D as elektrische Garagentor hob sich und schob sich unter die Decke. Zum Vorschein kamen vier Wagen, exakt geparkt: eine Limousine von Mercedes, ein Land Rover, ein Mini Cooper und ein roter Jaguar E-Type Cabrio.
Roberto deutete auf eines nach dem anderen: »Die Limousine für Repräsentatives, etwas für Feld und Wald, ein kleines Stadtauto. Und etwas Sportliches.«
»Und die sind alle noch fahrtüchtig?«, wunderte sich Tom.
»Ja. Ich sorge dafür. Ich fahre mit jedem einmal im Monat ein paar Kilometer. Der Jaguar ist für mich der Schwierigste, das Ein- und Aussteigen mit meinem Bein bereitet mir Mühe. Deshalb teile ich Dr. Stotz’ Meinung, dass Sie den wählen sollten.«
Er wühlte in einem Lederbeutel und reichte Tom einen Autoschlüssel an einem schweren verchromten Jaguar.
»Sie genießen großes Vertrauen, wissen Sie das? Noch nie hat Dr. Stotz jemandem eines seiner Autos geliehen. Obwohl er sie seit vielen Jahren nicht mehr fährt.« Er fixierte Tom. Beinahe drohend. »Missbrauchen Sie es nicht.«
Tom sah dem schweren alten Mann direkt in die tiefliegenden Augen. »Missbrauchen ist nicht meine Art.«
»Umso besser«, sagte Roberto und lächelte versöhnlich. »Dann gute Fahrt.«
»Ich fahre nicht mehr, zu viel Armagnac.«
Verschmitzt hatte Tom Roberto noch nie gesehen. Aber jetzt war er es ein bisschen. »Das ist der Jaguar gewohnt.«
Doch Tom verschob seine erste Fahrt auf den nächsten Tag, folgte Roberto zurück ins Haus und ging die Treppe hinauf zu seiner kleinen Wohnung. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche, in der Hoffnung, ein wenig auszunüchtern.
Warm und weich strömte das Wasser auf ihn herunter wie ein tropischer Regen.
Tom schaute an sich hinunter und bemerkte zum ersten Mal, dass er aus diesem Blickwinkel seinen Penis nicht mehr sah. Sein Bauchansatz verbarg ihn. »Mit freundlichen Grüßen von Mariella«, sagte er halblaut und bekam einen Lachanfall, kurz, aber laut.
Er trocknete sich, schlüpfte in seinen Pyjama und ging ins Bett. Die Junisonne war zwar gerade erst untergegangen, aber er fühlte sich müde und schwer.
Um ein Uhr nachts erwachte er. Er hatte geträumt, etwas habe ihn geweckt. Sein Mund war trocken, und als er sich aufrichtete, hatte er das Gefühl, sein Schädel sei zu groß für sein Hirn. Er nahm sich vor, in der Ablehnung der Getränke, die ihm sein Chef aufdrängte, etwas konsequenter zu werden.
Er ging zur Toilette und wieder ins Bett. Aber einschlafen konnte er nicht mehr. Es war wie früher in seinen wilderen Studienzeiten: Wenn er betrunken ins Bett sank, schlief er sofort ein, aber nach zwei, drei Stunden war er hellwach. Und die zwei, drei Stunden davor, hatte ihm einmal ein Medizinstudent erklärt, waren auch kein richtiger Schlaf. Eher so eine leichte Art von Koma.
Er schloss die Augen, um nicht an die dunkle Decke zu starren, und versuchte an nichts zu denken. Aber die Gedanken machten, was sie wollten. Sie dachten ohne sein Zutun.
Sie dachten an die Geräusche, von denen er geträumt zu haben glaubte, die es aber vielleicht tatsächlich gegeben hatte, schließlich hatte ihn etwas geweckt.
Eine halbe Stunde lag er wohl so da und lauschte den Gedanken, die sich selbstständig gemacht hatten, als er plötzlich bemerkte, dass seine Augen nicht einfach geschlossen waren. Sie waren zugekniffen.
Er setzte sich auf den Bettrand und versuchte, seine Gedanken wieder zu kontrollieren. Die Geräusche kamen ihm nun nicht mehr geträumt vor, es musste sie wirklich gegeben haben.
Schließlich stand er auf und ging hinaus und in die Diele.
Die Tür zu Melodys Zimmer stand offen, und es brannte Licht. Als hätte sie den Raum kurz verlassen und würde gleich wiederkommen.
Tom ging hinein. Das Kissen in der Sofaecke, das sonst stets frisch geschüttelt aussah, war etwas eingedrückt. Jemand musste dort gesessen haben. Er setzte sich neben dem Kissen aufs Sofa und ließ den Raum auf sich wirken. Ja, hier konnte man sich geborgen fühlen. So, wie er sich früher in seinem Spielzimmer gefühlt hatte, als sie noch eine Familie gewesen waren. Dort konnte er alles um sich herum vergessen oder aber auch alles besonders deutlich wahrnehmen.
Er sah Melody vor sich, wie sie in den Stickrahmen oder in ein Buch versunken war. Der Raum verlor langsam seine Konturen, die nur von der altmodischen Stehlampe schwach hervorgehoben waren und die langsam ineinander verschwammen wie Wasserfarben auf Aquarellpapier.
Es war fast sechs Uhr, als er erwachte. Er lag halb auf dem Sofa, den Kopf auf dem Kissen, die nackten, kalten Füße auf dem Boden. Die Dämmerung war angebrochen. Graues Licht drang durch die Gardine vor dem Fenster und ließ das der Lampe verblassen.
Tom setzte sich auf und rieb die Augen. Der Kopf fühlte sich wieder an wie etwas, mit dem er denken konnte. Sofort erinnerte er sich daran, wie ihn ein geträumtes Geräusch geweckt und wie er diesen Raum vorgefunden hatte: mit brennendem Licht und dem zerdrückten Kissen.
War Mariella hier gewesen? Hatte sie die Geräusche gemacht, die ihn geweckt hatten? Wer sonst? Sie hatte ihre Zimmer auf derselben Etage. Vielleicht hatte sie nicht schlafen können und war hier gesessen, um ihren Erinnerungen an früher nachzuhängen. Aber hätte sie nicht das Kissen geschüttelt, das Licht gelöscht und die Tür geschlossen, wenn sie wieder ging? Bestimmt.
Wer sonst könnte es gewesen sein? Dr. Stotz?
Nein. Der konnte kaum geradeaus gehen, schon gar nicht die Treppen herauf und wieder hinunter.
Vielleicht Melody? Tom lächelte bei dem Gedanken.
In diesem Moment fiel ihm ganz plötzlich der Traum ein, den er gerade gehabt hatte. Er war in diesem Zimmer gewesen und hatte auf diesem Sofa gesessen. Neben ihm Melody, gekleidet wie auf dem Bild in Stotz’ Zimmer, mit der blauen Bluse und den schweren blauen Ohrhängern. Sie hatte den Stickrahmen auf den Knien und arbeitete an etwas, das den in diesem Zimmer aufgehängten Werken glich, aber doch ganz anders war. Sie arbeitete gedankenverloren und mit einem stillen Lächeln. Manchmal drehte sie den Kopf und sah ihn an. Sie schwiegen beide. Aber er fühlte sich ihr so nahe, so vertraut, als wären sie schon immer beisammen gewesen.
Die plötzliche Erinnerung an diesen Traum hatte dieses Gefühl wieder ausgelöst. Und davon durchdrungen, betrachtete er jetzt den Raum und alle Gegenstände, die mit Melody zu tun hatten.
War vielleicht er es gewesen, der in der Nacht schlafwandlerisch dieses Zimmer betreten, Licht gemacht und sich aufs Sofa gesetzt hatte?
Er galt als Kind eine Zeit lang als Schlafwandler und hatte damit seine Eltern in Angst und Schrecken versetzt. Er hatte ihnen auch später nie verraten, dass er es nur vorgetäuscht hatte, um sie auf sich aufmerksam zu machen.
Tom stand vom Sofa auf, schüttelte das Kissen, löschte das Licht und verließ das Zimmer. Eine der Türen zur Diele, die sonst immer abgeschlossen war, stand ebenfalls einen Spalt offen. Erst wollte er einfach daran vorbei und ins Bett gehen. Aber dann war die Neugier doch stärker als die Müdigkeit. Er öffnete sie ganz und machte Licht.
Es war ein Dachboden. An den höheren Wänden waren Einbauschränke angebracht, unter der Dachschräge standen Stoffschränke mit Reißverschlüssen.
Tom zögerte kurz. Aber dann sagte er sich, er sei ja dafür angestellt, das Leben von Dr. Stotz zu erforschen. Er öffnete den ersten Reißverschluss.
Der Stoffschrank war voller Wintersachen. Skianzüge, gefütterte Sportjacken und -hosen, Wollmützen, Skischuhe, solche mit Schnallen und ältere Modelle, die noch meterlange Schuhriemen besaßen. In einem anderen Stoffschrank hingen Anzüge. Und in einem der Einbauschränke waren die Sachen für die formellen Anlässe: Stresemann, Smoking, Frack und alles in verschiedenen Ausführungen. Im Schrank gleich daneben hingen die Zunftkostüme in verschiedenen Weiten, nicht Größen. Dr. Stotz hatte ja erklärt, dass er früher öfter die Kleidergrößen änderte. »Ich war ein Jo-Jo-Mann. Jetzt nicht mehr. Jetzt nehme ich nur noch ab.«
Einen Einbauschrank weiter noch mehr Sportbekleidung: Wanderkleidung, Jagdkleidung, Golfkleidung, ein paar Tennissachen und Badehosen.
In Dr. Stotz’ Garderobe herrschte mehr Ordnung als in seinen Papieren und Dokumenten.
Der letzte Einbauschrank gehörte der Armee. Arbeits- und Dienstanzüge sowie Ausgangsuniformen hingen dort mit verschiedenen Achselschlaufen, mit Gradabzeichen vom Hauptmann bis zum Oberst. Und auf der Hutablage die verschiedensten Kopfbedeckungen vom sogenannten Béret bis zum steifen Offiziershut, auch diese mit dem Gold verschiedener Dienstgrade.
Die Kleiderbügel mit den Uniformen waren links und rechts etwas zusammengeschoben. Durch die schmale Lücke dazwischen war ein Brett zu sehen, das von der Schrankrückwand leicht vorstand. Es sah aus, als hätte es sich auf einer Seite etwas gelöst. Tom wusste nicht, aus welchem Grund er daraufdrückte, aber es bewegte sich und schnappte mit einem Klicken ein. Überrascht tastete Tom die Fuge des Brettes ab. Er stieß auf ein kleines Stück Eisen, das aus dem Holz ragte. Es war ein winziger Federriegel.
Tom hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger und zog.
Das Brett sprang auf einer Seite auf und ließ sich öffnen wie eine schmale, hohe Tür. Dahinter kam etwas zum Vorschein, das wie ein kleines Fenster aussah. Es war von der anderen Seite mit Gips zugemauert.
Tom drückte das Brett wieder zu, bis es einschnappte.
Als er den Schrank schloss und zur Tür ging, stand dort Mariella in einem wattierten Schlafrock.
»Gut geschlafen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete Tom.