11
Wenige Minuten vor dem Brandanschlag
Als Alexander die Haustür hinter sich schloss, verspürte er für einen kurzen Augenblick einen inneren Frieden, wie er ihn schon lange nicht mehr erfahren hatte. Sofort begriff er, dass niemand zu Hause war. Kein Licht brannte, kein Geräusch war zu hören. Das war selten. Sosehr er sich nach einem bewegten Arbeitstag voller Tränen und Menschen in schwarzer Kleidung auf die Kinder freute, sosehr wünschte er sich manchmal, einfach nur die Beine hochlegen zu können. Mit einer jungen Tochter war das so gut wie unmöglich. Gab Alena mal Ruhe, kam garantiert Eva herbei und sagte, dass dies oder das dringend getan werden müsse. Seit einigen Wochen war es noch schlimmer als sonst. Wenn sie mal nicht diskutierten, lag der nächste Streit in der Luft, was nicht viel entspannender war. Eine Woche allein auf einer einsamen Insel – das war ein Traum, der immer größer wurde.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Ben-Luca: Bin mit Alena bei Simonsmeyers. Sind um elf zurück
.
Fein, dachte er und warf die Nachricht sofort weg, damit Eva sie nicht in die Hände bekam. Er schlug zwei Eier in die Pfanne, schnippelte Tomaten, Schinken, Lauch und Pilze hinzu und wartete drei Minuten. Das englische Frühstück aß
er häufiger um zehn am Abend, weil es eine warme Mahlzeit und schnell zuzubereiten war und hinterher kaum etwas aufgeräumt werden musste.
Kaum hatte er aufgegessen, sah er auf die Uhr. Halb elf. Wenn er sofort losfuhr, würde er Ben-Luca und Alena noch im Cottage von Bettina und Holger antreffen und konnte sie im Auto mitnehmen. Dann merkte Eva nicht, wo sie gewesen waren. Er behauptete einfach, dass sie irgendwo essen waren und vermied so hoffentlich einen weiteren Streit. Er war der Sache müde, so müde.
Alexander ließ das Seitenfenster herunter und fuhr los. Das abendliche Trenthin war ein Geisterdorf, nirgendwo eine Menschenseele. In der Ferne das Geräusch eines Traktors, der zu später Stunde vom Feld kam, wo die letzte Heuernte anstand. Friedvoll grasende Kühe. Am Himmel die ersten Zugvögel. Eine Spur Räucheraal in der Luft.
Plötzlich war er glücklich. Der ganze Stress war vergessen. Vielleicht würde er mit den Kindern sogar ans Meer fahren und versuchen, irgendwo noch ein Eis für Alena zu kaufen. Das hatten sie viel zu lange nicht gemacht.
Die letzten Meter zum Hotel boten normalerweise einen grandiosen Anblick. Das herrliche Gutshotel, so heimelig beleuchtet … An diesem Abend jedoch stimmte etwas nicht.
Vor ihm Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Er kam nur auf einhundert Meter heran, dann stoppte ihn ein Polizist, der ihn aufforderte, zurückzustoßen und den Weg für weitere Rettungskräfte frei zu machen.
Das Hotel selbst wirkte unversehrt.
Alex stieg aus und rannte los, ungeachtet der Rufe des Polizisten, vorbei an zahllosen Fahrzeugen. Er sprang über Schläuche
und bahnte sich den Weg durch die schaulustigen Hotelgäste.
Und dann sah er es: das Cottage in Flammen, eine gewaltige Feuersbrunst, die in den Himmel loderte wie die Hölle.
Einige Wochen später, September
Farhads Faust traf den Attentäter, just als dieser nach einem athletischen Sprung auf meinem Boot landete. Mein afghanischer Beschützer hatte sich im Rumpf versteckt gehalten, ganz in Schwarz gekleidet, und war genau im richtigen Moment zur Stelle. Das Phantom fiel ins Wasser. Schnell zog Farhad den Bewusstlosen heraus und legte ihn zu unseren Füßen ab.
Ihm die Kapuze vom Kopf zu ziehen, war eigentlich überflüssig. Ich wusste, um wen es sich handelte.
Farhad tat es trotzdem und sah mich an. »Ist er das?«
»Das ist er.«
Sein Komplize, der Mörder, hatte indessen aufgehört zu lachen, und zwar nicht nur, weil wir den Plan der beiden vereitelt hatten, mich umzubringen. Er war inzwischen selbst in Gewahrsam genommen worden, von der Polizei, die die Falle hatte zuschnappen lassen.
Es war aus und vorbei.
Alles hatte mit Susanns Spleens begonnen, und kurioserweise endete auch alles mit ihnen. Ihre Wahrheitsliebe löste ein Verbrechen aus, ihr Faible für raffinierte Codes dagegen löste das Verbrechen auf
.
Wenn es um den Nachmittag von Susanns Ermordung ging, wimmelte es nur so von falschen und schwer nachprüfbaren Alibis. Rosemarie Busch hatte sich nach eigener Bekundung irgendwo in der Pampa auf Bernsteinexkursion befunden, Marlon ließ sich von Ben-Luca decken, Ramu war angeblich im drei Stunden entfernten Berlin und Eva auf einer Beerdigung, wo sie keiner gesehen hatte. So ging es munter weiter. Eddi Fassmachers Alibi konnte nur von einem Katalog für Büromaterial bestätigt werden, Tallulahs von einer Proseccoflasche. Herr Tschaini und Holger Simonsmeyer hatten sich sogar in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens befunden. Nur von Finn, Amrita und Ganesh wussten wir ganz sicher, wo sie zur Stunde von Susanns Tod gewesen waren, nämlich an dem Ort, an dem ich ein gutes Jahr später am Morgen nach der Verhaftung des Täters und seines Komplizen mit Meena, Ramu und Ben-Luca zusammensaß.
Zu den Verlusten, die sie alle in den letzten Monaten erlitten hatten, kamen weitere hinzu. Entsprechend gedrückt war die Stimmung. Meena weinte und ließ sich von ihrem Sohn trösten. Ben-Luca dagegen wirkte wie paralysiert, er sprach kein Wort.
Mehr als die Nachricht, dass die beiden jungen Männer wegen zweifachen Mordes, Beihilfe zu Mord und versuchtem Mord verhaftet worden waren, hatte ich noch nicht übermitteln können. Die Worte steckten mir im Halse fest. So schwer es mir manchmal fällt, über die Verbrechen zu berichten, die in den Gerichtssälen verhandelt werden, mit den Angehörigen der Täter zu sprechen, ist etwas ganz anderes. Ihnen die Gründe und Abläufe der Tat höchstpersönlich darzulegen, erfordert eine unglaubliche Überwindung.
»Finn soll Susann ermordet haben?«, rief Ramu. »Das kann
nicht sein. Er saß ganz sicher hier im Gastraum, zusammen mit Amrita.«
»Das hat sie zwar behauptet, aber es trifft leider nicht zu. Tatsächlich war er am Tatort, wo er Susann auflauerte.«
»Aber Ganesh hat ausgesagt, dass er Finn und Amrita mehrmals Tee gebracht hat.«
Ich nickte.
Um zu verstehen, was am Nachmittag von Susanns Ermordung passiert war, musste ich mich im Geiste von allem freimachen, was Ganesh, Finn und Amrita in Bezug aufeinander gesagt hatten, sowohl in den Monaten vor als auch nach dem Verbrechen. Davon war nämlich so gut wie nichts wahr.
»Meine Titalee
würde niemals bei einem Mord mitmachen«, protestierte ihre Mutter und schnäuzte sich die Nase.
»Sie haben recht«, stimmte ich zu. »Amrita wusste nicht, was sie tat, denn es hatte Routine. Zur entsprechenden Zeit hatte sie … nennen wir es mal Pause. Um aus ihrem normalen Leben auszubrechen, das sie als zu beengt empfand, entwickelte sie die Angewohnheit, sich während der Stunden, in denen Ihr Mann spazieren ging und Sie selbst schliefen, aus dem Haus zu schleichen. Sie machte gar nichts Besonderes, zumindest nichts, was ich als besonders bezeichnen würde. Sie schlenderte allein herum, legte sich ans Ufer des Peenestroms, aß vielleicht irgendwo ein Eis, fütterte die Enten und träumte. Natürlich nur dann, wenn Finn ihr einen Besuch abstattete, oder besser gesagt, vermeintlich einen Besuch abstattete. Für Amrita war an jenem Tag, an dem Susann sterben sollte, nichts anders als all die Male zuvor, an denen dieselbe Prozedur stattgefunden hatte. Finn gab ihr ein Alibi, sie gab Finn ein Alibi und Ganesh allen beiden.
«
»Wozu brauchte Finn ein Alibi?«, fragte Ramu.
»An jenem Tag, um Susann zu ermorden. Bei den vorherigen Gelegenheiten war der Grund viel harmloser und simpler.«
»Was ist mit Ganesh? Am Nachmittag von Susanns Ermordung war er in der Küche und bereitete das Curry vor. Er hätte doch mitbekommen, wenn …«
»Vielleicht war er in der Küche, vielleicht auch nicht«, erläuterte ich. »Im Grunde spielt das keine Rolle.«
»Aber …«
»Stellen wir Ganesh kurz zurück«, bat ich. »Am neunundzwanzigsten September ist jedenfalls Folgendes geschehen.«
Ich erläuterte, wie sich Finn, die Kapuze ins Gesicht gezogen und als Jogger getarnt, auf den Weg zum Tatort machte. Er nahm dabei nicht die Route am Hafen und dem Peenestrom entlang, sondern vorbei an Sportplatz und Friedhof, wo deutlich weniger los war. Dabei passierte er auch den Wanderparkplatz, der wegen der vielen Laubbäume ein wenig unübersichtlich war. Er fiel der späteren Zeugin Sieglinde Diebert auf, die ihn jedoch nicht beschreiben konnte.
Doch noch etwas anderes, viel Schwerwiegenderes passierte in diesem Augenblick: Finn übersah das Auto seines Vaters, während sein Vater ihn sehr wohl bemerkte. Natürlich hupte Holger Simonsmeyer nicht, wie man das bei Zufallsbegegnungen gerne tut, denn dann hätte er erklären müssen, warum er sich dort befand, was bedeutete, er hätte seinen Sohn anlügen müssen. Einmal im Wald, konnte Finn in aller Ruhe auf Susann warten, er musste nur auf eventuelle Spaziergänger achten.
Tatsächlich joggte Susann sehr bald über den Wanderparkplatz.
Im Gegensatz zu Finn bemerkte sie Holger Simonsmeyers Auto und nahm die Gelegenheit wahr, ihm etwas zu erzählen – oder zu verraten, wie man will –, was ihn zutiefst erschreckte. Es kam zum Streit, sie stieg aus, joggte in Richtung Wald und traf auf Finn, der sie hinterrücks ermordete. Anschließend kehrte Finn auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war, diesmal unbeobachtet von der Zeugin.
Alles, was danach geschah, wäre völlig anders verlaufen, wenn Holger Simonsmeyer sich nicht so bald auf den Weg zu Rosemarie Busch gemacht hätte. Nach wenigen Metern entdeckte er Susanns Leiche, erkannte nach dem ersten Schock blitzschnell, dass sein Sohn der Mörder sein musste, und kehrte um. Dabei sahen ihn Herrn Tschaini und die Zeugin Diebert, was ihn verdächtig machte. Ganz der liebende Vater, entschloss er sich, seinen Sohn zu schützen, und schwieg zu der Anklage. Mit Erfolg, wie sich herausstellen sollte.
»Amrita«, fuhr ich fort, »hat den Mord an Susann nicht mit Finn in Zusammenhang gebracht. Als sie von ihrem Ausflug zurückkehrte, befand sich ihr Alibi längst wieder im Restaurant, und sie ahnte nicht, dass sie zu seinem
Alibi geworden war.«
»Heißt das«, fragte Ramu, »Finn saß in den Monaten davor ein paarmal pro Woche stundenlang hier im Restaurant allein herum? Was hat Amrita ihm dafür gegeben? Geld?«
»Keineswegs. Sie gab ihm etwas, das viel wichtiger für ihn war. Etwas, das auch Susann irgendwann bemerkte.«
Ennis am Fenster,
Mariposa immer da.
Oh, arme Uma.
Die indische Göttin der Schönheit hatte den Fall für mich gelöst. Ich lag von Anfang an richtig, als ich dieses spezielle
Haiku auf Amrita bezog, die angeblich plaudernd mit Finn am Fenster des Restaurants saß. Leider irrte ich mich viel zu lange in Bezug auf Mariposa
. Ennis
war vermutlich Finn und Oma
, wie ich fälschlicherweise gelesen hatte, eine unbekannte Person. Als mir klar wurde, dass in Wahrheit Uma
der Code für Amrita ist, stellte sich sofort die Frage, wer oder was mit Mariposa
gemeint war. Und lag ich mit Ennis
als Entsprechung für Finn überhaupt richtig?
Letzteres traf zu, und interessanterweise liefen beide Begriffe mehr oder weniger auf dasselbe hinaus.
Ich hatte mich daran erinnert, was Kathrin Sibelius mir gesagt hatte. Zuletzt war Susann auf Filme abgefahren, und mir war der Gedanke gekommen, dass es sich bei Ennis
um einen Schauspieler oder eine Filmfigur handeln konnte. Yim kannte sich aus, daher mein nächtlicher Anruf bei ihm.
Spontan waren ihm nur zwei Möglichkeiten eingefallen: die Verfilmungen der Comics des Autors Garth Ennis, was bei mir keinen Aha-Effekt auslöste, sowie Ennis del Mar, gespielt von Heath Ledger in Brokeback Mountain
. Die Handlung spielt im Amerika der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ennis, ein tougher Cowboy und harter Kerl schlittert in dem Film in eine Liebesbeziehung zu einem anderen Cowboy.
Mariposa
stand im Spanischen nicht nur für Schmetterling, obwohl es hauptsächlich so verwendet wurde. Es bedeutete auch Falter, Öllampe, Flügelschraube und – Schwuler. Das Wort war zwar ein bisschen aus der Mode gekommen, aber noch immer eine blumige Umschreibung eines homosexuellen Mannes.
Finn, der Harte, Kämpferische – Ennis
. Ganesh, der Alberne, Spielerische – Mariposa
.
Mit dieser Annahme ergab plötzlich alles einen Sinn. Finn und Ganesh gaben sich gegenseitig ein Alibi, was nur aus zwei Gründen funktionierte: erstens, weil Amrita mitspielte, und zweitens, weil es keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den beiden gab.
»Sie meinen, mein Bruder ist …?«, sagte Ramu, während Meena ein weiteres Mal in ihr Taschentuch schnäuzte.
Ich nickte. »Das würde auch erklären, welchen Vorteil Finn aus dem Arrangement mit Amrita zog. Er und Ganesh hatten Zeit für sich, und das nachmittags verwaiste Restaurant war das ideale Refugium für ihr geheimes Tête-à-Tête. Zumindest auf den ersten Blick. Dummerweise trieb sich auch Susann des Öfteren hier herum und bekam irgendwann einmal etwas mit, das sie besser nicht gesehen hätte, nämlich die Affäre von Ganesh und Finn.«
Den Teil, woher ich wusste, dass Susann das Geheimnis der Jungs zu lüften drohte, übersprang ich an dieser Stelle. Ich konnte nur vermuten, ob und wie oft sie die beiden damit konfrontiert hatte, aber in einem Punkt war ich mir sicher: Am Morgen ihres Todes hatte sie mit Ganesh darüber gesprochen. Wie mir Ramu selbst berichtet hatte, ging sie zu Ganesh in die Küche und verlangte Ehrlichkeit von ihm, wobei sie mit der Offenlegung des Geheimnisses drohte. Nicht, um die beiden an den Pranger zu stellen, sondern um ihnen Geradlinigkeit abzunötigen. Um ihre hehren Absichten zu unterstreichen und ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, vertraute sie Ganesh ihrerseits ein Geheimnis an: ihre verbotene Liebe zu Ramu, die sie nun ebenfalls öffentlich machen wollte.
Ich hatte mir schier den Kopf zermartert, woher Finn wohl von Susanns Geheimnis wusste, wenn sonst nur Ramu und
Alexander Waldeck es kannten. Doch es lag auf der Hand: Susann erzählte es Ganesh, Ganesh erzählte es Finn, und der erzählte es im Eifer des Gefechts Linz und mir. Nur ich erzählte es nicht weiter, denn ich wollte, dass Ramu es seiner Mutter möglichst schonend beibrachte.
Ben-Luca, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, sah mich beinahe feindselig an.
»Haben Sie ein Problem damit, dass Ihr bester Freund schwul ist?«, fragte ich ihn.
»So ein Quatsch«, stieß er hervor. »Ist mir doch egal, was er ist. Trotzdem liegen Sie falsch. Ich habe selbst gesehen, dass er ein Foto von Amrita in seinem Spind hatte. Er war total in sie vernarrt.«
»Wissen Sie, was sich mein schwuler Onkel, der in den Fünfzigern Teenager war, an die Wand gepinnt hat? Bestimmt nicht Montgomery Clift und Rock Hudson. Selbstverständlich hingen da Marilyn Monroe und Heidi Brühl. Und bevor Sie Finns selbstgebastelte Geschenke für Amrita erwähnen, die gehörten zur Tarnung.«
»Wozu Tarnung? Heutzutage ist das doch alles kein Problem mehr«, wandte er ein. »Es gibt keine Soap mehr ohne Schwule. Schwule Modemacher bekommen eigene Sendungen im Fernsehen. Der Bürgermeister von Berlin, der Außenminister, zig Schlagersänger …«
»Und wie sieht es mit Fußballern aus?«, gab ich zurück. »Die wenigen, die sich outen, tun es nach Beendigung ihrer Karriere, nicht zu deren Beginn. Andernfalls würden sie untergehen. Und Fußball war Finns Leben, zumindest sein halbes Leben.«
»Behaupten Sie, was Sie wollen«, rief Ben-Luca laut. »Er
kann Amrita nicht umgebracht haben. Er war zur Tatzeit mit mir zusammen, damit das klar ist. Das schwöre ich vor jedem Gericht, verdammt noch mal.«
»Ich habe nie behauptet, dass Finn auch Amrita umgebracht hat.«
Meena hörte auf zu schluchzen und sah mich entsetzt an, während Ramus Hände sich in die Tischdecke krallten.
Ich atmete tief durch. »Es tut mir sehr leid, aber …«
Ja, Ganesh war der Mörder seiner eigenen Schwester. Ironischerweise musste sie nicht sterben, weil sie dahintergekommen war, dass er und Finn etwas mit Susanns Tod zu tun hatten. Davon ahnte sie nichts, sonst wäre sie nicht mitten in der Nacht mit ihrem Bruder nach draußen gegangen. So brutal es klang – indirekt hatte Herr Tschaini seine Tochter zum Tode verurteilt, indem er ankündigte, sie sehr bald nach Indien zu schicken und dort zu verheiraten. Das tat er nur, weil er glaubte, dass Finn sich mit ihr trotz seines Verbots traf. Amrita wollte auf keinen Fall aus Deutschland weg. Sie sah nur eine Möglichkeit, ihren Vater umzustimmen, nämlich ihm die Wahrheit über Finn und Ganesh zu erzählen. Damit wäre der Grund für ihre Verbannung entfallen, denn aus ihrer Sicht war es eine Verbannung.
Ganesh ahnte, was sie vorhatte, vielleicht weihte sie ihn sogar ein und bat ihn vorab um Verzeihung. Doch das konnte Ganesh nicht zulassen. Welche Lüge er auch erfand, um sie aus dem Haus zu locken – vielleicht, dass Marlon irgendwo auf sie wartete –, sie ging mit ihm. Und damit in den Tod.
Finn, der sich ein prima Alibi verschafft hatte, tat später überrascht, als er mit Ben-Luca auf ihre Leiche stieß.
Da saß ich nun, an einem Tisch mit der Mutter und dem
Bruder des einen Mörders sowie dem besten Freund des anderen. Sie hätten mich zu Recht eine allzu kreative Journalistin nennen können, sogar eine Fantastin, denn mit einer hübschen Geschichte entlarvt man keinen Mörder. Erst mein Anruf bei Ganesh, die vorgetäuschte Erpressung und das nächtliche Treffen am Schmollensee ließen die Falle zuschnappen, in die das Duo tappte. Sicherlich, ich hatte zu dem Zeitpunkt keine Beweise, und das wussten die beiden. Doch für Finn – und damit auch für Ganesh – ging es um weit mehr als juristische Spitzfindigkeiten. Hätte ich polizeiliche Ermittlungen in diese Richtung angestoßen und wäre das publik geworden, Finns Karriere hätte auf dem Spiel gestanden. Dieses Risiko durften sie nicht eingehen, sonst wäre alles umsonst gewesen.
Warum ich den speziellen Treffpunkt in der Mitte des Sees zwischen den beiden Landzungen gewählt hatte, war auch Ganesh und Finn nicht verborgen geblieben, womit ich gerechnet hatte. Die jungen Männer wollten mich überraschen, doch Farhad, die Polizei und ich hatten den Spieß umgedreht.
Meena sah mich an. »War es das, was mein Mann vor mir verbarg? Von dem ich glaubte, dass er es zurückhielt, um mich nicht zu bekümmern? Ganeshs … Sie wissen schon.«
»Entweder es war Ganeshs Homosexualität, die ihr Mann möglicherweise erahnt hat. Oder …« Ich warf Ramu einen Blick zu. »Ich glaube, Ihr Sohn möchte Ihnen etwas sagen.«
Damit verabschiedete ich mich und verließ zusammen mit Ben-Luca das Restaurant, damit Ramu in Ruhe seiner Mutter von seiner Liebesbeziehung mit Susann erzählen konnte.
Wir gingen nebeneinander her in Richtung Hafen. Über dem Peenestrom lag dieses gelbliche, dunstige Licht, das es
nur dort gab, und am Himmel erstreckten sich nicht endende Formationen von Gänsen, deren fröhliches Schnattern in heftigem Kontrast zu unserer irdischen Stimmung stand. Obwohl ich mich sehr bemühte, den jungen Mann neben mir nicht anzustarren, war seine Verzweiflung mit Händen zu greifen. Ich hatte noch nie einen wirklich guten Freund verloren, weder an den Tod noch durch ein Zerwürfnis und schon gar nicht aufgrund einer Bluttat. Allerdings hatte ich schon mit vielen Menschen zu tun gehabt, denen es so ergangen war.
»Das ist nichts«, sagte ich, »was man sofort versteht. Ihnen werden tausend Erinnerungen einfallen, die nicht zu dem Finn passen, der er heute ist. Sie werden einige Wochen, vielleicht sogar Monate brauchen, um …«
»Sie verstehen das nicht«, unterbrach er mich.
»Nein, vermutlich nicht.«
»Ich meine, ich habe Ihnen und diesem Polizisten neulich nicht die Wahrheit gesagt.«
»In Bezug worauf?«
»Der Brand … Der Abend des Brandes … Ich …«
»Von welcher Lüge sprechen Sie?«