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Der Abend des Brandanschlags
Nach mehr als zwei Stunden Diskussion waren sie alle beide vom Streiten erschöpft. Holger saß auf der Bettkante, zwischen zwei halb gepackten Koffern und vor dem halb geleerten Kleiderschrank. Bettina stand am geöffneten Fenster und blickte zum Horizont, wo zwischen bleifarbenem Achterwasser und kobaltblauem Himmel ein dünner Streifen aus Orange und Zitronengelb dahinschwand. Dieses Gespräch war der letzte Strohhalm gewesen, an den sie sich geklammert hatte, und es war nur deshalb zustande gekommen, weil sie Holgers Bedingungen zugestimmt hatte. Ja, Bedingungen! Als führten sie Waffenstillstandsverhandlungen.
Erstens: Sie durfte ihre Söhne weder als Argument benutzen, um ihn zum Bleiben zu überreden, noch zur Unterstützung holen. Patrick war ohnehin noch nicht eingeweiht. Vielleicht ahnte er etwas, doch zum Glück waren Ben-Luca und Alena vorbeigekommen, die ihm Ablenkung verschafften. Was Finn betraf – ihr Ältester hatte ihr geraten, auf die Bedingungen einzugehen, auch wenn er nicht verstand, was sie noch bei seinem Vater hielt.
Zweitens: Sie durfte nicht schlecht über Rosemarie reden. Holger hatte damit gedroht, dann umgehend die Koffer – egal, ob gepackt oder ungepackt – zu schnappen und augenblicklich das Haus zu verlassen. Bettina machte an diesem Abend die Erfahrung, wie anstrengend es war, stundenlang um eine Person herumzureden, wenn diese den Grund für die Aussprache darstellte.
Drittens: Sie durfte nicht hysterisch werden. Allein diese Formulierung wäre für manche emanzipierte Ehefrau ein Anlass gewesen, sich scheiden zu lassen. Bettina hingegen hatte sich nie als emanzipierte Frau betrachtet, zumindest nicht in der Weise, wie dieses Wort oft gebraucht wurde. Natürlich hatte sie eigene Ideen, setzte eigene Akzente, und zwar nicht nur bei Kindererziehung und Haushaltsführung. Sie war keineswegs in den Fünfzigern stehengeblieben, wie Eva ihr manchmal süffisant unter die Nase gerieben hatte. Auch sah sie sich mit ihrem Mann auf Augenhöhe. Trotzdem hatte sie Holger immer bewundert, weil er die Dinge nüchterner und geduldiger anging, irgendwie norddeutscher. Und schließlich: Mit ihm wollte sie den Rest ihres Lebens verbringen. Sie liebte ihn. Zählte das denn gar nichts mehr?
»Wieso hast du damit angefangen?«, fragte er nach einer Weile.
Zunächst verstand sie nicht, was er meinte, bis sie bemerkte, dass sie sich eine Zigarette angezündet hatte, an der sie ausgiebig zog. »Merkwürdig«, sagte sie und blickte wieder in die Nacht. »Dass es mir wegen deiner Entscheidung dreckig geht wie nie, das scheint dich nicht besonders zu interessieren. Aber dass ich wieder mit dem Rauchen angefangen habe, das ist dir wichtig genug, um es zu erwähnen.«
»Das Rauchen war das Einzige, was nie so richtig zu dir gepasst hat. «
»Ehebrechen passt auch nicht zu dir. Im Übrigen hast du kein Wort darüber verloren, dass ich aufgehört habe.«
»Hatte«, berichtigte er.
»Tut mir leid, wenn mir im Moment die deutsche Grammatik den Buckel runterrutschen kann.«
Eine Minute lang dachte sie, sie könnte es schaffen. Scheidungen gab es so viele, trotzdem stürzten sich die Leute nicht scharenweise aus dem Fenster. Es würde weitergehen. Finn begann seine Karriere, das war aufregend und machte sie stolz, und Patrick brauchte sie gewiss noch sieben, acht Jahre lang. Keine Zeit für Einsamkeit.
Als unten ein Taxi hupend vorfuhr, war es vorbei mit der Selbsttäuschung. Die eben erst errichtete Fassade brach binnen einer Sekunde in sich zusammen.
Er trat neben sie ans Fenster, sah hinunter, und sie konnte sich gerade noch beherrschen, sich an ihm festzuklammern.
»Holger, das ist doch Wahnsinn! Nach all den Jahren! Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Kannst du das von Rosemarie ebenfalls behaupten?«
»Rosemarie und mich verbindet etwas anderes, etwas Tieferes.«
»Tiefer! Tiefer als die Kinder, ja? Tiefer als unser gemeinsames Projekt, das Hotel? Tiefer als meine Loyalität, als du ganz unten warst?«
»Lass uns bitte nicht wieder von vorne anfangen«, entgegnete er und knüllte einige letzte Hemden und Hosen in die Koffer, bevor er sie schloss.
»Dann geh doch!«, schrie sie und warf sich aufs Bett. »Hau ab! Vergiss deine Kinder! Werde glücklich mit deiner alten Kuh! «
Erschreckt blickte sie zu Holger hinüber. Alle Bedingungen auf einen Schlag verletzt. Sie war hysterisch, brachte die Kinder vor und beleidigte seine Geliebte.
Vorbei, dachte sie. Wenn sie daran dachte, dass dieses Wort vor ein paar Wochen bei dem Freispruch noch mit Hoffnungen angefüllt gewesen war und nun für das Gegenteil stand … Sie griff in die Schublade des Nachttischs und schluckte eine Tablette.
»Was ist das?«, fragte er.
»Na, die Pille bestimmt nicht«, erwiderte sie patzig. »Würde momentan wenig Sinn ergeben.«
»Alex hätte dir das Beruhigungsmittel niemals besorgen dürfen.«
Sie lachte verächtlich. »Na klar, nun ist Alex dran, ja? Eene, meene, muh, und schuld bist du. Dein leichtes Herz wünsche ich mir. Bei dir ist alles immer so einfach. Ich bin schuld, weil ich dir nicht das geben kann, was du brauchst. Die Leute sind schuld, weil sie die Frechheit besitzen, sich Sorgen um ihr Leben zu machen. Susann ist schuld, weil sie so blöd war, sich ermorden zu lassen. Amrita ist schuld, weil … Ja, woran eigentlich, hm? Warum musste auch sie sterben, mitten in der Nacht im Wald, keine drei Steinwürfe vom Reitweg entfernt? Ich weiß nicht, wie du das machst, Holger Simonsmeyer, dass eine Frau nach der anderen auf dich hereinfällt. Wie wär’s? Wollen wir noch schnell in den Wald gehen, bevor du ins Taxi steigst? Kommt dich bestimmt billiger als eine Scheidung.«
Entsetzt schlug sie beide Hände vor den Mund und starrte ihren Mann mit weit aufgerissenen Augen an.
»Da siehst du, was du aus mir gemacht hast«, schluchzte sie, öffnete den Nachttischschrank und holte eine Flasche hervor .
»Was soll denn das? Du hast eben erst ein Schlafmittel genommen. Warum trinkst du jetzt Baileys?«
»Weil ich Wodka nicht mag.«
Sie setzte die Flaschenöffnung an den Mund, kam aber über den ersten Schluck nicht hinaus, da er ihr die Spirituose aus der Hand riss.
»Du bist nicht mehr mein Mann, du kannst mir nicht verbieten zu trinken.«
Vor Tränen konnte sie schon nicht mehr klar sehen, doch irgendwie gelang es ihr, ein paar weitere Tabletten aus der Packung zu drücken und zu schlucken, bevor Holger ihr auch das Medikament entwand. Mit einer Hand hielt er ihren Kiefer fest, mit der anderen fuhr er in ihrem Mund herum.
»Wie viele waren es?«, fragte er.
Sie antwortete brav wie ein reuiges Kind. »Drei oder vier.«
»Zwei habe ich, und es sind glücklicherweise leichte. Du wirst gut schlafen, mehr wird nicht passieren.«
Er nahm die Flasche Baileys mit auf seine Seite des Bettes. Eine Weile verging, in der sie hörte, wie ihre Schluchzer leiser und leiser wurden.
»Hier Simonsmeyer«, hörte sie Holger sagen. »Ich hatte ein Taxi bei Ihnen bestellt, und es ist auch schon da, aber ich brauche es nicht mehr. Buchen Sie den fälligen Betrag bitte einfach auf das Rechnungskonto des Hotels. Vielen Dank und gute Nacht.«
Das Letzte, was Bettina hörte, war der gemurmelte Satz: »Ich muss der Sache ein Ende machen. Ich muss.«
Zufrieden schlief sie ein.
Einige Wochen später, Septembe r
Der Schmollensee war ein friedliches, von Schilf, Wäldern und einem Rundwanderweg umsäumtes Gewässer zwischen Achterland und den Ostseebädern. Er wäre eiförmig gewesen ohne die Landzungen, die in seiner Mitte zu beiden Seiten weit in ihn hineinragten. Die Enden der Zungen berührten sich beinahe und lagen nur etwa fünfzig, sechzig Ruderschläge auseinander. Letzteres war für mich von größter Bedeutung, nichts weniger als eine Lebensversicherung.
Als ich auf der einen Seite der Landzunge eintraf, in der Nähe des Ortes Pudagla, war es mucksmäuschenstill. Nicht weit von hier waren die alten hölzernen Bockwindmühlen zu besichtigen, doch um diese Uhrzeit, etwa eine Stunde vor Mitternacht, war dort verständlicherweise kein einziger Tourist mehr unterwegs, und auch die Hobby-Ornithologen hielten sich an die Nachtruhe. Zudem lag die Stelle, wo ich in das Boot stieg, zwischen Buschwerk und Ried verborgen.
Ungeschickt stieß ich mich von dem baufälligen kleinen Steg ab. Mehr als eine Minute brauchte ich, bis ich mich nicht mehr rechts oder links herumdrehte, und war außer Atem, bevor ich den Kahn stabilisiert hatte. Die Dunkelheit machte es mir nicht leichter. Der Mond, der sich in einem Moment als Helfer ausgab und die Nacht erhellte, stellte sich im nächsten Augenblick als treuloser Geselle heraus, der sich hinter Wolken verbarg.
Am Treffpunkt angekommen, nicht weit vom Ufer der zweiten dicht bewachsenen Landzunge entfernt, holte ich die Ruder ein.
Zehn nach elf. Ich war zu spät .
Etwa zwanzig Stunden zuvor hatte Tallulah unabsichtlich etwas gesagt, das mir im wahrsten Sinne des Wortes die Augen öffnete. Wieder und wieder hatte sich der Name der indischen Schönheitsgöttin in meinem Kopf gedreht: Uma, Uma, Uma. Nicht Oma , wie ich fälschlicherweise entziffert hatte.
Dem Internet sei Dank, waren wir alle Bedeutungen des Wortes Mariposa durchgegangen. Kurz vor der Berliner Stadtgrenze rief ich dann Yim an, der sich tatsächlich noch, wie so oft nach einem anstrengenden Abend im Restaurant, zu nachtschlafender Zeit einen Film ansah. Er hatte keine Ahnung, welche Stürme in den vergangenen Tagen in mir getobt hatten, und sprach mit windstiller Stimme, die mir guttat. Dummerweise drängte die Zeit, und ich musste schnell auf den Grund meines Anrufs zu sprechen kommen. Yims Expertise hatte mir den letzten Mosaikstein geliefert
»Sind Sie da?«, rief ich aufs Geratewohl in die Nacht.
Ich befand mich ungefähr zwanzig Meter vom Schilf entfernt, dessen leises Rauschen ich vernahm, dessen Konturen ich jedoch nur erahnen konnte.
»Ich bin da, wo sind Sie?«, entgegnete eine männliche Stimme aus der Finsternis, von jenseits des Riedgürtels.
»In einem Boot auf dem See.«
»Warum wollten Sie, dass wir uns ausgerechnet hier treffen?«
Seine Stimme klang leicht verändert. Der ihn umgebende Wald verzerrte sie, auf der Weite des Sees hallte sie nach. Seine Unsichtbarkeit, die von fahlen Lichtfetzen unterbrochene Finsternis und der aus dem schwarzen Wasser aufsteigende Dunst verliehen ihr etwas Unheimliches, so als spräche ich mit einem Geist – oder dem Teufel .
»Ich werde mich mit einem zweifachen Mörder doch nicht Auge in Auge treffen, noch dazu mitten in der Nacht«, antwortete ich. »Sobald Sie ins Wasser gehen, bin ich ganz schnell weg.«
Er antwortete nicht.
Ein Windstoß fuhr mir durch die Haare. Nicht weit entfernt quakte ein Frosch.
»Wie kommen Sie denn auf so einen Quatsch?«, rief er nach einer Weile, die ich ihm zum Überlegen zugestanden hatte.
»Susann ist hinter Ihr Geheimnis gekommen und hat Sie unter Druck gesetzt, es öffentlich zu machen. Darum mussten Sie sie töten.«
»Dafür haben Sie keine Beweise.«
»Ich habe etwas Schriftliches von Susann, darin wird Ihr Motiv genannt. Das ist immerhin ein Anfang. Und Sie hatten die Gelegenheit zu der Tat, jedenfalls haben Sie sich trickreich eine geschaffen.«
Wieder schwieg er eine Weile.
»Was ist mit Amrita?«
»Die haben sie in den Wald gelockt.«
»Wie denn?«
»Mit welchem Versprechen lässt sich eine Siebzehnjährige wohl nachts aus dem Haus locken? Sie musste sterben, weil auch sie dabei war, Ihr Geheimnis zu verraten. Sobald ich das, was ich weiß, der Polizei erzählt habe, werden die noch einmal genauer hinschauen, und dann sieht es übel für Sie aus.«
Ich nahm den Mund ziemlich voll. Zwar reihten sich die Indizien aneinander, nun, da ich das Geheimnis des Mörders kannte, doch wirklich beweisen konnte ich nichts. Fast nichts .
»Warum haben Sie mich angerufen, statt zur Polizei zu gehen?«
»Aus fünfhunderttausend Gründen. Diese Summe will ich von Ihnen haben.«
»Sind Sie wahnsinnig? So viel habe ich nicht.«
»Ich weiß. Aber ich weiß auch, wen Sie fragen werden, um die Summe aufzutreiben. Sie dürfen gerne in fünf Raten zahlen, das macht es Ihnen leichter.«
Er schwieg einmal mehr.
Das Licht des Mondes erfasste mich kurz und erleuchtete einige der geschlossenen weißen Seerosen um mich herum, bevor es wieder vom Wolkenschatten vertrieben wurde. Der nächtliche Dunst hüllte inzwischen die gesamte Oberfläche des Sees ein.
Ein Blässhuhn oder eine Ente schreckte hoch.
»Ich warne Sie«, rief ich. »Wenn Sie versuchen näher zu kommen, haue ich ab und gehe zur Polizei.«
Er lachte, was mir einen Schauer über den Rücken trieb. Dieser Mörder war so heimtückisch. Er hatte sich nicht nur ein Alibi verschafft und Susann aufgelauert, sondern auch Amrita in Sicherheit gewiegt und sie dann hinterrücks abgestochen. Bis zuletzt war sie ahnungslos gewesen, was er mit ihr vorhatte.
»Keine Sorge, ich stehe noch immer an derselben Stelle«, behauptete er, und in Anbetracht der Richtung, aus der seine Stimme kam, sagte er die Wahrheit. Dann rief er: »Sie werden sterben, ohne dass ich einen einzigen Schritt tun muss.«
In diesem Moment hörte ich ein lautes Plätschern und fuhr herum. Keine fünfzehn Meter von mir entfernt näherte sich ein Boot mit schnellen Schlägen .
»Nein, nicht!«, rief ich und zog hektisch an den Rudern, um sie in Position zu bringen. Bis ich es geschafft hatte, war das andere Boot nur noch vier, fünf Meter weg.
Das Lachen des Mörders von jenseits des Schilfs bildete die schreckliche Begleitmusik meiner Flucht, die Fanfare für die Aufholjagd seines Komplizen, jenes Phantoms, von dem ich nichts als eine dunkle Silhouette sah.
Mit jedem Ruderschlag kam er einen halben Meter näher.
Wie weit war das andere Ufer entfernt?
Zu weit.
Genau in dem Moment, als das andere Ruderboot mich einholte, erhob das Phantom sich, zog ein Messer und sprang auf mich zu.