Für Picard bestand nicht die geringste Frage, was er zu tun hatte. Seine einzige Möglichkeit lag in der Flucht. Die Ereignisse auf Cestus III würden sich ohne ihn abspielen müssen.
In der Tat war der Geschichte am besten gedient, wenn er seine Kontakte mit den Kolonisten auf ein Minimum beschränkte. Das Ende war nur noch drei Tage entfernt. Es war zwar schrecklich, dass eine Kolonie mit so guten Leuten wie Dr. Santos ein so tragisches Schicksal erlitt, aber dieses Schicksal war trotzdem unabwendbar.
Die einzige Frage, die für ihn bestehen blieb, lautete, wie er vorgehen sollte. In drei Tagen würden die Gorn eintreffen, und Picard musste weit genug weg sein, um ihrer Aufmerksamkeit völlig zu entgehen.
Der Captain wusste, dass die Kolonie nach Captain Kirks erster Begegnung mit den Reptilienwesen den Gorn zugesprochen werden würde. Aber diese Übereinkunft würde über Subraumfunk ausgehandelt werden, ohne dass es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Menschen und Gorn kam. Und soweit Picard wusste, war bis zu seiner Zeit kein Angehöriger der Föderation mehr nach Cestus III zurückgekehrt. In der Tat war eine gemeinsame Nutzung der Einrichtungen einer der Punkte auf der Tagesordnung des bevorstehenden Gipfeltreffens mit den Gorn.
Des bevorstehenden, dachte Picard. Für ihn schien es nur ein paar Tage entfernt zu sein. Er verspürte sogar noch immer das nagende Bedürfnis, sich auf die Konferenz vorzubereiten – obwohl er dafür nun nicht lediglich ein paar Tage, sondern ein Jahrhundert Zeit hatte.
Picard bewahrte die Hoffnung, seine Mission trotzdem irgendwie noch erfüllen zu können. Es bestanden gute Aussichten, dass Commander Riker herausfinden würde, was ihm zugestoßen war, wenn er die fremde Station und die Messergebnisse der Schiffssensoren untersuchte. Aber würde Riker imstande sein, den Transport seines Captains durch Zeit und Raum zurückzuverfolgen? Oder würde seine Nummer Eins einfach davon ausgehen, dass Picard tot war?
Natürlich war es möglich, dass die Station von der Energiewelle, die den Captain hierher geschickt hatte, zerstört worden war. Doch falls sie noch existierte, würde seine Crew vielleicht eine Möglichkeit finden, ihn mit der fremden Technik zurückzuholen. Um sich darauf vorzubereiten, musste Picard versuchen, ein Signal zu erzeugen, das Starfleet in der Zukunft finden würde. Er wusste, es war zumindest seine Pflicht, genau festzuhalten, was ihm widerfahren war, und einen letzten Bericht zu schreiben. Aber wie sollte er das anstellen?
Die Reihe der Fragen war fast endlos. Während der Captain noch darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass lediglich eines mit Sicherheit feststand: das Schicksal der Kolonie. Wenn er diese Gegend nicht schnell verließ, würde er dasselbe Schicksal erleiden. Er musste sich Vorräte beschaffen und seine Flucht planen.
Vom körperlichen Standpunkt her war er der Aufgabe durchaus gewachsen. Nach einer Nacht des erholsamen Schlafs fühlte er sich erfrischt. Der Schmerz in seinem Kopf war verschwunden, und sein ruhiggestellter rechter Arm behinderte ihn zwar, aber nicht entscheidend.
Picard schwang die Füße über die Seite und stieg aus dem Bett. Die Krankenstation hatte einen Durchmesser von etwa sieben Metern und verfügte über insgesamt fünf Betten. Im vorderen Teil des Raums stand der Schrank, auf den Dr. Santos an diesem Morgen gezeigt hatte, als sie ihm sagte, sie hätten seine Kleidung gesäubert und würden sie ihm zurückgeben, sobald er aus der Krankenstation entlassen wurde.
Der Schrank war nicht abgeschlossen und enthielt zahlreiche Kleidungsstücke, Bandagen, Schlingen und diverse weitere harmlose medizinische Geräte – nichts, das von großem direkten Wert für ihn war. Doch auf dem oberen Regal lag ein Seesack, und als er ihn öffnete, fand er seine ordentlich zusammengelegte Uniform darin.
Der Captain nahm den Seesack und wagte sich in Dr. Santos' Büro nebenan. Der Raum schien leer zu sein, doch um ganz sicher zu gehen, rief er leise den Namen der Ärztin. Als er keine Antwort bekam, trat er hinter ihren Schreibtisch und versuchte, die dahinter befindliche Tür zu öffnen. Nach einigem Drücken gab sie nach, und Picard sah einen kleinen Raum, in dem sich die wichtigeren medizinischen Vorräte der Ärztin befanden.
Er durchsuchte den Raum schnell nach allem, was er vielleicht gebrauchen könnte. Die Medikamente ließ er links liegen; interessanter waren schon einige ordentlich aufgereihte Tricorder. Er nahm einen von ganz hinten und ging zu den Erste-Hilfe-Kästen weiter – beide Ausrüstungsgegenstände könnten ihm äußerst nützlich sein. Im Augenblick konnte er nichts weiter gebrauchen, doch er nahm sich vor, sich im Notfall an die unverschlossene Tür zu erinnern.
Picard kehrte in Santos' Büro zurück und schloss die Schranktür. Dann gab er einem Gefühl nach und öffnete die Schubladen im Schreibtisch der Ärztin. Er durchsuchte sie schnell und bemühte sich, den Inhalt nicht in Unordnung zu bringen. Schließlich fand er ganz hinten in der untersten Schublade, was er gesucht hatte.
Der Captain holte den kleinen Phaser vom Typ I heraus und betrachtete das antiquierte Gerät, das er bis dahin nur im Flottenmuseum gesehen hatte. Reichweite, Zielgenauigkeit und Batterieleistung waren nicht annähernd so groß wie bei den Geräten, an die er gewöhnt war, doch es musste für den Augenblick genügen. Mit etwas Glück konnte er auf einen Einsatz der Waffe verzichten.
Staunend über die laschen Sicherheitsvorkehrungen, schloss Picard die Schublade. Solch ein Mangel an Vorsicht war nicht unüblich bei einer kleinen, geschlossenen Gesellschaft, in der alles auf Vertrauen basierte. Dieser Gedanke rief in ihm Gewissensbisse hervor. Er bestahl nicht nur die Kolonisten, sondern eine Ärztin, die überaus freundlich zu ihm gewesen war – und das in einer Starfleet-Einrichtung.
Sofort stellten sich bei ihm logische Argumente ein, die seine Vorgehensweise unterstützten, doch er wischte sie beiseite. Die Frage lautete nicht, was logisch oder praktisch war, es ging vielmehr um Recht oder Unrecht. Und Picard wusste genau, dass er in diesem Augenblick trotz jeder Verpflichtung und zwingenden Notwendigkeit etwas tat, das gegen seine persönlichen Verhaltensregeln verstieß. Er hatte den Eindruck, einen dunklen, unheilverkündenden Schatten über die kleine, abgeschiedene Kolonie zu werfen.
Der Captain stopfte die Geräte schnell in den Seesack und legte ihn auf das Regal im Schrank neben seinem Bett zurück. Dann setzte er sich an dem Schreibtisch auf den Stuhl, der für Patienten bestimmt war, und schaltete das Lesegerät ein. Der Bildschirm erhellte sich und zeigte Bedienerhinweise, doch er ignorierte sie und saß schweigend da.
Er musste nicht lange warten. Nach ein paar Minuten kam Dr. Santos herein und lächelte freundlich, als sie ihn am Schreibtisch sitzen sah.
»Sie sind aufgestanden«, stellte sie fest.
»Ja. Wann können wir über meine Entlassung sprechen?«, fragte er.
Santos täuschte ein Stirnrunzeln vor. »Ich nehme an, Sie fragen nur, weil Sie Hummeln im Hintern haben – und nicht, weil Sie meiner barschen Behandlung entgehen wollen.«
Picard musste unwillkürlich lächeln. »Sie waren sehr freundlich und haben mich ausgezeichnet versorgt, aber ich kann es nicht abwarten, etwas zu tun.«
Die Ärztin schien wirklich erfreut zu sein. »In diesem Fall können Sie sich als entlassen betrachten. Ihre Schulter bedarf meiner Aufmerksamkeit nicht mehr; der natürliche Heilungsprozess braucht nur noch etwas Zeit. Warten Sie einen Augenblick, und ich weise Ihnen ein vorübergehendes Quartier zu – auch wenn ich nicht weiß, wie lange vorübergehend sein wird.« Sie schaute mit einem leicht entschuldigenden Blick auf. »Manchmal dauert es Wochen, bis das nächste Versorgungsschiff kommt. Und es könnte noch länger dauern, bis Sie eins finden, das Sie zu Ihrem gewünschten Ziel bringt. Wahrscheinlich werden Sie noch eine Weile bei uns bleiben müssen.«
Picard nickte. »In diesem Fall werde ich versuchen, mich nützlich zu machen.«
Santos zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie irgendwelche technischen Fähigkeiten haben, wird unser Chefingenieur Sie bestimmt gern unter seine Fittiche nehmen. Und wenn Sie noch ein paar Wochen bleiben, werden Sie hier sein, wenn unsere Sensorphalanx in Betrieb genommen wird. Das ist wirklich eine aufregende Zeit für uns.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Büro. »Es dauert nur eine Minute.«
Der Captain stellte fest, dass das Lächeln auf seinem Gesicht bestehen blieb. Die Begeisterungsfähigkeit der Ärztin war zweifellos ansteckend. Aber sein Lächeln verblich kurz darauf, als er daran dachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb.
Santos kehrte einen Moment später zurück. Der ernste Blick ihrer Augen verriet Picard sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Commodore Travers hat Ihnen einen Gästeraum zugewiesen«, erklärte sie nicht ohne einen Anflug von Zynismus. »Er hat Ihnen des weiteren eine … Eskorte zugeteilt. Lieutenant Harold wird in Kürze hier sein.«
Der Captain begriff, was ihr zu schaffen machte. Es stellte ihn ebenfalls vor Probleme – wenn auch aus anderen Gründen. Eine Starfleet-Eskorte würde seine Pläne beträchtlich erschweren. »Der Commodore ist lediglich vorsichtig«, sagte er schließlich und hielt seinen Tonfall dabei neutral.
»Er ist ein guter Kommandant, aber ein argwöhnischer Mann«, versetzte Dr. Santos. Offensichtlich hatte sie diese Entwicklung nicht vorausgesehen, und nun war sie ihr peinlich.
Picard räusperte sich. »Ich verstehe das durchaus. Vergessen Sie nicht, ich bin ebenfalls Kommandant. Und ich habe herausgefunden, dass es zwei Möglichkeiten gibt, sich mit dem Unbekannten zu befassen. Man kann es entweder willkommen heißen oder sich ihm mit Vorsicht nähern. Mir hat es in der Vergangenheit vielleicht an Vorsicht gemangelt, und das ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Die Vorsicht hat also eindeutig ihre Berechtigung.
Außerdem«, fuhr er fort, »habe ich ihm durchaus Anlass zum Argwohn gegeben. Und da ich nichts zu verbergen habe, habe ich auch nichts dagegen, überwacht zu werden.« Es bereitete ihm Schwierigkeiten, so beiläufig zu lügen, aber die Pflicht ließ ihm keine Wahl.
Zum Glück erfüllte die Lüge mehr als nur ihren Zweck. Das Gesicht der Ärztin hellte sich etwas auf. »Ich bin überzeugt, es handelt sich nur um eine vorübergehende Maßnahme«, sagte sie.
In diesem Moment betrat ein junger Mann in der goldfarbenen Uniform eines Lieutenants den Raum. Er war fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, hatte dunkles Haar und ein ernstes Gesicht. Picard war sicher, dass es sich um seine Eskorte, Lieutenant Harold, handelte.
Santos wandte sich an den Lieutenant und hielt ihre Stimme heiter und formlos. »Lieutenant Matthew Harold, darf ich Ihnen den Handelskapitän Dixon Hill vorstellen.«
Der Neuankömmling lächelte automatisch und streckte die Hand aus. Auf halber Strecke hielt er jedoch kurz inne – zweifellos verunsicherte ihn die freundliche Formlosigkeit, die die Ärztin mit ihrer fast geselligen Vorstellung an den Tag gelegt hatte. Man musste ihm jedoch zugute halten, dass er nur ganz kurz zögerte und Picard dann die Hand reichte.
»Captain«, sagte der jüngere Mann und nickte.
»Lieutenant«, erwiderte Picard. »Aber bitte … ich heiße Dixon Hill. Ich fürchte, mit dem Verlust meines Schiffes hat auch der Rang den Großteil seiner Bedeutung für mich verloren.«
Harold nickte erneut. »Ich bin hier, um Sie zu Ihrem Quartier zu führen, das direkt neben dem meinen liegt. Wenn Sie irgend etwas brauchen oder Fragen haben, helfe ich Ihnen gern.«
»Danke«, erwiderte der Captain. »Ich möchte mich darüber unterhalten, wie ich eine Passage auf dem nächsten Versorgungsschiff bekomme. Derweil könnten wir vielleicht klären, ob es möglich ist, mich einer Ihrer technischen Abteilungen zuzuweisen.«
Harold schien von der Freundlichkeit des Captains wie auch von dem Vorschlag verblüfft zu sein, ihm eine Arbeit zuzuteilen. Zweifellos hatte er erwartet, dass Picard sich irgendwie verdächtig benahm – mehr wie ein Gefangener.
Der Captain musste das Vertrauen seiner Begleitung erringen, um sich die Bewegungsfreiheit zu verschaffen, die sein Fluchtplan erforderte. Santos hatte ihm unwissend geholfen, indem sie sehr freundlich mit ihm gesprochen hatte. Picard musste nun versuchen, diesen Vorteil auszunutzen.
»Und wenn Sie nichts dagegen haben, Lieutenant, werde ich Sie beide begleiten«, warf die Ärztin ein.
Harold nickte lediglich und verbarg damit jede weitere Überraschung über die unerwartet freundliche Atmosphäre, die er in der Krankenstation vorgefunden hatte.
Dann wandte Santos sich an Picard. »Möchten Sie gern Ihre Kleidung wieder anziehen? Sie ist in gutem Zustand, und darin fühlen Sie sich vielleicht wohler. Sie liegt in dem Schrank da drüben.«
»Nein, danke«, sagte Picard schnell. Wenn die Ärztin den Seesack öffnete, war seine Aussicht auf Flucht in einer Sekunde vertan. »Es ist nämlich meine Schiffsuniform, und im Augenblick sind die damit verbundenen Assoziationen nicht gerade angenehm.«
Santos schien die Erklärung zu akzeptieren. »Verzeihung«, sagte sie zu ihm. »Warten Sie einen Augenblick auf mich, ja?« Abrupt verschwand sie in ihr Büro und kam mit einem schlichten blauen Overall wieder heraus, wie er auch noch im vierundzwanzigsten Jahrhundert von Technikern getragen wurde. Dann griff sie in den Schrank und holte den Seesack des Captains heraus. Einen Moment lang hielt Picard den Atem an und fragte sich, ob sie das zusätzliche Gewicht bemerken würde. Zum Glück war das nicht der Fall, und sie legte den Seesack und die Kleidung auf sein Bett.
»Doktor … haben Sie ein kleines goldenes Abzeichen entdeckt, als Sie mich gefunden haben?«
Santos dachte kurz nach. »Nein, habe ich nicht. War es wichtig?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Nur ein Erinnerungsstück.«
»Sie müssen es bei dem Erdrutsch verloren haben«, vermutete sie. »Ich würde Ihnen gern sagen, dass wir danach suchen können, aber diese Gegend ist nicht sicher.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Picard.
Nun, damit war die Frage beantwortet, was mit seinem Kommunikator geschehen war. Ein glücklicher Zufall. Das Gerät hätte Fragen aufgeworfen, die er nicht hätte beantworten können, ohne massiv gegen die Erste Direktive zu verstoßen – wenn nicht sogar gegen die Geschichte selbst.
Dr. Santos und Lieutenant Harold gingen hinaus, damit er sich umziehen konnte. Er zog den Krankenhausschlafanzug aus und bemühte sich, den rechten Arm möglichst zu schonen, während er die Schlinge entfernte und den Overall anzog. Als er in das Büro der Krankenstation ging, unterhielten Harold und Santos sich leise.
»Fertig«, sagte Picard. Der Lieutenant bot ihm an, den Seesack zu tragen, doch der Captain lehnte höflich ab. Als sie das Gebäude verließen, schaute er sich begeistert in dem Vorposten um.
Er hatte sich Jahre zuvor – während seiner Begegnung mit den Gorn auf der Stargazer – über den Angriff auf Cestus III informiert, wusste also, wie die Kolonie aussah. Die Anlage bestand praktisch aus einem Halbkreis miteinander verbundener, niedriger Gebäude, die aus der Ferne wie eine gebogene Wand aussahen. Aber Picard wusste, dass die sichtbaren Bauten lediglich die Eingänge größerer, unterirdischer Komplexe waren. Die meisten Wohn- und Arbeitsräume des Geländes waren unterirdisch angelegt – ein Versuch, der Wüstenhitze auf der Planetenoberfläche zu entgehen.
Die Krankenstation befand sich in etwa an der Spitze des Halbkreises. Links von ihm lagen die Unterkünfte und der Speisesaal, zu seiner Rechten die Elemente der Lebenserhaltung, über der große Kugeln errichtet waren, die Picard als Sensorrelais erkannte. Hinter dem Halbkreis war auf Hunderten von Quadratmetern flacher Ebene die gewaltige Sensorphalanx errichtet worden. Und irgendwo ganz in der Nähe musste der Warpgenerator liegen, der die Phalanx mit Energie versorgte.
Innerhalb des Halbkreises standen zwei mittelgroße Gebäude, von denen Picard wusste, dass es sich um die Verwaltungsbüros und die Waffenkammer handelte; in den Berichten, die er studiert hatte, war noch der damals gebräuchliche Begriff ›Arsenal‹ verwendet worden. Dazwischen befand sich der Fusionsgenerator, der die Kolonie mit Strom versorgte. Hinter dem Generator konnte Picard in der Ferne niedrige Berge ausmachen.
Das alles hatte Picard erwartet. Doch irgendwie sah es falsch aus. Einen Augenblick lang kam er nicht dahinter, wieso dieser Eindruck entstand, dann wurde es ihm klar: Die Kolonie lebte. Die Gebäude waren intakt und erst vor kurzem errichtet worden. Und sie waren voller Menschen. Techniker, Wissenschaftler und Leute in Zivilkleidung arbeiteten, gingen hin und her oder unterhielten sich einfach.
Die wenigen Bilder, die der Captain von Cestus III gesehen hatte, entstammten den Logbüchern von Kirks Enterprise. Sie zeigten ein verwüstetes Gelände, von schwarzen Narben versengt, voller Krater und Schutt. Anhand dieser Bilder hatte man gerade eben noch die meisten der grundlegenden Gebäude und die Aufteilung der Kolonie erkennen können.
Er war weder auf die beiläufige Aktivität noch auf den frischen, ziemlich angenehmen Geruch der Luft vorbereitet. Picard hatte den Vorposten studiert, als dieser bereits tot war, und er wusste im Augenblick nicht so recht damit umzugehen, dass hier noch das Leben pulsierte.
»Sir?«, fragte Harold leise und riss den Captain damit aus seinen Gedanken.
»Es tut mir leid, ich war etwas geistesabwesend. Es ist nur so«, erklärte er, »dass ich seit einiger Zeit nicht mehr auf einem Planeten war.« Wenigstens entsprach das teilweise der Wahrheit, dachte er.
Sie legten die kurze Strecke zum Wohnbereich schweigend zurück.
»Sie sind in der Unterkunft Elf-H untergebracht«, sagte Harold. »Ich wohne in Elf-J. Wenn Sie mir folgen würden …«
»Das ist alles, Lieutenant«, warf Santos ein.
»Verzeihung, Doktor?«, fragte Harold.
Sie lächelte, aber mit einer gewissen zugrunde liegenden Nachdrücklichkeit. »Ich werde mich von nun an um Mr. Hill kümmern.«
Der Lieutenant straffte sich. »Es tut mir leid, Doktor, aber Commodore Travers hat mir befohlen, den … Mr. Hill zu seinem Quartier zu bringen und dafür zu sorgen, dass er es …«
»Er hat es bequem«, unterbrach Santos ihn erneut. »Sie haben doch gesehen, dass er das Gebäude erreicht hat. Und wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich um den Rest kümmern. Mr. Hill war zwei Tage lang in der Krankenstation eingepfercht. Wenn er einverstanden ist, würde ich ihn gern durch unseren bescheidenen Vorposten führen. Ich bin sicher, der Commodore wird nichts dagegen haben, und ich übernehme die volle Verantwortung für Mr. Hill.«
Harold hörte genau zu, während die Ärztin sprach. Als sie fertig war, seufzte er lediglich. Er wusste eindeutig, wann er geschlagen war – wann er sich dem höheren Rang beugen musste. »Na schön, Doktor. Wenn Sie etwas brauchen, können Sie mich über den Kommunikator erreichen.«
Während Harold lächelnd seine Niederlage bestätigte, stürmte das Wiedererkennen, das an Picard genagt hatte, an die Oberfläche. Während er den Lieutenant musterte, fügte er dem Gesicht im Geiste ein paar Strahlenverbrennungen zu und ließ es härter und verängstigt wirken. Nachdem er das Bild in seinem Kopf zusammengesetzt hatte, wusste er, wen er betrachtete: Lieutenant Matthew Harold, den einzigen Überlebenden des Gorn-Massakers auf Cestus III.
Doch statt der gehetzten Grimasse, an die er sich von Bildern des Überlebenden erinnerte, betrachtete der Captain nun ein lebhaftes junges Gesicht. Der Rest von Picards Erinnerungen bildete sich sofort neu. Er dachte an die Logbücher der Enterprise, das fast hysterische Gesicht Lieutenant Harolds, als er darauf beharrte, es müsse ›einen Grund‹ für das Entsetzliche geben, das er beobachtet hatte.
In Gedanken verloren, fuhr Picard leicht zusammen, als Santos das Wort an ihn richtete. »Ihre Crew … Sie müssen ihr nahe gestanden haben«, sagte sie sanft. Kurzzeitig verwirrt, drehte der Captain sich zu ihr um. Natürlich bezog sie sich auf den Verlust der Besatzung seines Handelsraumers. »Sie müssen sie vermissen«, fügte sie hinzu.
»Ja«, sagte Picard. Was der Wahrheit entsprach.
»Soll ich Sie ein anderes Mal herumführen?«, fragte sie.
»Keineswegs«, sagte der Captain. »Ich freue mich darauf.«
»Wir nähern uns dem Aexix-System, Sir«, meldete Worf.
»Wie viele Welten der Klasse M?«, fragte Riker.
»Den Sensoren zufolge handelt es sich bei dem zweiten Planeten und einem der Monde des fünften um Klasse-M-Welten.«
»Danke, Mr. Worf.« Der Erste Offizier wandte sich an Ro, die in dem Sessel saß, der normalerweise sein Platz war. Riker nickte leicht, und der Fähnrich sprang sofort auf.
»Mr. Halloran«, rief sie dem Mann am Steuerpult zu. »Kurs auf den zweiten Planeten nehmen. Behalten Sie die Warpgeschwindigkeit so lange wie möglich bei und gehen Sie dann mit einem Achtel Impulskraft in einen niedrigen Orbit. Sobald Lieutenant Worf meldet, dass er seine Scans abgeschlossen hat, beschleunigen Sie während einer Umkreisung auf ein Viertel Impulskraft und nehmen Kurs auf den Mond des fünften Planeten.«
Danach wandte Ro sich der Frau an der Funktionsstation zu. »Mr. Chang, rufen Sie die Daten der Stationen von Lieutenant Worf und Fähnrich Halloran auf und berechnen Sie, wie viel Zeit für die Scans und Manöver erforderlich ist.«
Chang machte sich sofort an die Arbeit. Keine Minute später drehte sie sich mit einem Ausdruck müder Befriedigung auf ihrem Gesicht um. »Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten, Sir.«
Riker wusste, dass unter anderen Umständen weniger als zwei Stunden für die erforderlichen Scans ein außergewöhnliches Ergebnis gewesen wäre. Doch in den letzten zwei Tagen war solch eine Leistung fast schon zur Routine geworden; dies hatte ihnen ermöglicht, acht Systeme direkt abzusuchen und zwei Dutzend andere mit den Fernsensoren zu eliminieren. Sie leisteten hervorragende Arbeit, hatten jedoch schon die Hälfte der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit verbraucht und erst etwa ein Fünftel des Suchgebiets abgedeckt.
Die Belastung war ebenfalls sehr groß. Die ständigen Sprünge auf Warpgeschwindigkeit und wieder hinaus und die schwierigen Manöver mit Impulskraft forderten ihren Tribut von der technischen Abteilung, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da weder Data noch Geordi an Bord des Schiffes waren.
Und die Mannschaft zeigte Anzeichen von Stress. Sowohl Halloran als auch Chang arbeiteten schon wesentlich länger als eine volle Schicht. Riker würde sie ablösen lassen müssen, sobald sie dieses System gescannt hatten.
Wenn die Funktionsstationen und das Steuerpult von nicht ausgeruhten Leuten besetzt waren, forderte man Schwierigkeiten geradezu heraus. Ein kleiner Rechenfehler oder eine langsame Reaktion konnte während eines Manövers mit hoher Impulsgeschwindigkeit im Anziehungsbereich eines Planeten katastrophale Folgen haben.
Und die beiden waren nicht die einzigen, die nicht ausgeruht waren. Riker wusste, dass er, Fähnrich Ro und Lieutenant Worf sich ebenfalls zu viel abverlangt hatten. Riker musste zur Kenntnis nehmen, dass seine Lider sich wie Sandpapier anfühlten. Und obwohl sie es nicht zeigten, war ihm klar, dass auch Ro und Worf unter der Belastung litten. Riker nahm sich vor, für jeden von ihnen abwechselnd vierstündige Ruheperioden anzuordnen. Der Klingone als erster, da er schon am längsten Dienst schob.
»Der Scan ist negativ, Sir«, meldete Worf verdrossen.
Riker schnappte Ros fast unhörbaren Fluch auf. Er hatte den Eindruck, dass der Fähnrich die Suche als persönliche Herausforderung und ihr bisheriges Scheitern als persönliche Beleidigung ansah – obwohl sie mit der Suche im Prinzip gar nicht einverstanden war. Riker war zufrieden, aber nicht überrascht. Er hatte gehofft, dass genau das geschehen würde.
Ro ging ans Steuerpult zu Halloran hinüber, blieb hinter dem Fähnrich stehen, während er die Kontrollen bediente, und legte als Zeichen der Anerkennung kurz eine Hand auf seine Schulter. Der amtierende Captain staunte darüber, wie geschickt sie mit der Crew umging und die Leute anspornte, ohne sie verrückt zu machen. Er hatte damit gerechnet, dass sie hart arbeitete – aber das überraschte ihn.
»Führen Sie das Beschleunigungsmanöver durch und nehmen Sie Kurs auf den fünften Planeten«, sagte Ro.
Ein paar Minuten später beobachtete Riker, wie der Planet auf dem Bildschirm hinter ihnen zurückblieb. Dann hieß es wieder warten, ein Zustand, der diese Mission mehr und mehr zu definieren schien. Lange Perioden der gespannten Erwartung wurden von kurzen Ausbrüchen der Aktivität gefolgt.
Diesmal währte das Warten jedoch kürzer, als Riker erwartet hatte.
»Prioritätsnachricht von Starfleet«, bellte Worf.
Verdammt, dachte der Erste Offizier. Das hatte er befürchtet. Was immer Starfleet Command vorzubringen hatte, es würde nichts Gutes sein.
Er war bereits aufgesprungen und stellte fest, dass Deanna und Ro sich ebenfalls erhoben hatten. Er drehte sich zu ihnen um. »Fähnrich, Counselor, hören wir uns an, was sie zu sagen haben.«
Kurz darauf saß Riker im Bereitschaftsraum des Captains und schaltete den Monitor ein. Sofort erschien Admiral Kowalskis Bild; der Gesichtsausdruck des Mannes bestätigte Rikers Befürchtungen.
»Commander, auf der Heimatwelt der Gorn ist eine Situation eingetreten, die wir als katastrophal erachten«, sagte der Admiral ohne jede Begrüßung.
»Inwiefern, Sir?«, fragte Riker.
»Die Regierung der Gorn wurde offen von einer Splittergruppe angegriffen, die der Vorstellung einer stärkeren Verbindung mit der Föderation feindselig gegenübersteht. Ich will nicht behaupten, dass ich sämtliche Feinheiten der gornschen Politik verstehe. Ehrlich gesagt haben wir keine Ahnung, wie ihre politische Maschinerie funktioniert.
Doch alle Berichte, die wir von unseren Kontaktleuten aus dem Machtbereich der Gorn bekommen, besagen dasselbe: Sollten die Herausforderer sich durchsetzen, könnte dies die völlig Auflösung des Friedensprozesses bedeuten. Und den Ausbruch von Feindseligkeiten mit der Föderation.«
Der Admiral seufzte, und einen Augenblick lang schien er vor Rikers Augen um Jahre zu altern. »Es ist unbedingt erforderlich, dass die Enterprise pünktlich bei dem Gipfel eintrifft. Sie haben drei Tage, keinen einzigen mehr. Und wenn die Lage sich weiterhin verschlechtert, werde ich Ihnen befehlen, die Suche abzubrechen und sofort zum Gipfeltreffen zu fliegen. Ist das klar?«
»Jawohl, Sir«, sagte Riker in ruhigem Tonfall. Abrupt wurde das Gesicht des Admirals durch das Föderationsemblem ersetzt, das das Ende der Übertragung anzeigte.
Der Erste Offizier suchte erneut nach jenem Gefühl der Sicherheit in seiner Magengrube, das ihm verriet, es sei richtig, die Suche fortzusetzen.
Diesmal dauerte es ziemlich lange, bis es sich einstellte.
Picard und die Ärztin schritten eine Weile schweigend aus. Dann führte Santos ihn fast bis zum Ende des Wohnbereichs innerhalb des Halbkreises der Gebäude des Vorpostens.
»Wie Sie sehen, befinden sich hier die Küche und die Speisesäle«, sagte sie.
Ein Schild auf der Außenwand des niedrigen Gebäudes wies deutlich auf den Speiseraum hin, wie es auch bei den Wohnräumen der Fall gewesen war. Dem Captain fiel auf, dass in diesem Bereich des Vorpostens der stärkste Fußgängerverkehr herrschte.
Des weiteren bemerkte er direkt hinter dem Speisesaal ein leicht erhöhtes Gebilde, das er als Phaserbank erkannte. Von seinen Nachforschungen her wusste er, dass sich am anderen Ende der halbkreisförmigen Anordnung eine weitere solche Einheit befand. Er wusste ebenfalls, dass die Phaserbänke beim bevorstehenden Angriff mit den ersten Salven vernichtet werden würden. Santos gab keine Erklärungen zu der Waffe ab, erwähnte sie nicht mal, und Picard vermutete, dass sie den Befehl erhalten hatte, nicht über die Verteidigungsmöglichkeiten des Vorpostens zu sprechen.
»Wenn Sie Hunger haben, könnten wir eine Kleinigkeit essen«, schlug sie vor. Picard stellte zu seiner Überraschung fest, dass er in der Tat hungrig war, und nickte bestätigend.
Santos führte ihn zum Eingang des niedrigen Betongebäudes. Vor ihnen ging ein junger Mann mit einer genauso jungen Frau – wahrscheinlich seiner Angetrauten. Ein kleines Mädchen, zweifellos ihre Tochter, ging zwischen ihnen und hielt die Hände seiner Eltern. Es kicherte und wurde von ihnen hin und her geschwungen.
Picard hatte natürlich gewusst, dass bei dem Angriff auch Kinder umgekommen waren – oder umkommen würden. Doch erneut überraschte es ihn unerklärlicherweise, tatsächlich ein Kind zu sehen.
»Es muss für ein Kind schwierig sein«, sagte er, während er innerlich zusammenzuckte, »hier aufzuwachsen.«
Santos nickte. »Manchmal schon. Aber wir sind nicht zart besaitet. Und auf Cestus Drei kommen wir wenigstens voran. Es gibt Kolonien, die ihre Ziele nie erreichen – und ein paar sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.«
Der Captain drehte sich zu ihr um. In seiner Zeit wurde eine Kolonie erst gar nicht gegründet, wenn sie keine vernünftige Aussicht hatte, ihre Ziele zu verwirklichen.
»Warum spielen sie dann mit?«, fragte er. »Warum bringen sie dieses Opfer, wenn keine Belohnung in Sicht ist, die ihrer Arbeit Bedeutung gibt?«
Die Ärztin räusperte sich. »Weil es so etwas wie ein bedeutungsloses Opfer nicht gibt, Mr. Hill. Weil jede positive Tat, ganz gleich, wie hoffnungslos oder unbedeutend, letztlich lohnend ist.«
Picard musste unwillkürlich lächeln. »Philosophie«, stellte er fest.
»Eines meiner Laster«, erwiderte sie.
Santos führte ihn ein paar Treppen hinab in einen offenen, ziemlich geräumigen Speisesaal. Die Tische waren symmetrisch in der Mitte angeordnet, und an den Außenwänden befanden sich kleinere Nischen mit Eckbänken darin. Die Bauweise war eher spröde, Betonschichten stützten die grauen Metallwände ab – aber die rechten Winkel und Schatten, die die Architektur definierten, sprachen den Captain an.
Der große Raum wirkte nicht besonders feinfühlig gestaltet. Statt dessen erweckte er den Anschein, von Menschen mit ihren eigenen Händen geschaffen worden zu sein. Mit Händen, die es gewagt hatten, einen Stützpunkt auf einem abgelegenen Planeten fern vom Mittelpunkt der Föderation zu errichten.
Die Ärztin ging zum Küchenbereich, wo menschliches Personal hinter der Theke arbeitete. Sie bestellte Hähnchenbrustfilet und ein Reisgericht, und Picard tat es ihr gleich. Dann folgte er ihr zu einer der Nischen, in denen kaum jemand saß.
»Die Mittagspause ist fast vorbei«, sagte Santos. »Die meisten Leute sind schon wieder an der Arbeit.«
Als der Captain sich setzte, stellte er fest, dass die Blicke der wenigen verbliebenen Speisenden auf ihn gerichtet waren. Zweifellos bekam diese geschlossene Gemeinschaft nur selten Besuch.
»Sie werden sich schnell an Sie gewöhnen«, sagte Santos, die seine Gedanken erahnt hatte. »In zwei Wochen wird die Sensorphalanx in Betrieb genommen. Aber bis dahin sind Sie das größte Ereignis, das wir seit Monaten gesehen haben.«
Picard kostete von seiner Mahlzeit und fand sie überraschend wohlschmeckend. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich bin beeindruckt. Ich hatte gedacht, ein vor knapp einem Jahr gegründeter Vorposten wäre noch von Fertignahrung abhängig.«
Santos lächelte. »Das ist nichts im Vergleich zu dem, was am Tisch des Commodores serviert wird. Er ist der Ansicht, dass man sich einfach nicht häuslich niederlassen kann, wenn man von Fertigrationen leben muss.«
»Ein sehr aufgeklärter Standpunkt«, erwiderte der Captain. In der Tat war Travers seiner Zeit um Jahre voraus. Erst, sobald die Replikatortechnik die Nahrungsmittelzubereitung vereinfachte, würden Familien ständig auf Raumschiffen leben – und Picard bezweifelte, dass es sich dabei um einen Zufall handelte. »Das würde meinem Vater gefallen. Er hat keine replizierte … ich meine, keine Fertignahrung im Haus geduldet.«
Sie beendeten die Mahlzeit in freundlicher Atmosphäre. Dem Captain gelang es ohne größere Probleme, mit der linken Hand zu essen. Dabei schaute er sich immer wieder um. Soweit er es sagen konnte, waren überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden. Nicht mal Schlösser an den Türen, was in dieser Gemeinde natürlich auch überflüssig war. Nach dem Abendessen, das – wie er erfuhr – von siebzehn bis neunzehn Uhr dreißig eingenommen werden konnte, ging das Küchenpersonal nach Hause. Danach, so erklärte Santos ihm, stand die Küche jedem Kolonisten offen, der sich selbst verpflegen wollte.
Erneut schien die Atmosphäre des Vertrauens, die in dem Vorposten herrschte, zu Picards Gunsten zu arbeiten. Er verspürte Gewissensbisse bei dem Gedanken, dieses Vertrauen ausnutzen zu müssen, doch er verdrängte sie sofort wieder. Später konnte er sich Zeit für Selbstvorwürfe nehmen, jetzt musste er sich auf seine Flucht konzentrieren.
Zweifellos bot die Küche ihm alles, was er benötigte, um außerhalb der Anlage zu überleben. Wasser und Nahrung bereiteten ihm die größten Sorgen. Und der Captain war überzeugt, dass es in den Lagerräumen trotz der persönlichen Vorlieben des Commodores auch Nahrungskonzentrate gab.
Natürlich würde das in Starfleet obligatorische Überlebenstraining es ihm ermöglichen, sich auch eine Weile ohne Vorräte durchzuschlagen. Doch wenn er Rationen für zwei oder drei Tage mitnahm, würde er schneller vorankommen, ohne ständig anhalten zu müssen, und konnte damit eine so große Entfernung wie möglich zwischen sich und den Vorposten bringen, bevor es zu dem Angriff kam.
Picard hatte sich bereits den Phaser und den Tricorder angeeignet, mit dem er alle Verfolger aufspüren konnte. Ja … wenn es ihm gelang, sich nach der Essenszeit ein paar Vorräte zu beschaffen, würde er noch in dieser Nacht seine Flucht antreten können.
Er und Santos beeilten sich mit dem Essen. Die Ärztin konnte es kaum abwarten, die Führung fortzusetzen, und zeigte eine Begeisterung, die der Captain sehr charmant fand. Als sie wieder draußen waren, ging sie schwungvoll und energisch voran. Sie freute sich eindeutig, ihm ihre Heimat zeigen zu können.
»Das ist der Wohnbereich, den Sie bereits gesehen haben. In den unteren Ebenen finden Sie auch die Lagerräume des Vorpostens. Wenn Sie Decken, Kleidung oder Unterhaltungsbänder brauchen, können Lieutenant Harold oder ich Ihnen zeigen, wo Sie sie finden.«
Sie schritten den Halbkreis bis zu seiner Mitte ab, gingen an der Lebenserhaltung vorbei und gelangten dann zu den beiden großen Kugeln, die auf etwa vier Meter hohen Sockeln ruhten. »Und das sind unsere …«, begann Santos.
»Sensorrelais«, unterbrach Picard sie. »Ich bin mit der Technik vertraut. Ich hätte nur nicht erwartet, sie einmal … aus solcher Nähe zu sehen.«
Die Ärztin zeigte auf eine Stelle ein Stück weiter am Halbkreis. »Dort ist die Sensoranalyse-Abteilung untergebracht. Und dahinter finden Sie die wissenschaftlichen Abteilungen. Wenn Sie wollen, können Sie sie morgen besichtigen. Jetzt möchte ich Ihnen noch etwas anderes zeigen, bevor ich mir selbst einen Verweis erteilen muss, weil ich meinen Patienten überanstrengt habe.«
Santos deutete auf zwei große Gebäude, die mehr oder weniger an einer imaginären Linie lagen, die von den beiden Endpunkten des Halbkreises weiterführte. »Sehen Sie die?«, fragte sie. »In dem einen sind die Verwaltungsbüros untergebracht, das andere ist ein weiteres Lagerhaus.«
Picard wusste, dass das ›weitere Lagerhaus‹ in Wirklichkeit die Waffenkammer war, verstand aber, warum die Ärztin das nicht erwähnte. Sie bezeichnete ein drittes, niedrigeres Gebäude als ›technische Einrichtung‹, aber ihm war bekannt, dass es sich um den Fusionsreaktor handelte, der den Strom für die Routinefunktionen der Kolonie lieferte.
Dann zeigte Santos auf die niedrigen Berge, die man hinter den drei Gebäuden in der Ferne ausmachen konnte. »Dort hat man Sie gefunden, zwischen jenen Hügeln. Leider sind sie instabil und anfällig für Erdrutsche. Bei einem davon wurden Sie verletzt.«
Dieselben Hügel, überlegte Picard, in denen die Gorn vor dem Auftauchen von Captain Kirk und seinem Landetrupp Stellung bezogen hatten. Die Invasoren waren zum Rückzug gezwungen gewesen – oder besser gesagt, würden gezwungen sein –, als Kirk das Gebiet mit einer Plasmagranate unter Beschuss genommen hatte. Der Captain vermutete, dass sein verschwundener Kommunikator bei der Explosion vernichtet werden würde.
Das war ihm nur recht. Der Kommunikator wäre für ihn nur nützlich gewesen, wenn jemand das Signal hätte empfangen können – aber das war natürlich nicht der Fall. Picard hätte sogar mit dem Gedanken gespielt, das Gerät zu bergen, hätte irgendeine Aussicht bestanden, es als Markierung für Commander Riker oder ein zukünftiges Starfleet-Schiff zu verwenden, doch er wusste, dass dieser Versuch sinnlos war. Obwohl er immer darauf geachtet hatte, dass sein Kommunikator über volle Energiereserven verfügte, bestand keine Aussicht, dass die Ladung für einhundert Jahre reichte.
»Und nun«, nahm Santos den Faden wieder auf, »ist es nur noch ein kleiner Spaziergang zu unserer Sensorphalanx. Das ist die Hauptattraktion hier in der Gegend.«
Einen Moment lang spielte Picard mit dem Gedanken, Müdigkeit vorzuschieben und ihr den Wunsch abzuschlagen. Er konnte die Zeit gut nutzen, um letzte Pläne zu schmieden und Lebensmittel aus der Küche zu holen. Doch es fiel ihm schwer, die Ärztin zu enttäuschen, ihr das Vergnügen zu nehmen, ihm etwas zu zeigen, das sie für wichtig hielt. Außerdem wollte er nicht den Argwohn seines einzigen Verbündeten im gesamten Vorposten erregen.
»Und wo sind Sie zu Hause, Mr. Hill?«, fragte Santos, als sie zwischen den Leuchtfeuern der Sensoren auf die Außenseite des Halbkreises gingen, der die Anlage bildete. »Ich meine, woher stammen Sie, bevor Sie das All zu Ihrem Zuhause gemacht haben?«
»Ist das so offensichtlich?«, fragte der Captain.
Sie nickte. »Wenn man weiß, wonach man suchen muss. Mein Vater hat auf einem Handelsschiff gedient. Er hat den Großteil seines Lebens auf Frachtern verbracht. Selbst wenn er bei uns war, hatte man den Eindruck, er sei gleichzeitig irgendwie ganz weit weg. Bei Ihnen scheint mir das auch der Fall zu sein, Mr. Hill. Manchmal sind Sie wirklich Lichtjahre weit weg. Doch im Gegensatz zu meinem Vater haben Sie wenigstens den Anstand, bei einer höflichen Konversation zu antworten.«
Er kicherte. »Sie kennen mich schon gut, Doktor.«
»Bitte nennen Sie mich Julia, Mr. Hill. Nur die Kinder und die Frischlinge unter den Fähnrichen nennen mich Doktor, und das auch nur, weil ich sie noch nicht abgerichtet habe. Und natürlich der Commodore – aber er ist wohl eine Klasse für sich.«
»Sie mögen Commodore Travers nicht«, stellte Picard fest.
Sie zuckte mit den Achseln. »Um ganz ehrlich zu sein, nein. Ich halte ihn für einen guten Kommandanten und respektiere ihn in dieser Hinsicht, bin aber der Ansicht, er könnte … nun ja, freundlicher sein.« Santos runzelte die Stirn, als sie dies sagte.
Der Captain sah sie an. »Doktor … bitte nennen Sie mich Dixon.« Es kam ihm absurd vor, ihr anzubieten, ihn mit dem Vornamen anzusprechen, wenn es sich gar nicht um seinen richtigen handelte. Aber auch ›Mr. Hill‹ war nicht sein wirklicher Name, und das klang noch absurder.
Santos' düstere Miene hellte sich auf. »In diesem Fall … Dixon … darf ich Ihnen zeigen, weshalb wir hier sind?« Sie hatten die höchste Stelle eines kleinen Hügels erreicht. Die Ärztin zeigte auf die Sensorphalanx direkt unter ihnen. Es war unglaublich. Miteinander verbundene Kugeln von vielleicht jeweils zwei Metern Umfang bildeten einen großen Kreis von mindestens einem halben Kilometer Durchmesser.
Der Anblick nahm Picard den Atem. Er hatte im Weltraum größere Phalangen gesehen, doch wenn man im All ein Objekt auf einem Bildschirm betrachtete, fehlte irgendwie der menschliche Maßstab.
Hier jedoch war er überwältigt. Und der Gedanke, dass all das von menschlichen Händen errichtet worden war …
»Ein Auge, das den Himmel absucht«, versetzte Santos. »Das Modernste vom Modernen. Eine der größten planetaren Phalangen in der Föderation, und mit Sicherheit die höchstentwickelte. Von hier aus können wir tiefer in das nicht kartographierte All schauen als irgend jemand sonst in der bekannten Galaxis. Wir werden Raumschiffen den Weg bahnen, indem wir von hier aus ferne Sonnensysteme betrachten, und wahrscheinlich Subraumfernkontakt mit unbekannten Rassen herstellen.« Die Ärztin lächelte selbstbewusst. »Verzeihen Sie mir meinen Stolz«, fuhr sie dann fort, »aber was auch immer da draußen ist, wir werden es als erste finden.«
»Das ist mit Sicherheit eine Leistung, auf die man stolz sein kann«, pflichtete der Captain ihr bei. Sie beide genossen den Anblick einen Moment lang schweigend. Picard machte rechts von der Phalanx den Bunker aus, in dem sich die Materie-Antimaterie-Energiequelle befand – praktisch ein stationäres Warptriebwerk –, die die gesamte Anlage betrieb. Nach den Maßstäben des vierundzwanzigsten Jahrhunderts war die Apparatur eine Antiquität, ein Fossil. Doch für diese Leute symbolisierte sie ihre höchsten Ambitionen – den Gipfel der menschlichen Errungenschaften. »Wirklich außergewöhnlich.«
»Noch ein paar Probedurchläufe, und wir können es in Betrieb nehmen«, sagte Santos zu ihm. »Höchstens noch ein paar Wochen, schätzen die Fachleute.«
Die reinste Ironie, dachte Picard. Wäre die Phalanx früher in Betrieb genommen und ihre Leistung etwas verstärkt worden, hätte sie die Gorn-Zivilisation wahrscheinlich entdeckt. Er konnte sogar in diesem Augenblick den Vorschlag machen, die Energiezufuhr zu erhöhen, sich einen unabdingbaren Grund einfallen lassen, der Travers zum sofortigen Handeln zwang. Mit den Verteidigungswaffen der Kolonie konnte die Tragödie dann vermieden werden, und Santos und die anderen Kolonisten würden nicht sterben müssen.
Das verbot natürlich die Erste Direktive. Und selbst, wenn er die Vorschriften bezüglich der Nichteinmischung außer Acht ließ, gab es zu viele andere Gründe. Sollte das Massaker vermieden werden, würde Captain Kirk keine Gelegenheit bekommen, den Disput im Zweikampf mit dem Captain der Gorn beizulegen. Picard hätte dann keine Grundlage für seine erste Begegnung mit den Gorn, und der bevorstehende Gipfel würde niemals stattfinden. Statt dessen hätten die Gorn bei ihrem ersten Kontakt mit der Föderation vielleicht einen richtigen Krieg begonnen. Die möglichen Verwüstungen und Verluste an Menschenleben waren unabsehbar.
Nein, der Captain durfte sich auf keinen Fall einmischen und musste die Geschichte ihren Lauf nehmen lassen. Santos und die anderen mussten sterben, damit aus ihrer Tragödie eines Tages Frieden erwachsen konnte. Intellektuell verstand Picard die Situation ganz genau. Die Frage war nur … warum fühlte sie sich so verdammt falsch an?
Die Ärztin drehte sich zu ihm um. Freude erhellte ihr Gesicht und ließ ihre grünen Augen noch grüner wirken. »Wir sind Forscher, Dixon. Und in zwei Wochen leiten wir eine ganz neue Phase der menschlichen Erkundung in die Wege. Sie haben das Glück, hier sein und es miterleben zu dürfen.«
Die Aufregung in ihrer Stimme schien eine Antwort zu verlangen, oder zumindest eine Bestätigung ihrer Auffassung. Aber Picard brachte einfach kein Wort über die Lippen und nickte nur.
Santos deutete sein Schweigen falsch. »Kommen Sie«, sagte sie. »Ich zeige Ihnen den Kontrollraum. Chefingenieur Hronsky wird zwar zu tun haben, aber ich vermute, er möchte Sie gern kennenlernen, besonders, da Sie über technische Fähigkeiten verfügen.«
Sie führte ihn den Hang zu einem kleinen, rechteckigen Gebäude hinab – das einzige nicht gekennzeichnete, wie der Captain bemerkte. Wahrscheinlich deshalb, weil niemand sich irren und es für etwas anderes als das halten konnte, was es war.
Sie betraten es und gingen eine Treppe zur Hauptetage mit den Sensorkontrollen hinab. Picard stellte fest, dass die Treppe noch tiefer führte – wie bei den anderen Gebäuden des Vorpostens war auch hier der Großteil der Einrichtungen unterirdisch angelegt. Der Captain wusste, dass diese unteren Etagen den Materie-Antimaterie-Reaktor beherbergten, der die Sensorphalanx mit Energie versorgte.
Im Kontrollzentrum herrschte rege Aktivität. Etwa zwei Dutzend Leute arbeiteten in, unter und an verschiedenen Kontrollpulten, von denen einige noch zusammengesetzt wurden.
Niemand schien ihnen Beachtung zu schenken, als Dr. Santos den Captain durch das Labyrinth der Menschen und Geräte führte. Sie blieb stehen, um einen Lieutenant zu fragen, wo Hronsky sei, und der junge Mann warf Picard einen schnellen, nervösen Blick zu, bevor er auf einen zwei Meter hohen Laufsteg im hinteren Teil des Raums zeigte.
Picard und die Ärztin bahnten sich den Weg zum anderen Ende; dort stieg die Ärztin die Leiter zum Laufsteg hinauf und bedeutete dem Captain, ihr zu folgen. Oben erteilte ein stämmiger Mann mit dem Rangabzeichen eines Lieutenant Commanders zwei Untergebenen Anweisungen. Santos ging zu dem Mann und unterbrach das Gespräch mit einem schnellen: »Verzeihung, Michael.«
Der Lieutenant Commander hob die Hand und verstummte. Dann bedachte er die Ärztin mit einem gequälten Lächeln unter seinen dunklen, buschigen Brauen. »Ja, Julia?«
Sie zeigte auf Picard. »Michael Hronsky, ich möchte Ihnen gern unseren neuen Gast vorstellen, Captain Dixon Hill.«
Der Mann richtete seine Aufmerksamkeit auf den Captain. Einen Moment lang verriet Hronskys Gesicht echte Überraschung. »Captain Hill«, murmelte er.
»Michael, was ist hier los? Sie und Ihre Leute scheinen ja geradezu zu rotieren«, stellte Santos fest.
Hronsky hielt den Blick auf Picard gerichtet, als er antwortete. »Äh, Julia … könnte ich kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«
Bevor die Ärztin antworten konnte, wandte der Mann sich direkt an Picard. »Es tut mir leid, Captain Hill, aber ich muss allein mit der Dr. Santos sprechen. Einer meiner Leute wird Sie hinausführen.«
Ein Fähnrich, der neben Hronsky stand, bedeutete dem Captain, die Leiter wieder hinabzusteigen. Unten angelangt, führte er Picard dann durch den Kontrollraum – und wartete dann mit ihm in unbehaglichem Schweigen, bis Santos wieder auftauchte.
Ihr Gesicht war ausdruckslos, was der Captain nun als Anzeichen dafür erkannte, dass sie aufgebracht war. Als sie näher kam, sah er feine Fältchen an ihren Mundwinkeln.
»Es tut mir leid, Dixon. Offensichtlich haben die Techniker sehr viel zu tun. Vielleicht können wir diesen Teil des Vorpostens zu einem späteren Zeitpunkt besichtigen.«
Sie machte keine weiteren Ausführungen, doch das war auch nicht nötig. Hronskys Gesichtsausdruck hatte Picard alles verraten, was er wissen musste. Er stand dem Neuankömmling ähnlich misstrauisch gegenüber wie anfangs auch Lieutenant Harold: Es konnte sich um einen möglicherweise gefährlichen Eindringling handeln. Zweifellos hatte Commodore Travers bereits mit ihm gesprochen.
Außerdem konnte der Captain gar nicht entrüstet über den Argwohn sein, mit dem man ihn betrachtete. Schließlich war er ein verdammter Eindringling, oder etwa nicht? Einer, der für die Föderation genauso gefährlich war wie die Streitmacht der Gorn, die wahrscheinlich schon außerhalb des Sonnensystems zusammengezogen wurde.
Picard machte sich vielmehr Sorgen über die fast fieberhafte Aktivität im Kontrollraum der Sensorphalanx. Die Techniker kamen ihm nicht wie ein Team vor, das zur Erfüllung ihrer Aufgabe noch vierzehn Tage Zeit hatte, und das warf eine Reihe von Fragen auf.
Picard und die Ärztin kehrten schweigend zum Wohnbereich zurück. Sie führte ihn zu seiner Tür, 11-H, und zeigte auf die nebenan, hinter der Lieutenant Harold vorübergehend Quartier bezogen hatte.
»Wenn Sie irgend etwas brauchen«, sagte Santos, »können Sie Ihr Computerterminal fragen, Dixon. Oder rufen Sie Lieutenant Harold. Oder rufen Sie mich.«
Der Captain lächelte. »Danke. Aber ich werde mich wohl erst einmal ausruhen.« In Wirklichkeit hatte er vor, sich aus der Küche ein paar Vorräte zu besorgen und dann die Lagerräume des Vorpostens auf der untersten Ebene des Wohnbereichs zu durchsuchen. »Auf Wiedersehen, Julia. Danke für die Führung.«
Völlig unabsichtlich hatte er sie beim Vornamen genannt. Der Ärztin schien es zu gefallen.
»Morgen gibt es noch mehr zu sehen, falls Sie sich dem gewachsen fühlen«, erwiderte sie.
»Ich freue mich darauf«, versicherte Picard ihr. Als sie sich abwandte und ging, betrat er sein Quartier und schloss die Tür hinter sich. Ein paar schnelle Blicke verrieten ihm, dass der Raum bequem war, relativ groß … und besetzt.
Lieutenant Harold sprang auf. Er hatte an dem kleinen Schreibtisch gesessen, auf dem das Computerterminal stand. »Äh … Mr. Hill … tut mir leid, wenn ich einfach so eingedrungen bin, aber ich wollte mit Ihnen sprechen.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Picard. »Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?« Er bedeutete Harold, sich zu setzen, und nahm dann selbst hinter dem kleinen Allzwecktisch neben dem Sekretär Platz.
Der junge Mann runzelte die Stirn. »Nun ja, Sir, ich wollte Ihnen ein paar Fragen über die Handelsflotte stellen.«
Der Captain schaute Harold befremdet an. »Wollen Sie Ihre Laufbahn aufgeben?«
»Tja, das nicht gerade«, sagte der Lieutenant. »Ich bin nur neugierig, wie es dort so vor sich geht.« Er schaute unbehaglich drein, als sei schon allein die Vorstellung, Starfleet zu verlassen, Hochverrat.
»Auf diesem Vorposten kann man nicht gerade sehr viel erleben, nicht wahr?«, fragte Picard.
Harold reagierte auf den verständnisvollen Tonfall und entspannte sich ein wenig. »Tja, es ist schon sehr interessant hier, vom wissenschaftlichen Standpunkt gesehen. Sobald wir die Sensorphalanx in Betrieb genommen haben, werden wir jede Menge Daten sammeln. Aber ich bin kein großer Wissenschaftler. Als ich zu Starfleet ging, hoffte ich, richtige Forschungsarbeit leisten zu können. Womit ich nicht sagen will, dass unsere Arbeit hier unwichtig ist«, fügte er schnell hinzu. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie für mich die richtige ist.«
Der Captain wusste nur allzu gut, wie der Lieutenant sich fühlte. »Haben Sie versucht, sich für den Dienst auf einem Raumschiff zu bewerben?«
Harold lächelte tatsächlich. »Seit ich meinen Abschluss machte, etwa zweimal pro Monat.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber es werden nicht gerade viele Stellen frei.«
Natürlich, dachte Picard. In dieser Zeit waren nur zwölf Schiffe der Schweren-Kreuzer-Klasse im Dienst. Daher standen nicht einmal fünftausend der begehrten Plätze an Bord der Schiffe zur Verfügung, die an vorderster Linie die Erforschung des Weltraums betrieben. In seiner eigenen Epoche gab es beträchtlich mehr Gelegenheiten; aber da war die Föderation natürlich auch größer geworden, und es herrschte noch immer ein starker Konkurrenzkampf um Posten auf Raumschiffen.
Hätte die Starfleet-Akademie seine zweite Bewerbung abgelehnt, wäre er wahrscheinlich zur Handelsflotte gegangen. Wäre er ein paar Jahre lang auf einer Starbase eingesetzt worden, ohne Hoffnung auf ein Raumschiff versetzt zu werden, wäre er wohl ebenfalls zur Handelsflotte gegangen.
»Wahrscheinlich würde Ihnen der Dienst auf einem Frachter genauso stumpfsinnig vorkommen«, sagte er schließlich.
Harold räusperte sich. »Verzeihung, Sir, aber dann bin ich wenigstens im Weltraum.«
»Das stimmt«, gab der Captain ihm recht. »Aber hier sind Sie der wahren Grenze um einiges näher.«
»Mr. Hill«, sagte der Lieutenant, »ich bin zu Starfleet gegangen, um zu sehen, was da draußen ist. Um erste Kontakte mit anderen Rassen herzustellen. Um an etwas mitzuwirken. Bislang habe ich nur mit Menschen zusammengearbeitet. In meiner gesamten Starfleet-Karriere habe ich lediglich zwei Vulkanier und einen Tellariten kennengelernt. Als Kind habe ich zu den Sternen hinaufgeschaut und den Entschluss gefasst, die Leute kennenzulernen, die dort oben leben. Wenn ein Posten in der Handelsflotte mir das ermöglicht, werde ich mich eben um einen solchen bemühen.«
Picard hätte Harold gern versichert, am besten sei ihm gedient, wenn er bei Starfleet bliebe, aber er wollte ihn nicht belügen. Es war durchaus möglich, dass ein Offizier während seiner gesamten Laufbahn lediglich auf verschiedenen Vorposten stationiert wurde. Schließlich erzählte der Captain ihm, was er über die Handelsflotte wusste. Er hatte mehr als nur einen Commander eines Handelsraumers gekannt und konnte also ein ziemlich genaues Bild zeichnen.
Dem Captain war jedoch klar, dass seine Ratschläge wahrscheinlich sowieso keine große Wirkung haben würden. Lieutenant Harolds Laufbahn würde von einem Angriff, der lediglich zwei Tage entfernt war, geformt und fast beendet werden. Picard konnte nur hoffen, dass nicht schon seine bloße Ankunft die Geschichte irgendwie minimal verändert hatte, so dass Matthew Harold diesmal nicht überleben würde.
Doch selbst wenn die Geschichte ihrem Lauf folgte, hatte Picards Studium des Massakers ihm leider nicht verraten, was später aus dem Lieutenant geworden war. Ohne Kenntnisse über seine Zukunft konnte Picard nur hoffen, dass Harolds erster ›Erstkontakt‹ nicht seinen gesamten jugendlichen Idealismus zerstörte.