I m chaotischsten Teil des Archivs, dort, wo die Akten wie Kraut und Rüben durcheinanderlagen, stieß Tom auf einen schmalen Ordner, auf dessen Rücken nichts geschrieben war. Er war voller Ausschnitte aus den Gesellschaftsteilen verschiedener Zeitungen und Zeitschriften. Alle zeigten Dr. Stotz an der Seite einer sehr attraktiven jungen und dunkelhaarigen Frau: Melody. An Empfängen, an Premieren, an Vernissagen und Bällen.
Einer der Beiträge zeigte das Paar bei den Pferderennen auf dem St. Moritzersee. Es posierte zusammen mit anderen Paaren, die Champagnergläser auf das Siegerpferd und dessen Jockey erhoben, im Hintergrund der zugefrorene See und der tief verschneite Wald. Die Bildlegende zählte die Namen dieser Prominenz aus Finanz, Wirtschaft und Politik auf und den des Pferdebesitzers. Neben allen stand »mit Gattin«. Nur neben Nationalrat Dr. Stotz stand »mit seiner sehr jungen Verlobten Melody Alaoui«.
Eine halbe Stunde vor dem Aperitif brachte Tom den Ordner zu Dr. Stotz in dessen Büro. »Wie soll ich damit verfahren?«, erkundigte er sich.
Dr. Stotz schlug das Dossier auf. »Ach«, stieß er aus, und sein Gesicht nahm Farbe an, »das hatte ich überall gesucht.«
»Nicht ganz überall«, bemerkte Tom.
»Komm, schau«, befahl Dr. Stotz und nötigte Tom, den Bürostuhl neben seinen zu rollen. An jeden Anlass erinnerte er sich und beschrieb ihn, den einen flüchtig, den anderen ausführlich und manchen anekdotisch.
Zum White Turf in St. Moritz erzählte er: »Sie war wahrscheinlich die einzige Frau auf der Tribüne ohne Pelzmantel. Dabei hatte ich ihr einen Nerz geschenkt, einen fast bodenlangen. Melody hatte sich artig dafür bedankt. Aber getragen hat sie ihn nie. Ja, so war sie.«
Zweimal kam Roberto, um sie zu Tisch zu bitten. Beide Male bat Dr. Stotz um »noch zehn Minuten«. Erst als er alle Presseausschnitte kommentiert hatte, gingen sie zum Mittagessen. Eine halbe Stunde zu spät.
»Tutto freddo«, brummte Mariella.
Den Ordner behielt Dr. Stotz bei sich.
»Morgen werde ich nicht hier zu Mittag essen, Mariella«, sagte Tom beiläufig beim Frühstück.
Sie sah ihn entsetzt an. »Morgen? Morgen gibt es Burrata mit Auberginen, Zucchini und Paprikaschoten. Und dann Risotto agli asparagi, mit weißen Spargeln, frischen Morcheln und Erbsen!«
»Das klingt wunderbar.«
»Eben.«
»Aber ich habe einen Termin.«
»Ho capito. Una donna.«
Tom nickte und ließ die einzige Entschuldigung, die Mariella akzeptierte, gelten.
»Aber zum Kaffee mit dem Dottore sind Sie zurück.«
Tom aß zu Mittag einen Döner und schlug in einem Café die Zeit tot, bis er pünktlich wieder in die Villa Aurora zurückkehrte.
Dr. Stotz begrüßte ihn mit den Worten: »Jetzt hast du wirklich etwas verpasst.«
Die Kartons im Kellerkorridor füllten sich, gewisse Jahre stapelten sich sogar, weil die Unterlagen in einem einzigen keinen Platz fanden.
1974 zog etwas mehr Ordnung ein. Es war das Jahr, in dem Stotz Partner wurde bei Streun & Partner. Der Name einer Viola Schneider tauchte auf, zu Stotz’ neuem Status gehörte nun offenbar eine Sekretärin. Sie legte Ordner an. Einem davon konnte Tom nicht widerstehen: PS privat .
Auf dem linierten Inhaltsblatt stand der Vermerk »Private Dokumente, nicht zur Ablage bestimmt. VS «.
Der Ordner enthielt Handschriftliches auf Fresszetteln, Papierservietten, Bierdeckeln und allem Möglichen. Die Schrift war unverkennbar die von Stotz, einfach etwas sicherer als heute.
Alle Papiere waren seitlich gelocht und in die Ringmechanik eingefügt. Tom blätterte sie durch.
Restaurantrechnungen mit Dr. Stotz’ Vermerk »PS priv.«, Adressen, Namen, Stichworte, Telefonkritzeleien, Zeitungsausrisse, Theaterkarten, Taxiquittungen, die zerknüllt und wieder geglättet waren, diagonal durchgestrichene Visitenkarten. Alles eben, was sich so ansammelt und man nicht ablegen, aber auch nicht wegschmeißen will.
Zwischen all diesen Zetteln, Papieren und Fetzen war ein gelber Umschlag eingereiht. Er war zugeklebt und trug Stotz’ Aufschrift »Persönlich und vertraulich«. Einen Moment war Tom versucht, ihn zu öffnen. War es nicht sein Auftrag, alles zu sichten und zu entscheiden, was zum Bild gehörte, das Dr. Stotz der Nachwelt von sich hinterlassen wollte?
Aber dann sah er davon ab. Vielleicht enthielt der Umschlag allzu Privates, das er gar nicht wissen wollte.
Beim Kamingespräch nach dem Mittagessen ließ Tom beiläufig den Namen Viola Schneider fallen.
»Ach, die Violine.« Dr. Stotz lächelte. »Auf die bist du jetzt gestoßen.«
»Ja, vierundsiebzig hat sie sich Ihrer Unterlagen angenommen.«
»Stimmt. Sie war sehr ordentlich. Nicht sehr begabt, aber sehr ordentlich. Ich hätte sie behalten. Aber sie hat sich verliebt und ist nach – ich glaube – Schweden verschwunden. Sie hat alles abgelegt, konnte nichts wegschmeißen. Das ist wie eine Krankheit. Sie war … sie war ein ordnungsliebender Messie. Seltsames Geschöpf, Viola. Ich gab ihr den Spitznamen ›Violine‹. Erst als sie bereits gekündigt hatte, gestand sie mir, dass dies schon in der Schule ihr Spitzname gewesen war.«
Die Gelegenheit war zu günstig, um nicht auf das Thema zu kommen: »Sie hat auch einen Ordner angelegt: PS privat .«
»Das wundert mich nicht. Wahrscheinlich mit allem, was ich aus Versehen nicht weggeschmissen habe.«
»Ja, genau. Aber da gibt es auch Sachen, auf die Sie geschrieben haben: ›Persönlich und vertraulich‹.«
Dr. Stotz stellte das Glas ab, das er gerade an die Lippen führen wollte. »Zum Beispiel?«
»Ein gelber Umschlag, zugeklebt.«
»Hast du ihn geöffnet?«
»Noch nicht. Ich wollte Sie zuerst fragen, wie ich mit solchen Sachen verfahren soll.«
»Nicht öffnen und mir bringen«, antwortete Stotz knapp.
Er wechselte das Thema und mit dem Thema auch den Ton.
EINES TAGES, ALS ich von der Arbeit kam, fand ich Melody unangemeldet hier im Haus vor. Ich freute mich über die Überraschung, merkte jedoch schnell, dass sie bedrückt war.
»Ist etwas passiert?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Eltern sind nicht mehr da. Eine Nachbarin, die ab und zu in die Buchhandlung kommt, hat mir erzählt, dass vor einer Woche ein Möbelwagen mit marokkanischem Nummernschild vor dem Haus gestanden habe. Als sie meine Mutter fragte, wohin sie umziehen, habe sie gesagt: ›Nach Hause.‹«
Ich nahm sie in die Arme, und sie weinte ein wenig.
»Du bist ja längst verschoben«, versuchte ich sie zu trösten.
Ihr Lachen klang wie ein kleiner Schluchzer. »Aber es macht das Endgültige noch endgültiger.«
Wir spazierten zum Seeblick, dem Restaurant hier in der Nähe, von dem aus man noch nie Aussicht auf den See hatte – noch nicht mal, als es gerade neu erbaut war – und das jetzt eine kleine Altersresidenz geworden ist.
Beim Essen sagte sie: »Meine Mutter wollte immer, dass sich mein Vater frühzeitig pensionieren lässt, aber er wollte das nicht. Jetzt muss sie ihn überredet haben. Er hat resigniert.«
Nach einer nachdenklichen Pause fügte sie hinzu: »Bestimmt ist das meine Schuld.«
Von da an sprach sie nie mehr von ihren Eltern. Sie arbeitete noch mehr als vorher, las aufmerksam alle Neuerscheinungen, die von den Verlagen geschickt wurden, und wurde bald vom alten Inhaber zur Chefeinkäuferin befördert.
Wir waren nun zwei überbeschäftigte Berufstätige, die ihre Treffen sorgfältig vorausplanen mussten.
Wenigstens war das Hochzeitsthema kein Tabu mehr. Das Datum blieb es zwar, aber wir sprachen jetzt über Ort und Jahreszeit und Größe.
Ich schlug das Schloss Felsau vor, aber Melody fand es nach der Besichtigung zu großkotzig.
»Nicht kotzig, nur groß. Es muss eine große Hochzeit werden. Ein gesellschaftlicher Anlass. Das erwartet man von mir.«
Sie küsste ihre Fingerbeeren und blies mir den Kuss zu. »Ich nicht. Ich erwarte etwas Kleines von dir. Etwas Intimes.«
Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss. Fünfzig Gäste. Und als Ort wählten wir das Zunfthaus. Das hatte Stil, eine gute Küche, und der bis zur Decke getäfelte Saal, der Platz für hundert Menschen bot, sah mit einem Fünfzigertisch fast noch eleganter aus.
Wir sprachen auch über das Ziel der Hochzeitsreise. Mein Vorschlag, dass sie mir doch ihre Heimat Marokko zeigen könne, war nicht ganz ernst gemeint und wurde von ihr auch nicht ernst genommen.
Ich schlug die Seychellen vor, die wenige Jahre zuvor unabhängig geworden waren und sich bemühten, zu einer Tourismusdestination zu werden. Melody war überraschend schnell einverstanden.
Unsere Hochzeit nahm Form an. Erst als ich auf die Kirche zu sprechen kam, geriet die Planung ins Stocken. Ich schlug St. Peter vor, nicht zu groß, aber doch ein Wahrzeichen.
Aber Melody schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Wir können doch nicht kirchlich heiraten, Peter.«
Meine Verblüffung musste absurd gewirkt haben. Über dieses Thema hatten wir noch nie gesprochen, und ich hatte auch noch nie darüber nachgedacht, dass das ein Problem sein könnte.
Bestimmt war ich rot geworden. »Selbstverständlich«, sagte ich, oder vielleicht stammelte ich sogar ein wenig, »das müssen wir natürlich besprechen.«
Melody hatte meine Reaktion mit einem amüsierten Lächeln beobachtet. Jetzt sagte sie: »Besprechen? Ziehst du denn in Erwägung, zum Islam zu konvertieren?«
Ich lachte, vielleicht etwas zu laut, als hätte sie einen guten Witz gemacht. Aber sie hatte ihr Lächeln abgelegt und wartete, bis ich wieder ernst wurde.
Ich sagte, wohl etwas kleinlaut: »Das ist ein Problem, nicht?«
»Nein«, antwortete Melody, »für mich nicht.«
»Gott sei Dank«, sagte ich und gab ihr einen Kuss.
»Ich hoffe, für dich auch nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. Und fragte mich, weshalb sie denken könnte, es sei eines.
Bei ihrem nächsten Satz wurde es mir klar: »Das Praktische daran ist auch, dass dein Zunfthaus gleich neben dem Standesamt liegt.«
Melodys Lösung war also, dass keiner von beiden konvertierte und wir nur standesamtlich heirateten.
Für mich war es keine Glaubensfrage, ich war längst nicht mehr gläubig. Es war eine gesellschaftliche.
So unmöglich es war, zum Islam zu konvertieren, so problematisch wäre es damals für einen wie mich gewesen, sich nicht kirchlich trauen zu lassen. Ich wechselte das Thema und mied es in Zukunft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Melody die Heirat an dieser Frage scheitern lassen würde.
Aber verzögern schon. Wir waren nun schon über anderthalb Jahre verlobt, und schon genauso lange war die Hochzeit geplant. Aber dem Datum wich Melody konsequent aus. Und mir als Liebhaber auch. Das musste an der Religionsfrage liegen. Beides.
Ich glaube, wenn Erwin Labhardt nicht gewesen wäre, hätte sich die Sache nie bewegt. Sagt dir der Name etwas? Er war der Präsident der KWU , der damals noch größten Bank des Landes.
Er war Mitte fünfzig und schon zweimal geschieden. Gerade zu der Zeit, als unsere Hochzeitspläne in der Schwebe waren, erhielten wir die Einladung zu seiner Hochzeit.
Es war ein gesellschaftlicher Höhepunkt. Er hatte das ganze Imperial für drei Tage gemietet, über zweihundert Gäste, das Tonhalle-Orchester für den zeremoniellen Teil und die Max-Greger-Band für den Ball.
Die Trauung hatte im kleinsten Kreis – nur mit den Trauzeugen – im Standesamt stattgefunden, die Hochzeitszeremonie wurde am späten Vormittag im Park des Imperial vom französischen Starregisseur Serge Lepéri inszeniert.
Nach einem kleinen Imbiss zogen sich die Gäste in die Zimmer und Suiten zurück bis zum Cocktail und dem Diner im Grand Restaurant. Danach begab man sich in den Ballsaal zum Tanz.
Das war für mich damals alles noch eine Nummer zu groß, aber es löste den Knoten. Nicht kirchliche Hochzeiten waren mit einem Schlag gesellschaftsfähig geworden. Auch für einen wie mich.
Noch in derselben Nacht – ich brachte Melody mit einem Taxi zu ihrer Wohnung, und wir verabschiedeten uns mit einem etwas längeren Kuss als üblich – flüsterte sie: »Mai. Mai ist ein hübscher Hochzeitsmonat, findest du nicht?«