und so, das ist alles Müll, das zieht mich bloß runter. Ich will ein neues Leben anfangen. Einmal, ein einziges Mal noch über alles quatschen und dann nie wieder. Bye, bye, Kindheit. Sagt auch Farhad.«
Farhads Ratschlag war vermutlich nicht ganz uneigennützig, spielte mir aber in die Hände.
»Wie wär’s, wenn Sie einfach draufloserzählen«, schlug ich vor. Damit setzte ich sie nicht gleich mit konkreten Fragen unter Druck, gab ihr die Gelegenheit abzuladen, was sie abladen wollte, und konnte mir einen Eindruck von ihr verschaffen.
Tallulah setzte sich neben mich und sah mir gewiss eine halbe Minute lang in die Augen, so als würde sie überlegen, ob das, was ihr auf der Zunge lag, bei mir gut aufgehoben wäre. Wir kannten uns nicht, ich war Journalistin und konnte ihr keine Absolution erteilen – die Voraussetzungen für ein intimes Gespräch oder ein Bekenntnis, waren denkbar schlecht. Doch aus irgendeinem Grund fiel ihre Bewertung meiner Person positiv aus, vielleicht weil es ihr egal war, wem sie die Geschichte erzählte, Hauptsache jemandem, den sie nicht kannte und der trotzdem etwas damit anfangen konnte.
Sie richtete den Blick auf die Einzelteile auf dem Tisch, die gleich zu einer Wasserpfeife werden würden, und hantierte nicht besonders geschickt damit.
»Eigentlich fing es schon bei meiner Geburt an. Über
Susanns Namen haben meinen Eltern sich tagelang den Kopf zerbrochen. Und bei mir? Tallulah! Meine Mutter fand den Namen lustig, und peng: beschlossen. In der Grundschule haben sie mich Tri-Tra-Trullala gerufen, und viel besser wurde es später auch nicht. Mal ehrlich, sein Kind Tallulah zu nennen …«
Irgendwas fiel ihr aus der Hand, sie hob es auf und erzählte weiter, ohne mich anzusehen.
»Susann war ein Ass in der Schule und trotzdem bei allen beliebt, außer vielleicht bei einigen Jungs, die sie hat abblitzen lassen. Schon mit neun hat sie in einer Laiengruppe Theater gespielt, für die sie später ein Stück geschrieben und Regie geführt hat. Reiten, Querflöte, Dauerlauf, Mathe, ihr fiel alles leicht. Und hatte sie mal einen Rückschlag, päppelte sie sich selbst wieder auf. Wissen Sie, was für Susann Entspannung bedeutete? Gemütlich im Garten oder auf dem Bett einen Roman von … na, zum Beispiel James Joplin zu lesen oder wie der Freak heißt, der Ulysses
geschrieben hat. Oder eine Biografie über Marie Curie. Oder ein politisches Magazin. Für mich die reinsten Folterinstrumente. Ich hab mich in der Schule echt reingehängt und trotzdem nix kapiert. Ach ja, und dann natürlich unsere Figur. Meine Ärztin hat mir mal gesagt, dass ich, selbst wenn ich bis auf die Knochen abmagere, niemals in eine Jeans unter Größe zweiunddreißig passen werde. Mein Becken ist halt so breit, das lässt sich nicht ändern. Susanns Taille lag mehrere Nummern unter meiner, außerdem hatte sie ein hübscheres Gesicht, eine glattere Haut … Als ich vierzehn war, hörte ich, wie meine dämliche Tante Eva zu meiner Mutter sagte: ›Susann und Tallulah, das ist so, als würde Supergirl gegen eine von Aschenputtels Stiefschwestern antreten.‹ Oder so ähnlich. Am Tag darauf schwänzte ich die Schule und sc
hlich mich in ein Tattoo-Studio in Greifswald. Meine Eltern hätten mir fast den Kopf abgerissen.«
Unweigerlich betrachtete ich den Skorpion auf Tallulahs Hals und den Tiger auf ihrem Oberarm.
»Ach das, nein, nein. Der Skorpion ist erst ein paar Wochen alt, und den Tiger hat mir Farhads Bruder vorgestern gestochen. Der Stacheldraht von damals ist auf dem Rücken.«
Sie legte drei Stücke Kohle, die wie schwarzer Würfelzucker aussahen, auf eine kleine elektrische Heizplatte, die wohl die Basis der Shisha bildete. Reglos sah sie zu, wie das Brennmaterial langsam erglühte.
»Susann war viel begabter als ich, viel hübscher, hatte viel mehr Power. Warum wollte sie unbedingt auch noch die Anständigere sein?«
»Die Anständigere?«
Tallulah goss kaltes Wasser in eine längliche, gläserne Bowl, kippte einen Schwall daneben und wischte ihn mit einem Tuch auf, das sie nicht aus den Augen ließ.
»Ich war vierzehn, als Susann herausbekam, dass ich bei einem Test in Geschichte gemogelt hatte. Sie sagte: ›Entweder du gehst selbst zur Lehrerin und gibst den Betrug zu, oder ich spreche mit ihr.‹ Ich hab ihr versprochen, es nicht wieder zu tun, wenn sie mich nicht verrät, aber das hat ihr nicht gereicht. Da zeigte ich ihr den Stinkefinger, und sie machte ihre Drohung wahr. Wegen der Sechs, die ich deshalb bekommen habe, schaffte ich die Versetzung nicht. Und ein paar Mitschüler riefen, immer wenn sie mich auf dem Schulhof sahen: ›Die-Da-Dummerlah.‹ Da hab ich mir gewünscht …«
Tallulah sah mich unvermittelt an, kaute auf der gepiercten Lippe herum
.
»Ein paar Wochen vor ihrem Tod, da hat sie die Steuererklärung für den Campingplatz meiner Eltern gemacht. Susann konnte gut mit Zahlen umgehen, hat auch im Bestattungsinstitut von meiner Tante und meinem Onkel die Steuer gemacht, für das indische Restaurant, für den dicken Eddi …«
»Eddi Fassmacher?«
»Ja, genau. Na, jedenfalls, vorher hat das mit der Steuer immer mein Vater erledigt. Susann hat dann ein paar Ungereimtheiten entdeckt, mein Vater hat anscheinend absichtlich ein paar Dinge falsch angegeben. Sie ist tatsächlich zu ihm gegangen und hat gesagt, das ginge so nicht, das wär nicht okay, er solle sich selbst anzeigen und das Geld nachzahlen. Wenn man will, dass Straßen gebaut werden, hat sie gesagt, und wenn man will, dass arme Leute Wohngeld bekommen und so weiter und so fort, dann muss man auch seine Steuern korrekt zahlen. Als mein Vater nicht wollte, hat sie ihm gedroht. Wenn er sich nicht selbst anzeigt, dass sie es dann tut. Da hat er nachgegeben. Und was ist passiert? Meine Eltern haben gesagt: So eine tolle Tochter haben wir, ehrlich, anständig, geradlinig, einfach zum Draufstolzsein, aus der wird mal was. Verstehen Sie, was ich meine? Susann konnte machen, was sie wollte, sie war immer die geliebte Tochter, selbst wenn sie die Familie in die Pfanne hauen wollte. Ich dagegen …«
Mit dem Tuch, das sie zum Aufwischen des verschütteten Wassers benutzt hatte, wischte Tallulah sich ein wenig Spucke vom Kinn.
Natürlich tat sie mir leid. Aber ich dachte auch an Susann. Schon heftig, den eigenen Eltern mit einer Steueranzeige zu drohen. Offenbar hatte es ihrem Ansehen in der Familie nicht geschadet, im Gegenteil, sie schien sich den Ruf einer
moralischen Instanz erworben zu haben. Für ein Mädchen ihres Alters absolut ungewöhnlich.
Farhad trat an den Tisch. »Alles in Ordnung, Honigmund?«, fragte er.
Sie nickte zu ihm hinauf.
»Bist du eine Freundin von Lula?«, fragte er mich. Seine Stimme war dunkel und brummig.
»Nein, aber ich werde gerade eine«, erwiderte ich und bekam dafür ein Lächeln, sowohl von Tallulah als auch von ihrem bärenstarken Freund.
»Das ist gut«, sagte er. »Lula braucht Freundinnen. Das ist wichtig, sonst kommt sie nicht klar. Genauso braucht sie Führung und Ordnung, sie muss lernen, sehr viel lernen, alles Mögliche, zum Beispiel, wie man Tabbouleh macht, eine Wasserpfeife aufbaut, die Bestellungen nicht vergisst … Bei ihr ist alles chaotisch. Worüber sprecht ihr?«
»Meine Schwester.«
»Wenn du mich fragst«, sagte Farhad und setzte sich neben mich. Seine Hände, mit denen er Walnüsse hätten knacken können, spielten mit einer Misbaha, einer muslimischen Gebetskette. »Wenn du mich fragst«, wiederholte er, »war Susann krank.«
»Oh, Sie haben sie gekannt?«
Er wechselte einen Blick mit Tallulah. »Nicht direkt. Aber Lula hat mir viel über sie erzählt. Die war Autistin, ist doch sonnenklar. Asperger, schon mal davon gehört?«
Farhads Theorie war interessant. Tatsächlich stürzen sich bei dieser Krankheit die Betroffenen in exzessiver Weise auf Hobbys, Themen und Ziele, nicht selten nehmen sie sogar extreme Positionen ein. Mir fielen die zahlreichen Bücher zu
den verschiedensten Themenkomplexen in Susanns Regalen wieder ein, die Lebenshilfe-Ratgeber und vor allem das Buch über radikale Ehrlichkeit. Es schien sie stark beeindruckt zu haben, wenn sie tatsächlich ihre Schwester der Schulleitung und ihre Eltern den Finanzbehörden hatte melden wollen. Wenn sie so weit hatte gehen wollen, dann dürften Menschen, die nicht zur Familie gehörten, erst recht nichts zu lachen gehabt haben. Geheimnisse waren offenbar nicht gut bei ihr aufgehoben gewesen.
Dazu kam noch ein anderer Umstand. Susann war für ihr Alter erstaunlich viel gelungen, sie hatte eine breite Palette von Talenten, und nach allem, was ich während des Prozesses und bei meinen Recherchen über sie gelernt hatte, kannte sie kein Nichtstun. Sogar die Haiku hatte sie nicht zur Entspannung verfasst, sondern zu einer intellektuellen Angelegenheit gemacht. Meiner Erfahrung nach haben Menschen, die hohe Anforderungen an sich selbst stellen, oft nur wenig Verständnis für die Schwächen ihrer Mitmenschen.
»Sie meinen also, Farhad, dass Susann sich viele Feinde gemacht hat mit ihrer … besonderen Art?«
»Exakt.«
»Sie denken dabei vermutlich an Holger Simonsmeyer, den früheren Angeklagten?«
»An den und den anderen.«
»Welchen anderen?«
Er stand auf. »Honigmund«, sagte er, »du musst es ihr erzählen.«
Er nahm das Rätsel mit zur Bar, während Tallulah mit leicht zittrigen Händen einen Tauchstab in die Bowl hielt, mit dem sie das Wasser erhitzte. Eine Minute lang schwiegen wir
.
»Wovon hat Farhad da gerade gesprochen? Was sollen Sie mir erzählen?«, fragte ich.
Sie wich mir aus.
»Danke, dass Sie gesagt haben, wir könnten Freundinnen werden. Farhad schimpft immer mit mir, weil ich mich so isoliere. Es ist diese Stadt … Berlin ist schon was anderes als Usedom.«
»Ich wohne gar nicht weit von hier. Wenn Sie also mal etwas brauchen …«
»Mir geht’s bei Farhad gut, wirklich.«
»Er ist um einiges älter als Sie.«
»Das stört ihn nicht.«
Diese Antwort ließ tief blicken. Vermutlich hatte Tallulah tatsächlich nicht viele Freundinnen, überhaupt wenige Bezugspersonen in ihrem Leben gehabt. Spontan sah ich ein kleines Boot vor meinem geistigen Auge, eine Nussschale, mit der sie übereilt und planlos aus dem Heimathafen auslief. Da sie nicht wusste, wohin sie wollte, war kein Wind günstig. Es war einfach nur Wind. Der hatte sie nun in eine Shisha-Bar verschlagen. Zwar hatte ich den Eindruck, dass Farhad es gut mit ihr meinte, aber wohin das am Ende führen würde …
Sollte ich sie noch einmal auf Farhads Bemerkung ansprechen und nachhaken? Ich beschloss, es vorerst zu lassen, denn ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen oder verschrecken, bevor ich mein eigentliches Anliegen vorgebracht hatte.
Ich legte die in ihrem Zimmer gefundenen Haiku auf den Tisch. Die Originale lagen inzwischen bei der Staatsanwaltschaft in Rostock, aber ich hatte die Kopien in etwa gleich große Schnipsel zerschnitten und zerknittert, sodass sie täuschend echt aussahen
.
»Ach, die komischen Dinger«, kommentierte Tallulah. »Hirnverbrannter Schwachsinn, das finden Sie doch auch, oder? Von Susann. Hab sie alle zerknüllt und gefuttert. Aber nur eine Zeit lang. Dann hab ich mir ausgerechnet, dass es, selbst wenn ich jeden Tag vier Papierkügelchen mampfe, noch an die zwei Jahre dauern wird, bis wirklich jeder doofe Satz verschluckt ist. Keine tollen Aussichten. Außerdem schmeckt Papier nicht besonders gut.«
Sie sagte das, als hätte sie ein paar alte Brotkrumen in der Küchenschublade gefunden. Erst bei meinem Blick dämmerte ihr, dass das Verspeisen von Gedichten – gelinde gesagt – exzentrisch war.
»Ich muss das erklären«, sagte sie, und ich kam nicht umhin, ihr zuzustimmen.
Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, rollten ungefähr ein Dutzend weiterer Papierkügelchen über den Tisch auf mich zu.
»Die hatte sie noch in ihrer Handtasche«, sagte Farhad. »Das sind die letzten.«
»Was ist mit den anderen passiert? Alle aufgegessen?«, wollte ich wissen.
»Nee«, sagte Tallulah. »Farhad und ich haben die Tagebücher vor ein paar Tagen verbrannt.«
»Die Polizei hätte sich bestimmt dafür interessiert.«
»Polizei hin oder her, für Lula war es symbolisch wichtig, die Tagebücher zu zerstören«, widersprach mir Farhad. »Auch die Kugeln aufzuessen.«
»Ach?«
»Ich weiß, wie das ist, jemanden zu hassen, den man eigentlich ehren und lieben sollte«, erklärte er. »Bei mir war es mein Vater. Er hat gegen jede Regel des Koran verstoßen, er hat
gesoffen, hat jedes Würfelspiel und jede Arbeit verloren. Er hat sich nicht um die Familie gekümmert, war der größte Schwächling, den man sich denken kann, ein echter Loser halt. Als er an einer Lungenentzündung gestorben ist, damals war ich elf, musste ich mich beherrschen, um auf seinem Grab keine Purzelbäume zu schlagen. Ich hab zu meiner Mutter gesagt: ›Lass uns alles zusammensuchen, was ihm gehört hat, die Kleidung, die Schuhe, seine Würfel, lass uns all das im Garten aufhäufen und anzünden.‹ Meine Mutter wollte, dass wir das Zeug verscherbeln, so gut es geht, und uns dafür irgendetwas Nützliches oder Schönes kaufen. Aber ich habe gesagt: ›Was auch immer das sein wird, es wird mich an meinen Vater erinnern, und dann muss ich kotzen.‹ Also haben wir doch ein Feuer gemacht. Danach ging es mir besser.« Er holte tief Luft. »Lula musste Susanns Geschreibsel futtern wie bunte Schokonüsse. Dabei hat sie sich stark gefühlt, ihrer Schwester überlegen. Sie wollte vernichten, was von Susann übrig geblieben ist. Alles, worüber sie so nachgedacht hatte, ihre Geheimnisse, ihre Gefühle, das alles hat Lula aufgefressen. Nein, nicht nur aufgefressen. Zerkleinert, verdaut und ausgeschissen.«
Tallulah lachte. »Der Spruch ›Ich scheiß auf dich‹ bekommt dadurch einen ganz neuen Dreh.«
Die alberne Bemerkung stand im Widerspruch zur Ernsthaftigkeit und – ja, durchaus auch – Klugheit, mit der Farhad die Sache betrachtete.
»Sieh an«, sagte ich lächelnd, an Farhad gerichtet. »Sie sind wohl Hobby-Psychologe?«
»Nur weil ich Muslim bin und eine Shisha-Bar betreibe, muss ich weder dumm sein noch ein schlechter Kerl.«
Ich erschrak. »So habe ich das nicht gemeint. Ich …
«
»Schon gut«, bügelte er meinen Rechtfertigungsversuch ab. »Honigmund, hast du ihr von Marlon erzählt?«, fragte er.
»Nein.«
»Tu es«, sagte er und wandte sich erneut anderen Gästen zu.
»Wer ist Marlon?«, fragte ich Tallulah.
Ungeschickt hantierte sie wieder mit der Wasserpfeife herum, die in ihren Händen die Komplexität eines Vergasers anzunehmen schien.
»Marlon Ritter«, sagte sie widerwillig. »Der andere, von dem wir vorhin gesprochen haben. Auch aus Trenthin. Er war … oder ist, was weiß ich … einer der Anführer von dieser komischen Gruppe, die dem Simonsmeyer das Leben schwermachen wollte. Haben sie ja auch geschafft. Ich hab da sogar mitgemacht, bis … Ach, ich will nicht drüber sprechen, okay? Jedenfalls ist Marlon ein Wichtigtuer. Farhad, der hat was auf die Beine gestellt, dem gehört eine Bar, der ist echt angesehen bei den Leuten. Marlon spuckt bloß große Töne, und das war’s. Deswegen ist er auch bei Susann abgeblitzt.«
»Er hat Susann …?«
»Angebaggert.« Tallulah brach in ein ziemlich gemeines Gelächter aus, das möglicherweise der Reaktion entsprach, mit der Susann den Annäherungsversuch quittiert hatte. »Was hat der sich nur dabei gedacht? Selbst wenn sie zu zweit auf einer einsamen Insel gelandet wären, Susann hätte sich nie mit ihm abgegeben, in tausend Jahren nicht. Er hätte es sich eigentlich denken können, aber tja, es hat ihn wohl zu sehr in den Fingern gejuckt. Oder noch woanders.«
Wieder grinste sie hämisch, und wäre das Wasser in der Bowl nicht beinahe übergekocht, hätte sie wohl die gesamte Bar mit ihrem Lachen unterhalten. So aber hatte sie mit dem
Tauchsieder und dem weiteren Aufbau der Wasserpfeife zu tun, was ihre Konzentration voll in Anspruch nahm.
»Woher wissen Sie von dem Annäherungsversuch? Hat Marlon mit Ihnen darüber gesprochen? Oder Susann?«
»Quatsch. Susann hat nie mit mir über irgendwas gesprochen. Und Marlon würde im Leben nicht zugeben, dass ein Mädel ihm die kalte Schulter gezeigt hat. Der, der hat bestimmt zu Hause ein Brett, in das er ’ne Kerbe ritzt, wenn er wieder eine Tussi rumgekriegt hat. Nee, ich hab an der Tür gelauscht, als Susann es Kathrin erzählt hat, ihrer besten
Freundin
. Ja, von wegen, die dumme, neidische Kuh.«
»Wann war das?«
»Etwa eine Woche, bevor sie abgemurkst wurde.«
»Lula, das müssen Sie der Polizei erzählen!«, rief ich so laut, dass die Leute vom Nachbartisch herüberschauten. Leiser fuhr ich fort: »Das ist eine wichtige Information.«
»Hat Farhad auch gesagt.«
»Na, prima, worauf warten Sie?«
Sie schraubte irgendwas auf die Bowl, fügte einen Trichter hinzu und verteilte den Inhalt einer kleinen Dose darauf. Das grünliche Zeug sah aus wie Algen, die jemand eben erst von einer nassen Klippe gekratzt hatte, doch es roch tatsächlich nach Tabak und Honig. Sie nahm die Kohle von der Heizplatte, platzierte sie irgendwo auf der Pfeife und verschraubte alles. Danach saugte sie mittels eines Schlauches den Wasserdampf an. Sie steckte ein frisches Mundstück auf und drückte mir den Schlauch in die Hand.
»So, bitte. Sie können loslegen. Das Erlebnis beginnt.«
»Lula«, sagte ich eindringlich, »was hindert Sie daran, der Polizei von Marlon zu erzählen?
«
»Er hat Susann nicht ermordet, ganz bestimmt nicht. Wenn Marlon jemanden umbringen würde, dann mit den Händen. Er hat unglaubliche starke Hände, aber das ist auch schon das Einzige, was er mit Farhad gemeinsam hat. So, und jetzt lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Shisha.«
»Ich will mich aber nicht zurücklehnen. Ich will, dass Sie die Wahrheit sagen, warum Sie nicht zur Polizei gegangen sind. Meine Güte, müssen Sie denn immer und überall das Gegenteil von dem tun, was Ihre Schwester getan hätte?«
Sie zupfte mit zwei Fingern an ihrer Lippe herum und sah mich verzweifelt an. »Wenn ich das der Polizei erzähle …«
»Ja?«
»Und die Polizei dann mit Marlon redet …«
»Ja?«
»Dann kommt vielleicht heraus, dass ich mit ihm … na ja, dass wir mal Sex hatten. Das war erst vor ein paar Wochen, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, als ich schon lange mit Farhad zusammen war, also irgendwie zusammen. Wenn er davon erfährt …«
»Sie haben mir doch eben erst erzählt, was für ein schrecklicher Blender Marlon ist.«
»Ja schon, aber ein verdammt gutaussehender schrecklicher Blender. Also, wenn der lächelt und die Arme um meine Taille legt … Er riecht so geil nach Farbe. War ungefähr zwei Tage lang schrecklich verknallt in ihn, aber nicht, um mit ihm zusammenzubleiben. Das wusste er auch. Hab ihm sogar von Farhad erzählt. Er war ja genauso drauf. Kurz vorher hat er es mit der Tochter von Herrn Tschaini gehabt. Ich war mit ihr befreundet, jedenfalls so ein bisschen, irgendwie. Na jedenfalls, Amrita hat sich öfter heimlich aus dem Staub gemacht, um
allein zu sein. Manchmal eben auch, um nicht allein zu sein, Sie verstehen? Vom Träumen allein lernt man das Knutschen nicht. Tschuldigung, ich muss mal kurz zum Nachbartisch, die wollen bestellen. Bin gleich zurück.«
Die Unbedarftheit, mit der dieses Mädchen durchs Leben stolperte, war erschreckend. Natürlich wollte ich sie nicht in die Pfanne hauen und ihr den einzigen Menschen nehmen, auf den sie derzeit bauen konnte. Wenn ich mich bei Linz diskret nach dem Alibi von Marlon Ritter erkundigte und es sich als stichhaltig erwies, war es sicher nicht nötig, Tallulah zu einer Aussage zu zwingen.
Ich gönnte mir einen Schwall Honig-Tabak-Dampf, bevor ich mir die Kügelchen vornahm, die Farhad mir gebracht hatte. Einige beinhalteten harmlose Naturbeschreibungen. Ich fragte mich, warum Susann sich überhaupt damit befasst hatte. Lebte sie, die ansonsten immer so fokussiert war, auf diese Weise einen verträumten Aspekt ihrer Persönlichkeit aus? Aller Wahrscheinlichkeit nach konnte ich dieses Geheimnis niemals lüften.
Doch womöglich schafften es andere. Ich breitete jene Haiku, die keine Naturbeschreibungen enthielten, auf dem Tisch aus.
Haiku 158
London frönt dem Rum.
Segelt weit in finstere
Gewässer davon.
Ich wusste nicht, ob es an den Dämpfen der Shisha lag, die in meinen Körper hinein- und wieder herausquollen, dass ich nach ein, zwei Zügen auf die Idee kam, bei »London« könnte es sich um Tallulahs und Susanns Vater handeln, Udo Illing
.
Wie kam ich darauf? Seine Trunksucht war inselweit bekannt, während des Prozesses hatte er sich manchmal kaum aufrecht auf dem Stuhl halten können, und in jungen Jahren – das hatten meine damaligen Recherchen zu dem Artikel ergeben – hatte er die Welt umsegelt. Das Textbild passte, wackelte aber noch. Wieso ausgerechnet London? Da dämmerte es mir: Die belesene Susann hatte sich daran erinnert, dass der Abenteuerromanautor Jack London einst den Versuch einer Weltumsegelung unternommen hatte und später schwerer Alkoholiker wurde.
Der kleine Erfolg tat mir gut, doch betraf er leider ein Haiku, das vermutlich kaum von Bedeutung war. Meine Erfolgsserie bei der Entschlüsselung weiterer Zeilen setzte sich nur bedingt fort, sooft ich auch an der Shisha zog.
Haiku 109
Ich möcht dich schütteln
Liegst im heißen roten Schweiß
Hoffmanni, wach auf!
Zuerst dachte ich, ich hätte mich verlesen, denn Susanns schöne, geschwungene Schrift schlug bisweilen in geradezu barocke Windungen um. Aber da stand wirklich Hoffmanni, nicht einfach nur Hoffmann.
Haiku 290
Ich drücke sie tot.
Nummer zwei im Schattenland.
Geteilte Wege.
Bei Nummer zwei
fiel mir spontan Tallulah ein, die zweite Tochter der Illings. Und mit totdrücken
konnte Susanns Dominanz auf allen Gebieten gemeint sein. Das Bild wackelte jedoch noch
.
Haiku 245
Der Verhinderer,
Totengräber der Liebe,
Affe Nummer eins.
Wieder war von einer Nummer die Rede, diesmal im Zusammenhang mit einem Affen. Bei Totengräber
fiel mir lediglich ein, dass Susanns Onkel und Tante, die Waldecks, ein Bestattungsunternehmen besaßen. Ansonsten verstand ich nur Bahnhof.
Haiku 301
Ennis am Fenster,
Mariposa immer da.
Oh, arme Oma.
Ich warf das Handtuch und streckte alle viere von mir. Wer oder was war Ennis
? Wer oder was war Mariposa
? Und wer war Oma
? Es gab noch zwei weitere Haiku, aber ich fand, dass ich über die bisherigen schon genug zu grübeln hatte.
Hoffen ließ mich, dass es Susann bei der Verschlüsselung nur um spielerische Raffinesse gegangen war. Es ging um die intellektuelle Herausforderung und nicht darum, der Nachwelt einen gordischen Knoten zu hinterlassen. Wenn ich ein wenig im Internet forschte, mich weiter in Trenthin umsah und mit den Leuten unterhielt, ließ sich der eine oder andere Code sicherlich knacken. Dahingestellt, ob das am Ende irgendwie nutzbringend war. Durchaus möglich, dass Hoffmanni
sich letztendlich als Susanns venezolanischer Grünohrpfeifvogel herausstellte, der eines Morgens tot in seinem Käfig lag.
Und mit noch etwas musste ich mich abfinden: dass von all diesen Haiku, die ich schon gelesen hatte und noch lesen
würde, vielleicht nur ein einziges Licht in Susanns Ermordung bringen konnte. Im schlimmsten Fall gar keines.
Ich packte die Zettel zusammen und verabschiedete mich von Tallulah. Sie schmiegte sich an Farhads muskulösen Körper, der den ihren um zwei Köpfe überragte.
»Richten Sie meiner Mutter Grüße aus, tun Sie das? Bitte sagen Sie ihr, dass es mir gutgeht. Und dass ich ein bisschen Abstand brauche. Ach ja, und dass Sie sich endlich bei Facebook anmelden soll, dann können wir uns schreiben. Oder bei WhatsApp. Machen Sie ein Foto von mir und Farhad? Das zeigen Sie ihr dann, ja?«
Auf der unerwartet langen nächtlichen Autofahrt von Berlin nach Usedom dachte ich über das Haiku nach, das ich schon Linz vorgelegt hatte.
Ein Witz nähert sich.
Die unreife Kokosnuss
wird dafür bluten.
Eine Kokosnuss war auch in einem anderen Haiku vorgekommen, im Zusammenhang mit Guinevere. Es dauerte, es dauerte, es dauerte, aber kurz vor dem Fahrtziel fiel es mir endlich wie Schuppen von den Augen. Guinevere, Kokosnuss,
ja klar!
Lachend diktierte ich eine Notiz in mein Handy: »Morgen Kokosnuss aufsuchen.«