10

Als gestern die kleine Jennifer mit Miss Givens von ihrem Einkaufsbummel heimkam, herrschte in meinem Arbeitszimmer bereits trübes Licht. Dieses große schmale Haus, das ich von dem Erbe gekauft habe, das mir meine Tante nach ihrem Tod hinterließ, geht auf einen Platz, der zwar einen gewissen Prestigewert hat, dafür aber auch weniger Sonne als jeder andere in der Nachbarschaft. Ich sah Jennifer vom Fenster meines Arbeitszimmers aus unten auf dem Platz hin und her gehen zwischen dem Taxi und dem Geländer, an dem sie ihre Einkaufstaschen aufreihte, während Miss Givens in ihrer Geldbörse nach dem Fahrgeld suchte. Als sie schließlich ins Haus kamen, konnte ich sie zanken hören, und obwohl ich einen Gruß vom Flur hinunterrief, beschloss ich, oben zu bleiben. Ihr Streit – darüber, was sie gekauft oder nicht gekauft hatten – schien ohne Belang zu sein, doch in diesem Moment war ich noch immer begeistert von dem Brief, den ich am Morgen erhalten hatte – und von den Schlüssen, die ich daraus ziehen konnte –, und ich wollte mir nicht meine Hochstimmung verderben lassen.

Als ich endlich hinunterging, war ihr Streit längst beendet, und ich sah Jennifer mit einer Binde über den Augen und mit lang ausgestreckten Armen durch den Salon wandeln.

»Hallo, Jenny«, sagte ich, als könnte ich nichts Ungewöhnliches an ihr entdecken. »Hast du alles bekommen, was du für das neue Schuljahr brauchst?«

Sie kam dem Vitrinenschrank bedrohlich nahe, aber ich widerstand der Versuchung aufzuschreien. Sie blieb gerade noch rechtzeitig stehen, tastete mit den Händen und kicherte.

»Oh, Onkel Christopher! Warum hast du mich nicht gewarnt?«

»Dich warnen? Wovor?«

»Ich bin blind geworden! Weißt du das nicht? Ich bin blind!«

»Ach ja. Du bist blind.«

Ich ließ sie weiter um die Möbel tasten und ging in die Küche, wo Miss Givens auf dem Tisch eine Tüte auspackte. Sie grüßte mich höflich, warf aber einen vielsagenden Blick auf die Reste meines Mittagessens, die am anderen Ende des Tisches stehen geblieben waren. Seit Polly, unser Hausmädchen, vor einer Woche abgereist ist, hat Miss Givens jede Andeutung, dass sie – und sei es auch nur vorübergehend – solche Pflichten übernehmen solle, außer Acht gelassen.

»Miss Givens«, sagte ich, »es gibt da etwas, das ich mit Ihnen besprechen muss.« Ich blickte über meine Schulter und senkte gleichzeitig die Stimme. »Etwas, das für Jennifer von großer Bedeutung ist.«

»Selbstverständlich, Mr Banks.«

»Vielleicht, Miss Givens, sollten wir in den Wintergarten gehen. Wie gesagt, die Angelegenheit ist von ziemlicher Bedeutung.«

In diesem Augenblick drang ein lautes Getöse aus dem Salon herüber. Miss Givens rauschte an mir vorbei und rief von der Tür: »Jennifer, hör auf damit! Ich habe dir doch gesagt, dass so etwas passieren würde!«

»Aber ich bin doch blind«, kam die Antwort. »Ich kann nichts dafür.«

Miss Givens, die sich erinnerte, dass ich das Wort an sie gerichtet hatte, schien hin- und hergerissen. Schließlich wandte sie sich wieder an mich und sagte ruhig: »Entschuldigen Sie, Mr Banks. Was sagten Sie gerade?«

»Ich glaube, Miss Givens, heute Abend, wenn Jennifer zu Bett gegangen ist, haben wir eher Gelegenheit, ungestört miteinander zu reden.«

»Sehr gut. Ich komme dann zu Ihnen.«

Falls Miss Givens in diesem Augenblick eine böse Ahnung hatte, worüber ich mit ihr sprechen wollte, so verbarg sie diese sehr gut. Sie warf mir ihr vertrautes undurchdringliches Lächeln zu, bevor sie sich an ihre Arbeit im Salon begab.

Es ist nun beinahe drei Jahre her, dass ich zum ersten Mal von Jennifer hörte. Ich war bei meinem alten Schulfreund Osbourne, den ich eine Weile nicht mehr gesehen hatte, zu einem Abendessen geladen. Damals wohnte er immer noch in der Gloucester Road, und ich lernte bei ihm an jenem Abend die junge Frau kennen, die er mittlerweile geheiratet hat. Unter seinen Gästen befand sich an diesem Abend auch Lady Beaton, die Witwe eines berühmten Philanthropen. Vielleicht weil mir all die anderen Gäste fremd waren – den größten Teil des Abends erzählten sie Anekdoten über Leute, von denen ich nichts wusste –, sprach ich sehr viel mit Lady Beaton, so viel, dass ich hin und wieder fürchtete, ich könnte ihr zur Last fallen. Jedenfalls, nachdem die Suppe serviert worden war, begann sie, mir von einem traurigen Fall zu erzählen, auf den sie kürzlich in ihrer Eigenschaft als Schatzmeisterin eines Wohltätigkeitsverbands, der sich um Waisenkinder kümmert, gestoßen war. Ein Ehepaar war zwei Jahre zuvor bei einem Schiffsunglück in Cornwall ertrunken, und ihr einziges Kind, ein nun zehnjähriges Mädchen, lebte zu der Zeit bei der Großmutter in Kanada. Die alte Dame war offensichtlich bei schlechter Gesundheit, ging nur selten aus und empfing ebenso selten Gäste.

»Als ich letzten Monat drüben in Toronto war«, erzählte mir Lady Beaton, »beschloss ich, sie zu besuchen. Dem armen kleinen Ding ging es schlecht, es vermisst England so sehr. Und was die alte Dame angeht, sie kann kaum für sich selber sorgen, geschweige denn für das Mädchen.«

»Könnte Ihre Organisation ihr vielleicht helfen?«

»Ich werde mein Bestes für sie tun. Aber sehen Sie, wir haben so viele Fälle. Und streng genommen besteht keine Dringlichkeit. Schließlich hat sie ein Dach über dem Kopf, und ihre Eltern haben vor ihrem Tod recht gut für sie vorgesorgt. Wichtig bei dieser Art Arbeit ist es, sich nicht allzu persönlich darauf einzulassen. Doch hat man dieses arme Mädchen einmal kennengelernt, ist man unweigerlich betroffen. Sie hat wirklich Charakter, recht ungewöhnlich, obwohl sie doch so offensichtlich unglücklich war.«

Möglicherweise hat sie mir im Laufe des Abendessens noch weitere Einzelheiten über Jennifer erzählt. Ich weiß, dass ich höflich zuhörte, aber wenig sagte. Erst viel später, draußen im Flur, als die Gäste aufbrachen und Osbourne uns bat, noch ein wenig zu bleiben, nahm ich Lady Beaton beiseite.

»Ich hoffe, Sie finden es nicht unangemessen«, begann ich. »Aber dieses Mädchen, von dem Sie mir erzählt haben. Diese Jennifer. Ich würde gerne etwas tun, um ihr zu helfen. Lady Beaton, ich wäre bereit, sie zu mir zu nehmen.«

Ich sollte es ihr vielleicht nicht verübeln, dass sie zuerst mit einem misstrauischen Blick zurückschreckte. Oder zumindest erschien es mir so. Schließlich meinte sie: »Das ist sehr anständig von Ihnen, Mr Banks. Ich werde mich, wenn ich darf, bei Ihnen wegen dieser Sache melden.«

»Ich meine es ernst, Lady Beaton. Ich habe erst kürzlich eine Erbschaft gemacht und wäre in der Lage, gut für sie zu sorgen.«

»Ich bin sicher, dass es so ist, Mr Banks. Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber sprechen.« Mit diesen Worten wandte sie sich anderen Gästen zu, um sich von ihnen ausgelassen zu verabschieden.

Und Lady Beaton meldete sich tatsächlich nach weniger als einer Woche. Möglicherweise hatte sie Auskünfte über meinen Charakter eingeholt; vielleicht brauchte sie auch nur Zeit, meinen Vorschlag zu überdenken; jedenfalls hatte sich ihr Verhalten völlig verändert. Bei unserem Mittagessen im Café Royal und unseren nachfolgenden Treffen hätte sie nicht herzlicher zu mir sein können, und Jennifer traf pünktlich vier Monate nach dem Abendessen bei Osbourne in meinem neuen Haus ein.

Sie wurde von einer kanadischen Kinderfrau namens Miss Hunter begleitet, die eine Woche später wieder abreiste, nachdem sie das Kind liebevoll auf die Wange geküsst und ermahnt hatte, an seine Großmutter zu schreiben. Jennifer überdachte sorgsam die Wahl zwischen drei Schlafzimmern, die ich ihr anbot, und entschied sich für das kleinste, weil, wie sie sagte, der schmale hölzerne Vorsprung, der entlang einer Wand verlief, wie geschaffen für ihre »Sammlung« sei. Diese umfasste, wie ich bald entdeckte, einige mit Bedacht ausgesuchte Muscheln, Nüsse, getrocknete Blätter, Kieselsteine und noch einige andere Dinge dieser Art, die sie über die Jahre zusammengetragen hatte. Sie postierte die Gegenstände sorgsam auf dem Vorsprung und rief mich eines Tages herein.

»Ich habe jedem einen Namen gegeben«, erklärte sie. »Mir ist klar, es ist dumm, so etwas zu tun, aber ich mag sie so sehr. Eines Tages, Onkel Christopher, wenn ich nicht so viel zu tun habe, werde ich dir alles über jedes Einzelne erzählen. Würdest du bitte Polly sagen, ganz besonders vorsichtig zu sein, wenn sie hier sauber macht?«

Lady Beaton kam, um mich bei den Gesprächen zur Auswahl eines Kindermädchens zu unterstützen, aber den Ausschlag gab letztlich Jennifer selbst, die im Nebenzimmer lauschte. Immer wenn eine Kandidatin gegangen war, tauchte sie auf, um einen vernichtenden Urteilsspruch zu verkünden. »Der komplette Horror«, sagte sie über eine Frau. »Es ist offensichtlicher Unsinn, dass ihre letzte Arbeitgeberin an Lungenentzündung gestorben sein soll. Sie hat sie vergiftet.« Über eine andere meinte sie: »Die können wir unmöglich nehmen. Viel zu nervös.«

Miss Givens fand ich in ihrem Vorstellungsgespräch schwerfällig und recht kühl, doch aus irgendeinem Grund war sie es, die auf Anhieb Jennifers Zustimmung fand, und ich muss gestehen, in den zweieinhalb Jahren, die seither vergangen sind, hat sie Jennifers Vertrauen voll und ganz gerechtfertigt.

Fast jeder, dem ich Jennifer vorstellte, machte eine Bemerkung, wie selbstbeherrscht sie wirke für jemanden, der eine solche Tragödie erlebt hatte. Sie trat in der Tat bemerkenswert selbstsicher auf. Und sie besaß vor allem die Fähigkeit, aus Rückschlägen, bei denen andere Mädchen ihres Alters in Tränen ausgebrochen wären, das Beste zu machen. Ein treffliches Beispiel dafür ist ihre Reaktion auf die Sache mit ihrem Schrankkoffer.

In den ersten Wochen nach ihrer Ankunft hatte sie wiederholt ihren Schrankkoffer erwähnt, der auf dem Seeweg aus Kanada kommen sollte. Ich erinnere mich, wie sie mir zum Beispiel einmal ganz detailliert ein hölzernes Karussell beschrieb, das jemand für sie gebaut hatte und das mit dem Schrankkoffer eintreffen würde. Ein anderes Mal, als ich ihr wegen eines bestimmten Kostüms, das sie und Miss Givens von Selfridges mitgebracht hatten, Komplimente machte, hatte sie mich ganz ernst angeschaut und gesagt: »Und ich habe ein Haarband, das perfekt dazu passt. Es kommt mit dem Schrankkoffer …«

Eines Tages erhielt ich einen Brief von der Reederei, die bat, den Verlust des Schrankkoffers auf hoher See zu entschuldigen, und eine Entschädigung anbot. Als ich Jennifer davon erzählte, starrte sie anfangs nur vor sich hin. Dann lachte sie leise auf und sagte: »Tja, in dem Fall müssen Miss Givens und ich weiter wie verrückt einkaufen gehen.«

Als sie nach zwei, drei Tagen immer noch keine Anzeichen von Kummer über den Verlust zeigte, glaubte ich, mit ihr darüber reden zu müssen, und eines Morgens nach dem Frühstück, als ich sie im Garten sah, ging ich zu ihr.

Es war ein frischer, sonniger Vormittag. Mein Garten ist selbst für städtische Verhältnisse nicht groß – ein grünes, für alle Nachbarn einsehbares Rechteck –, doch er ist hübsch angelegt und vermittelt einem auf angenehme Weise ein Gefühl des Beschütztseins. Als ich über den Rasen ging, streifte Jennifer mit einem Spielzeugpferd in der Hand durch den Garten und ließ es verträumt über die Spitzen der Hecken und Büsche laufen. Ich erinnere mich, dass ich recht besorgt war, das Spielzeug könnte durch die Feuchtigkeit Schaden nehmen, und kurz davor war, sie darauf hinzuweisen. Doch als ich schließlich bei ihr war, sagte ich nur: »Das mit deinen Sachen war ein Riesenpech. Du hast es kolossal gut aufgenommen, aber es muss ein fürchterlicher Schock für dich gewesen sein.«

»Oh …« Sie ließ ihr Pferdchen achtlos weiterhüpfen. »Es war ein bisschen blöd. Aber mit dem Entschädigungsgeld kann ich mir ja neue Sachen besorgen. Miss Givens meinte, wir könnten am Dienstag einkaufen gehen.«

»Trotzdem. Sieh mal, ich glaube, du bist ungeheuer tapfer. Aber weißt du, es ist nicht nötig, dass du dich verstellst, wenn du verstehst, was ich meine. Falls du deine Zurückhaltung ein bisschen aufgeben möchtest, solltest du es einfach tun. Ich werde es auch niemandem verraten, und ebenso wenig, da bin ich sicher, Miss Givens.«

»Es ist alles in Ordnung. Ich bin nicht verzweifelt. Schließlich waren es nur Dinge. Wenn man seine Mutter und seinen Vater verloren hat, dann kann man sich über Dinge nicht allzu viele Gedanken machen, oder?« Und sie lachte wieder auf ihre leise Art.

In meiner Erinnerung ist dies eines der wenigen Male, dass sie ihre Eltern erwähnte. Auch ich lachte und sagte: »Ich glaube nicht«, und wollte ins Haus zurückgehen. Doch dann drehte ich mich noch einmal um und sagte:

»Weißt du, Jenny, ich glaube nicht, dass es stimmt. Du könntest vielen Leuten so etwas erzählen, und sie würden dir glauben. Aber siehst du, ich weiß, dass es nicht stimmt. Als ich aus Shanghai kam, waren mir die Dinge, die in meinem Schrankkoffer kamen, ganz wichtig. Und sie sind es bis heute.«

»Zeigst du sie mir einmal?«

»Sie dir zeigen? Nun, die meisten würden dir gar nichts sagen.«

»Aber ich liebe chinesische Dinge. Ich würde sie gerne einmal sehen.«

»Das meiste ist nicht unbedingt chinesisch«, sagte ich. »Was ich dir sagen will, ist, dass mein Schrankkoffer für mich etwas ganz Besonderes war. Wenn er verloren gegangen wäre, hätte mich das zur Verzweiflung gebracht.«

Sie zuckte mit den Achseln und drückte das Pferdchen an ihre Wange. »Ich war verzweifelt. Aber ich bin es nicht mehr. Man muss im Leben nach vorne schauen.«

»Ja. Wer immer dir das gesagt haben mag, hat sicherlich recht. Wie du willst. Vergiss deinen Schrankkoffer für heute. Aber denke daran …« Ich verlor den Faden, wusste nicht mehr, was ich hatte sagen wollen.

»Woran?«

»Ach nichts. Denke nur immer daran, wenn es irgendetwas gibt, das du mir erzählen möchtest, oder etwas, das dich plagt, ich bin immer für dich da.«

»Einverstanden«, sagte sie strahlend.

Als ich auf das Haus zuging, warf ich einen Blick zurück und sah, dass sie wieder durch den Garten wandelte und ihr Pferdchen in träumerischen Bögen durch die Luft schweben ließ.

Ich gab Jennifer solche Versprechen nicht leichtfertig. Damals war ich fest entschlossen, sie ganz und gar zu erfüllen, und meine Zuneigung für Jennifer wuchs noch in der folgenden Zeit. Und doch stehe ich heute hier und bin im Begriff, sie im Stich zu lassen; ich weiß nicht einmal, für wie lange. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass ich ihre Abhängigkeit von mir überschätze. Außerdem könnte ich, wenn alles gut verläuft, vor den nächsten Schulferien wieder in London sein, sodass sie meine Abwesenheit kaum bemerken würde. Aber ich muss zugeben, wie ich es auch Miss Givens gegenüber getan habe, als sie mich gestern Abend freiheraus danach fragte, dass ich vielleicht doch sehr viel länger fort sein würde. Genau diese Unbestimmtheit verrät meine Prioritäten; und ich habe keinen Zweifel, dass Jennifer sehr schnell ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen wird. Welch tapferes Gesicht sie dazu auch macht, ich weiß, sie wird meine Entscheidung als Verrat auffassen.

Es ist nicht leicht zu erklären, wie es dazu gekommen ist. Ich kann nur sagen, dass es vor einigen Jahren – lange vor Jennifers Ankunft – mit einem unbestimmten Gefühl anfing, das ich von Zeit zu Zeit verspürte; einem Gefühl, dass der eine oder andere mich ablehnte und es ihm gerade so eben gelang, dies vor mir zu verbergen. Erstaunlicherweise geschah dies häufig ausgerechnet mit den Leuten, von denen ich erwartet hätte, sie würden meine Leistungen am meisten wertschätzen. Sprach ich, sagen wir, mit einem Politiker bei einem Abendessen oder mit einem Polizeibeamten oder sogar mit einem Auftraggeber, so überraschte mich plötzlich ein kühles Händeschütteln, eine knappe Bemerkung inmitten lauter Freundlichkeiten oder höfliche Reserviertheit genau dort, wo ich überschwängliche Dankbarkeit erwartet hätte. Übrigens, wann immer es zu einer solchen Begebenheit kam, prüfte ich mein Gedächtnis, ob ich mein Gegenüber vielleicht unbeabsichtigt verletzt habe; aber letztendlich musste ich zu dem Schluss gelangen, dass diese Reaktionen doch eher mit dem allgemeinen Eindruck zusammenhingen, den ich bei vielen Menschen hinterließ.

Das, worüber ich hier spreche, ist so nebulös, dass es mir nicht leichtfällt, mich an Situationen zu erinnern, die diese Wahrnehmung veranschaulichen könnten. Aber ich glaube, ein gutes Beispiel ist das sonderbare Gespräch, das ich im letzten Herbst mit dem Polizeiinspektor von Exeter in jener finsteren Gasse außerhalb des Dorfes Coring in Somerset führte.

Es war eines der deprimierendsten Verbrechen, das ich je untersucht habe. Ich traf erst vier Tage, nachdem die Leichen der Kinder in der Gasse entdeckt worden waren, in dem Dorf ein, und der Dauerregen hatte den Straßengraben, in dem man sie gefunden hatte, in einen schlammigen Bach verwandelt – was das Zusammentragen von einschlägigem Beweismaterial nicht gerade vereinfachte. Nichtsdestoweniger hatte ich mir, bis ich die Schritte des Inspektors näher kommen hörte, ein recht klares Urteil darüber gebildet, was sich zugetragen hatte.

»Eine äußerst beunruhigende Sache«, sagte ich zu ihm, als er bei mir stand.

»Es macht mich krank, Mr Banks«, entgegnete der Inspektor. »Richtig krank.«

Ich hatte mich niedergehockt, um die Hecke zu inspizieren, doch nun erhob ich mich, und wir standen uns in dem unablässigen Nieselregen gegenüber. Dann meinte er:

»Sehen Sie, Sir, gerade in diesem Augenblick wünsche ich mir aufrichtig, ich wäre Tischler geworden. Das hatte sich mein Vater gewünscht. Ja, ich wünsche es mir, Sir. Heute, nach dieser Sache, wünsche ich es mir wirklich.«

»Es ist grausam, da gebe ich Ihnen recht. Aber man darf sich nicht abwenden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Justiz siegt.« Er schüttelte hilflos den Kopf und sagte: »Ich bin hierhergekommen, Sir, um Sie zu fragen, ob Sie sich ein Urteil über den Fall gebildet haben. Denn sehen Sie …« Er schaute hoch zu den tröpfelnden Bäumen und fuhr dann mit Mühe fort. »Meine eigenen Untersuchungen haben mich zu einer gewissen Schlussfolgerung gebracht. Einer Schlussfolgerung, die ich nur sehr ungern ziehe.« Ich sah ihn voller Ernst an und nickte. »Ich fürchte, Ihre Schlussfolgerung ist richtig. Vor vier Tagen sah es so aus, als hätte sich hier ein Verbrechen abgespielt, das so grausam ist, wie man es sich nur vorstellen kann. Doch nun scheint es, als wäre die Wahrheit noch weit entsetzlicher.«

»Wie ist das möglich, Sir?« Der Inspektor war blass geworden. »Wie ist so etwas möglich? Selbst nach all diesen Jahren kann ich nicht verstehen …« Er schwieg und wandte sich von mir ab.

»Leider sehe ich keine andere Möglichkeit«, sagte ich ruhig. »Es ist in der Tat schockierend. Es ist so, als würden wir direkt in die Tiefen der Finsternis blicken.«

»Ein Verrückter, der vorbeigekommen ist, etwas in der Art hätte ich hinnehmen können. Aber dieses … Ich will es immer noch nicht glauben.«

»Ich fürchte, Sie müssen es«, sagte ich. »Wir müssen es akzeptieren. Weil es genau das ist, was geschehen ist.«

»Sind Sie sicher, Sir?«

»Ja, ich bin sicher.«

Er schaute über die angrenzenden Felder hinweg auf eine Reihe von Cottages in der Ferne.

»In Zeiten wie diesen«, sagte ich, »kann ich gut verstehen, dass man sehr entmutigt ist. Aber wenn ich es so sagen darf, es ist gut, dass Sie nicht dem Rat Ihres Vaters gefolgt sind. Denn Männer Ihres Kalibers, Inspektor, sind selten. Und diejenigen unter uns, deren Pflicht es ist, das Böse zu bekämpfen, wir sind … Wie soll ich es ausdrücken? Wir sind wie die Schnur, die die Lamellen eines hölzernen Rollos zusammenhält. Wenn es uns nicht gelingt, sie kraftvoll zu halten, wird alles auseinanderfallen. Es ist sehr wichtig, Inspektor, dass Sie weitermachen.«

Er schwieg einen Augenblick. Als er dann wieder sprach, erschreckte mich die Härte in seiner Stimme.

»Ich bin nur ein kleiner Mann, Sir. Daher werde ich hierbleiben und tun, was ich kann. Ich werde hierbleiben und mein Bestes geben, um die Schlange zu bekämpfen. Aber es ist ein Tier mit vielen Köpfen. Sie schlagen einen ab, und daraus erwachsen drei neue. So erscheint es mir, Sir. Es wird schlimmer. Jeden Tag wird es schlimmer. Was hier geschehen ist, diese armen kleinen Kinder …« Er drehte sich zu mir, und ich konnte die Wut in seinem Gesicht erkennen. »Ich bin nur ein kleiner Mann. Wäre ich bedeutender …« Und jetzt, kein Zweifel, sah er mir anklagend geradewegs in die Augen. »Wäre ich ein bedeutender Mann, ich sage Ihnen, Sir, ich würde nicht länger zögern. Ich würde auf ihr Herz zielen.«

»Ihr Herz?«

»Auf das Herz der Schlange. Darauf würde ich zielen. Warum wertvolle Zeit vergeuden und mit den vielen Köpfen ringen? Ich würde heute dorthin zielen, wo sich das Herz der Schlange befindet, und das Biest ein für allemal erschlagen, ehe … ehe …«

Es schien, als fände er keine Worte mehr, und er stand einfach nur da und schaute mich an. Ich weiß nicht mehr genau, was ich darauf entgegnete. Vielleicht murmelte ich etwas wie: »Das wäre sehr lobenswert«, und wandte mich ab.

Dann war da noch die Begebenheit im letzten Sommer, als ich die Royal Geographic Society besuchte, um H. L. Mortimers Vortrag zu hören. Es war ein sehr warmer Abend. Das Publikum bestand aus etwa hundert geladenen Gästen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens; ich erkannte unter anderem einen Peer der Liberalen und einen berühmten Historiker aus Oxford. Professor Mortimer sprach etwas über eine Stunde, und in dieser Zeit wurde es in dem Hörsaal immer stickiger. Sein Vortrag mit dem Titel »Stellt der Nationalsozialismus eine Bedrohung für das Christentum dar?« erwies sich letztlich als eine Polemik, in der er darstellen wollte, dass das allgemeine Wahlrecht die britische Seite auf internationaler Ebene ernstlich geschwächt habe. Als das Publikum am Ende gebeten wurde, Fragen zu stellen, hob ein recht lebhafter Streit an, nicht über Professor Mortimers Thesen, sondern über das Vorrücken der deutschen Armee in das Rheinland. Einige Stimmen warben leidenschaftlich um Verständnis, andere verdammten die deutsche Aktion. Ich war an diesem Abend nach Wochen intensiver Arbeit so erschöpft, dass ich den Argumenten nicht richtig folgen konnte.

Schließlich geleitete man uns aus dem Saal hinaus in einen Nachbarraum, wo Getränke gereicht wurden. Dieser Raum war jedoch zu klein für diese Menschenansammlung, und als ich eintrat – ich gehörte keineswegs zu den Letzten –, herrschte bereits unangenehmes Gedränge. Ein Bild, das ich von diesem Abend in mir bewahre, zeigt kräftige, Schürzen tragende Frauen, die sich mit ihren Sherrytabletts grimmig unter Einsatz ihrer Ellbogen einen Weg durch die Menschenmenge erkämpfen, und ergraute, vogelähnliche Professoren, die jeweils zu zweit miteinander plaudern und ihre Köpfe nach hinten beugen, um eine zivilisierte Distanz voneinander wahren zu können. Es war mir unmöglich, länger in dieser Umgebung auszuharren, und ich drängte mich zum Ausgang, als ich eine Berührung an meiner Schulter spürte. Als ich mich umdrehte, lächelte mich Canon Moorly an, ein Kleriker, der mir kürzlich bei einem Fall unschätzbare Dienste erwiesen hatte, und es blieb mir nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und ihn zu begrüßen.

»Das war wirklich ein äußerst faszinierender Abend«, sagte er. »Er hat mir viele Denkanstöße gegeben.«

»Ja, höchst interessant.«

»Doch ich muss sagen, Mr Banks, als ich Sie im Saal sitzen sah, hoffte ich sehr, Sie würden etwas sagen.«

»Ich fürchte, ich war zu müde heute Abend. Außerdem schien nahezu jeder andere im Raum viel mehr über das Thema zu wissen.«

»Ach, Unsinn, Unsinn.« Er lachte und schlug mir auf die Brust. Dann beugte er sich weiter vor – vielleicht hatte ihn jemand von hinten gestoßen –, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war, und sagte: »Um ganz ehrlich zu sein, ich bin ein wenig überrascht, dass Sie sich nicht gedrängt fühlten, das Wort zu ergreifen. All dieses Gerede von der europäischen Krise. Sie sagen, Sie seien müde gewesen, vielleicht waren Sie nur höflich. Einerlei, ich bin überrascht, dass Sie sich diese Gelegenheit haben entgehen lassen.«

»Entgehen lassen?«

»Was ich sagen möchte, verzeihen Sie, ist, dass es für einige dieser Herren hier heute Abend ganz und gar normal ist, Europa als das Zentrum des gegenwärtigen Mahlstroms zu betrachten. Aber Sie, Mr Banks. Sie kennen selbstverständlich die Wahrheit. Sie wissen, der wahre Mittelpunkt unserer gegenwärtigen Krise liegt weiter in der Ferne.«

Ich sah ihn vorsichtig an, dann sagte ich: »Es tut mir leid, Sir. Ich weiß nicht genau, worauf Sie hinauswollen.«

»Ach, kommen Sie, kommen Sie.« Er lächelte nun wissend. »Gerade Sie.«

»Wirklich, Sir, ich habe keine Ahnung, wie Sie darauf kommen, ich wüsste über diese Dinge besonders gut Bescheid. Es ist wahr, dass ich über all die Jahre bei vielen Verbrechen ermittelt habe und ich mir vielleicht ein generelles Bild verschafft habe, in welchen Ausprägungen das Böse sich manifestiert. Doch für die Frage, wie das Gleichgewicht der Kräfte bewahrt werden könnte, wie wir den gewaltigen Konflikt verschiedener Bestrebungen in Europa eindämmen können, für diese Dinge, fürchte ich, habe ich keine umfassende Theorie.«

»Keine Theorie? Das vielleicht nicht.« Canon Moorly lächelte mich immer noch an. »Aber Sie haben doch, sagen wir einmal, eine spezielle Beziehung zu dem, was die eigentliche Ursache all unserer gegenwärtigen Befürchtungen ist. Kommen Sie, mein lieber Freund! Sie wissen doch ganz genau, worauf ich anspiele! Sie wissen besser als jeder andere, das Auge des Sturms befindet sich doch nicht in Europa, sondern im Fernen Osten. In Shanghai, um es genau zu sagen.«

»Shanghai«, sagte ich müde. »Ja, ich glaube … Ich glaube, in dieser Stadt gibt es einige Probleme.«

»Wahrhaftig, Probleme. Und das, was früher nur ein örtliches Problem war, konnte ungehindert eitern und wachsen. Konnte sein Gift jahrelang immer weiter in der Welt verbreiten, bis in unsere Gesellschaft hinein. Aber Sie muss ich ja wohl kaum darauf aufmerksam machen.«

»Ich glaube, Sie werden mir zustimmen, Sir«, sagte ich und versuchte nicht länger, meine Verärgerung zu verbergen, »dass ich all die Jahre hart daran gearbeitet habe, die Ausbreitung von Verbrechen und Bösem, wo immer sie sich gezeigt haben, einzudämmen. Aber selbstverständlich habe ich dies nur innerhalb meines eigenen begrenzten Gebiets tun können. Daher können Sie bei dem, was in weiter Ferne geschieht, kaum von mir erwarten …«

»Ach, kommen Sie! Wirklich!«

Ich hätte beinahe die Geduld verloren, doch genau in diesem Augenblick drängte sich ein anderer Geistlicher durch die Menge, um ihn zu begrüßen. Canon Moorly stellte uns einander vor, und ich nutzte rasch die Gelegenheit, mich davonzumachen.

Es gab eine Reihe weiterer Zwischenfälle dieser Art, die sich, auch wenn sie nicht alle so eindeutig waren, über einen längeren Zeitraum hinweg häuften und mich allmählich in eine gewisse Richtung drängten. Und dann war da natürlich noch die Begegnung mit Sarah Hemmings bei der Hochzeit der Draycoats.