I mmer wieder stieß Tom auf Dinge, die ihn von seiner eigentlichen Arbeit, die ungeordneten Aktenmengen den Jahren zuzuordnen, ablenkten: Diesmal waren es zwei Schachteln mit der Aufschrift »Fotos«.
Eine enthielt zwei Alben, davon war eins in grün-grau karierten Stoff gebunden. Auf den ersten Kartonseiten klebten Schwarz-Weiß-Fotos: Peter Stotz als Rekrut, als Korporal, als Leutnant. Danach waren die Seiten leer, und nach der letzten Seite wölbte sich der Buchdeckel über Dutzenden von losen Fotos, die seit Jahren vergeblich darauf warteten, eingeklebt zu werden. Hier fanden sich auch viele Farbaufnahmen, die meisten etwas verblichen. Sie zeigten Peter Stotz als Oberleutnant, Hauptmann und Major. Bilder vom weiteren Verlauf seiner steilen Militärlaufbahn fehlten.
Das andere Album trug einen blauen Textileinband und enthielt Fotos aus Peters Schulzeit. Um die Klassenfotos herum hatte jemand mit einer nicht mehr kindlichen, aber noch jugendlichen Schrift die Namen gekritzelt und sie mit Linien den einzelnen Kinderköpfen zugewiesen.
Tom besaß auch ein paar Klassenfotos, aber bei den wenigsten Kindern erinnerte er sich noch an die Namen. Stotz war also schon in jungen Jahren ein Netzwerker gewesen. Wer weiß, wofür es einmal gut sein würde zu wissen, mit wem man einst die Schulbank gedrückt hatte.
Neben zwei Mädchennamen war ein Herzchen gezeichnet: bei Cornelia Weber, einer zarten kleinen Blondine, und bei einer frechen Dunkelhaarigen namens Ramona Santi.
Nur etwa ein Drittel der Seiten enthielt Fotos, und auch hier war das Album zwischen der letzten Seite und dem Deckel von Uneingeheftetem angeschwollen. Peter als Jugendlicher in Turnhosen, in Knickerbockers, als Pfadfinder an einer Waldweihnacht in kurzen Hosen, obwohl Schnee lag. Streifen von Schwarz-Weiß-Fotos aus Passbildautomaten: Peter Stotz mit eingefrorenem Lächeln – oder auch wild grimassierend.
Der Rest der beiden Schachteln war mit wahllos hineingeworfenen Fotos gefüllt: Dr. Peter Stotz als frisch Promovierter, als Reiter am Sechseläuten, als Jäger mit Jagdkollegen vor der Strecke, als Tänzer im Smoking, bei Tisch mit einer hochtoupierten Begleiterin, mit einem alten Paar vor einem Geburtstagskuchen, an einer Pressekonferenz hinter seinem Namensschild, bei der Vereidigung als Nationalrat. Auf ein paar Bildern sah man ihn mit Opernstars: Luciano Pavarotti, Dame Joan Sutherland, Placido Domingo und Jessye Norman. Dr. Stotz immer im Smoking, die Stars jeweils in den Kostümen der Oper, deren Premieren sie gerade feierten.
Ein Farbfoto zeigte ihn in der Tracht der Meisenzunft, auf dem Kopf etwas schief der Dreispitz, über der Brust die gebauschten Rüschen und eine schwere goldene Kette. Auf der Rückseite stand in Stotz’ Handschrift: »Frischgebackener Zunftmeister zur Meisen, April 1980 .«
»Signor Tom?«
Er war so vertieft in die Fotos gewesen, dass er Mariella nicht hatte kommen hören. Sie war aufgeregt.
»Dem Dottore geht es nicht gut. Der Arzt ist unterwegs.«
Er kam im Taxi. Ein alter Mann, der es wohl vorzog, nicht mehr selbst Auto zu fahren.
Er begrüßte Tom knapp, aber freundlich. Mariella führte ihn durch den Salon und in Stotz’ Refugium.
Tom blieb unschlüssig im Salon stehen. Sollte er hinunter an die Arbeit gehen? Oder lieber warten, bis der Arzt wieder herauskam und ihm sagte, wie es um seinen Chef stehe?
Er setzte sich auf seinen gewohnten Sessel vor dem Kamin. Eine Handvoll dünnes Anfeuerholz lag auf dem Glutrost, darüber waren fachmännisch Hölzer wachsenden Kalibers geschichtet. Ein einziges Streichholz würde reichen, um das Ganze zu entzünden.
Es war seltsam, allein vor dem kalten Kamin zu sitzen. Er hatte sich an Dr. Stotz’ Kamingeschichten gewöhnt und hörte ihm gerne zu. Er besaß eine angenehme Stimme und wusste sie zu modulieren wie ein Märchenerzähler. Bei den Dialogen passte er sie den Personen an, die sie führten. Wenn er mit Melody sprach, war seine etwas dunkler und ihre heller.
Tom merkte, wie gerne er den alten Mann bekommen hatte. Und dass er sich tatsächlich Sorgen um ihn machte. Nicht nur, weil er neugierig war, wie die Saga von Melody weiterging.
Er blickte auf die drei Tabakpfeifen, den ledernen Tabakbeutel, den Aschenbecher mit dem eingelassenen Korkball zum Ausklopfen, den kleinen Behälter mit den weißen Pfeifenputzern und dem Edelstahl-Pfeifenbesteck auf dem kleinen Beistelltisch neben Stotz’ Sessel. Dort lagen auch die Bücher, die er gerade am Lesen war, und zuoberst auf dem Stapel die Leuchtleselupe.
Mariella kam aus Stotz’ Tür, ging wortlos an ihm vorbei durchs Foyer in die Küche und kam kurz darauf zurück. Sie trug ein Tablett mit zwei Gläsern Sherry und brachte sie Dr. Stotz und seinem alten Arzt.
Vielleicht, dachte Tom, war es etwas übertrieben, hier wie ein Angehöriger auf der Notfallstation zu warten.
Gerade als er aufgestanden war, um sich wieder an die Arbeit zu machen, ging die Tür auf, und der Doktor kam in Begleitung von Mariella in den Salon. Er blieb bei Tom stehen, und als Mariella den Raum verlassen hatte, sagte er: »Haben Sie einen Moment Zeit?« Er setzte sich auf einen der Sessel der kleinen Sitzgruppe und deutete auf einen zweiten, als wäre er der Gastgeber.
»Es scheint ihm besserzugehen, wenn er wieder Sherry trinken kann«, bemerkte Tom.
Der Arzt musterte ihn aus wässerigen, hinter hängenden Lidern und schweren Tränensäcken halb verborgenen Augen. »Mein Name ist Karer. Und Sie sind Tom Elmer. Ich könne offen mit Ihnen reden, sagt Peter, Sie seien an das Anwaltsgeheimnis gebunden.«
»Stimmt.«
»Dann sage ich Ihnen ganz offen: Dr. Stotz gehört zu den Patienten, bei denen das Alkoholtrinken nicht ein Zeichen dafür ist, dass es ihnen besser geht. Sondern ein Mittel dazu.«
Tom stutzte einen Moment.
»Die Diagnose«, fuhr Dr. Karer fort, »allerdings nur eine von vielen, lautet: C2 -Abusus.«
Tom sah ihn an, als warte er auf die Übersetzung.
»Um nicht Alkoholiker sagen zu müssen.«
»Wenn das, was Dr. Stotz trinkt, ihn zum Alkoholiker macht, bin ich auch bald einer«, sagte Tom lächelnd.
»Das, was er mit Ihnen trinkt, reicht dazu vielleicht nicht. Aber das, was er ohne Sie kippt, schon.«
»Aber er ist immer sehr präsent, wenn er trinkt.«
»Haben Sie ihn schon erlebt, wenn er nicht trinkt?«
Tom dachte kurz nach. »Nein.«
»Sehen Sie.«
»Aber ich habe ihn noch nie lallen hören.«
»Peter zählt zu den Alkoholikern, die nicht betrunken werden, sondern luzid. Außerdem wird ihn der Alkohol allein nicht umbringen. Da helfen die zwanzig anderen Diagnosen schon mit.«
»Ich weiß«, sagte Tom. »Er hat mir gesagt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat.«
Dr. Karer erhob sich vom Sessel. »Höchstens. Allerhöchstens. Beeilen Sie sich mit Ihrer Arbeit. Es bleibt Ihnen nicht mehr allzu viel Zeit.«
Auch Tom stand jetzt. »Ehrlich gesagt: Ich würde mehr und schneller arbeiten, wenn Dr. Stotz mich nicht ständig von der Arbeit abhalten würde.«
»Womit hält er Sie von der Arbeit ab?«
»Mit seinen Geschichten, die er stundenlang erzählt.«
»Damit hält er Sie nicht von Ihrer Arbeit ab. Zuhören ist Ihre Arbeit. Alles andere können Sie machen, wenn er nicht mehr lebt.«