V on Herbst keine Spur. Sie saßen unter einem hellgelben Sonnenschirm an einem weiß gedeckten Tisch auf der Dachterrasse ihres Hotels. Der Himmel war blau, aber etwas dunstig, die Akropolis sah aus, als trüge sie einen dünnen Schleier.
»Der Dunst macht die Akropolis etwas eindimensional«, sagte Laura, »wie ein Bild.«
»Ja. So sieht sie noch mehr aus wie ein Schulbuchumschlag. Daran erinnert sie mich immer. Die arme. Das hat dieses Baudenkmal nicht verdient.«
»Warst du schon einmal oben?«, fragte Laura.
»Ja. Maturareise. Und du?«
»Nein. Obwohl ich schon zweimal hier war.«
»Mit wem?«
Laura lächelte. »Hab’s vergessen.«
Sie hatten zu Mittag gegessen und erwarteten jetzt Kyriakos Pappas, Toms Londoner Studienkollegen.
Ein großer, schwerer, kahl geschorener Mann kam jetzt winkend auf ihren Tisch zu. Tom winkte zurück und raunte Laura zu: »Wenn er das ist, hat er einiges zugelegt.«
Er war es, umarmte Tom stürmisch, reichte Laura artig die Hand, setzte sich und wischte sich mit einem blütenreinen Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Kyriakos trug einen zerknitterten Leinenanzug und ein weißes Hemd, dessen oberste drei Knöpfe offen waren und den Blick auf einen schwarzen Brustpelz freigaben.
»Wie lange ist es her?«, fragte er in sehr griechisch klingendem Englisch.
»Noch nicht so lange. Drei Jahre vielleicht.« Sie tauschten ein paar Sätze und Stichworte, die Laura nichts sagten, und kamen dann zur Sache. Kyriakos öffnete die abgewetzte Mappe, die er auf den Knien hatte, und entnahm ihr ein dünnes Dossier.
»Die Sigalia E.P.E. ist eine Handelsgesellschaft mit beschränkter Haftung. Das bedeutet aber nicht, dass sie Handelsgeschäfte betreiben muss. Ein seltsamer Name für eine Handelsfirma, übrigens. Sigalia ist Griechisch und heißt Schweigen. Sie ist eine Gesellschaft mit nur einem einzigen Gesellschafter. Einem Joe Davies, wohnhaft in Agistri. Einer sehr kleinen Insel.«
»Agistri? Agistri …«, murmelte Tom. »Das ist in der Nähe des Berg Athos, nicht wahr?«
»Nein, überhaupt nicht, wie kommst du darauf?«
»In den Unterlagen der Reise nach Athos von Lauras Onkel lag ein Ticket für eine Fähre nach Agistri.«
»Agistri liegt im Saronischen Golf. Mit dem Flying Dolphin eine gute Stunde von hier.«
»Wann wurde die Sigalia gegründet?«, fragte Tom.
»Am 28 . Mai 1984 .«
Laura blätterte in ihren Unterlagen. »Wirklich? Das heißt, erst nach Onkel Peters Besuch des Berg Athos. Er hat demnach jedes Jahr große Beträge überwiesen an eine Firma, die es erst nach seinem Besuch dort gab. Seltsam.«
Später im Hotelzimmer – Laura war soeben unter die Dusche gegangen – holte Tom seinen Laptop aus dem Zimmersafe und ging zurück ins Bett. Er öffnete den Ordner »Dr. Stotz«. Dort waren Unterordner wie »Li Wang«, »Wachtmeister Gerber«, »Monika« und »Berg Athos«. In diesem öffnete er das File mit den Scans der Belege und sah sich das Fährticket nach Agistri näher an. Es war alles in griechischer Schrift gedruckt. Außer dem Datum. Der 9 . Mai 1984 .
Der zweite Tag von Stotz’ Athos-Aufenthalt!
Laura kam nackt aus dem Bad und schlüpfte wieder unter die Decke.
»Ich glaube, dein Onkel war gar nicht auf dem Heiligen Berg.«
»Wie kommst du darauf?«
Er zeigte ihr das Fährticket und die Überschneidung der Daten. »Es gibt nur eine Erklärung: Er hat das Diamonitirion im Pilgerbüro in Ouranoupoli abgeholt, das ihm Frau Favre beantragt hatte, und ist danach nach Athen zurückgereist. Und weiter nach Agistri.«
»Warum dann der ganze Aufwand mit der Pilgerreise zum Heiligen Berg?«
Tom hob hilflos die Arme und ließ sie wieder auf die Bettdecke sinken. »Wie soll ich das wissen? Jedenfalls sieht es immer mehr danach aus, als ob es nicht nur den Dr. Stotz gab, wie er wollte, dass ich ihn darstelle, und den, wie er wirklich war. Es gab noch einen dritten.«
»Welchen?«
»Keine Ahnung. Das heißt: Eine Ahnung hab ich schon.«
»Die will ich nicht hören«, sagte Laura und zog die Bettdecke über den Kopf.
Sie standen am Hafen von Piräus und warteten auf den Flying Dolphin nach Agistri. Sie hatten an einem Stand zwei griechische Kaffees getrunken und sich dann an die Stelle begeben, wo das Boot anlegen würde. In wenigen Minuten, wie die freundliche Frau am Ticketschalter vor einer guten Viertelstunde versichert hatte. Im Schatten eines Müllcontainers döste ein großer Hund. Eine Touristin näherte sich ihm und sprach in weichem Amerikanisch auf ihn ein. Er öffnete das Auge, auf dem er nicht lag – und schloss es wieder. Die Besucherin sprach weiter, etwas lauter und aufmunternder. Aber das Auge blieb geschlossen.
Die Frau ging an den Kaffeestand und kam mit einem Croissant zurück. Sie brach es entzwei und legte die Hälfte vor den schlafenden Hund. Die andere Hälfte behielt sie als zweiten Gang in der Hand.
Der Hund öffnete jetzt das Auge, hob den Kopf, schnüffelte am Croissant, legte den Kopf zurück auf den Asphalt und schlief weiter. Gekränkt trottete die Touristin davon und aß den zweiten Gang selbst.
Die Szene hatte Tom und Laura abgelenkt. Als sie wieder zum Kai sahen, legte dort gerade ein rotes Schiff an. An seiner Seite prangte das Emblem dreier fliegender Delphine.
Es war ein Tragflügelboot mit kleinen Luken, jede mit einer weißen, blickdichten Gardine verhängt, als befänden sich Schlafkojen dahinter.
Sie hatten Karten für die vorderste Reihe. Tom setzte sich ans Fenster. Der Platz besaß den Nachteil, dass die Bootswand dort steil anstieg. Tom fand keinen Platz für das linke Bein und musste es während der ganzen Fahrt über das rechte schlagen.
Durch den schmalen Mittelgang kamen immer mehr Fahrgäste und verteilten sich auf die Sitze. Darunter ein paar Touristen, aber die meisten waren Einheimische, die wohl in ihre Dörfer auf den Inseln fuhren.
Das Motorengeräusch veränderte sich, das Boot setzte sich in Bewegung und manövrierte zwischen den mächtigen Fähren hindurch.
Der Vorhang war fixiert. Tom konnte ihn nur ein wenig beiseite schieben.
»Lass uns auf Deck gehen«, schlug Laura vor, »an die frische Meeresluft.«
Aber es gab kein Passagierdeck. Das Tragflügelboot war nicht für Ausflüge gedacht, es war ein Verkehrsmittel für die, die schneller am Ziel sein wollten als mit der normalen Fähre.
»Auf dem Rückweg nehmen wir eine Fähre mit Decks. Wie Onkel Peter vor fast vierzig Jahren. Was hat er wohl gemacht auf Agistri? Glaubst du, wir finden es heraus?«
»Ich hoffe es.«
Tom legte den Arm um ihre Schultern. Laura ließ den Kopf auf seine Brust sinken.
»Ich fürchte es«, sagte sie leise.
Er zog sie an sich.
Das Motorengeräusch veränderte sich abermals, das Boot hatte die Mole hinter sich gelassen und das offene Meer erreicht. Es wurde schnell, stieg auf die Tragflügel und versuchte zu fliegen.
Das leichte Schaukeln, das Toms Magen schon etwas nervös gemacht hatte, wurde abgelöst von einer dezidierten Bewegung, mit der sein Körper besser umgehen konnte.
Laura war eingeschlafen. Er spürte sie tief und gleichmäßig atmen und hörte ihr leises Gemurmel, das sie im Schlaf manchmal von sich gab.
Tom hing seinen Gedanken nach. Er stellte sich Peter Stotz in seinen besten Jahren auf einer Fähre im Saronischen Golf vor. Vielleicht stand er an der Reling, rauchte eine Pfeife – falls er schon damals Pfeifenraucher war – und blickte aufs Meer, auf die Fähren, die Inseln, die Segelschiffe und Fischerboote.
Was suchte er auf Agistri?
Lag die Antwort nicht auf der Hand? Doch sicher, was er immer suchte.
Tom fröstelte. Nicht nur wegen der Klimaanlage.