15

In den nächsten Minuten ging ich mit Mr Lin durch das ganze Haus. Trotz seines Alters zeigte er nur geringe Anzeichen von Gebrechlichkeit; er bewegte seine wuchtige Gestalt stetig, wenn auch langsam, hielt kaum je an, um durchzuatmen. Ich folgte dem schwarzen Gewand und den schlurfenden Pantoffeln enge Treppen hinauf und hinunter, über Flure, die oft nur von einer einzigen Laterne beleuchtet waren. Er führte mich durch Bereiche, die leer und mit Spinnweben überzogen waren, an zahlreichen ordentlich gestapelten Holzkisten mit Reiswein vorbei. An anderen Stellen war das Haus luxuriös; es gab wunderschöne Paravents und Wandbehänge, eine Menge Porzellan, das in Nischen ausgestellt war. Jedes Mal, wenn er eine Tür öffnete, trat er zurück, um mich vorzulassen. Ich betrat die unterschiedlichsten Zimmer, aber – eine Zeit lang zumindest – sah ich nichts, was mir irgendwie vertraut gewesen wäre.

Schließlich ging ich durch eine Tür und spürte, dass etwas an meiner Erinnerung zerrte. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann erkannte ich mit einem Gefühl, das mich durchflutete, unsere alte »Bibliothek«. Sie hatte sich sehr verändert: Die Decke war viel höher, eine Wand war durchbrochen worden, um dem Raum eine L-Form zu geben; und dort, wo früher die Doppeltür war, die zum Esszimmer führte, befand sich nun eine Trennwand, vor der sich weitere Reisweinkisten stapelten. Aber es war unverkennbar derselbe Raum, in dem ich als Kind meine Hausaufgaben erledigt hatte.

Ich machte ein paar Schritte in den Raum hinein und sah mich um. Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass mich Mr Lin beobachtete, und ich warf ihm ein befangenes Lächeln zu. In diesem Moment sagte er:

»Zweifellos hat sich vieles verändert. Ich bitte Sie um Verzeihung. Aber Sie müssen verstehen, dass in den achtzehn Jahren, die wir nun hier leben, einige Veränderungen unvermeidlich waren, um den Bedürfnissen meiner Familie und meines Geschäfts gerecht zu werden. Und ich verstehe die Bewohner vor uns, und die davor, die umfassende Veränderungen durchführen ließen. Sehr bedauerlich, verehrter Sir, aber ich glaube, nur wenige haben voraussehen können, dass Sie und Ihre Eltern eines Tages …«

Seine Worte verloren sich, vielleicht weil er dachte, ich hörte nicht zu, vielleicht weil es ihm wie den meisten Chinesen unangenehm war, sich zu entschuldigen. Ich sah mich noch eine Weile um, dann fragte ich ihn:

»Dann gehört dieses Haus also nicht mehr Morganbrook and Byatt?«

Er guckte erstaunt, dann lachte er. »Sir, ich bin der Besitzer des Hauses.«

Ich merkte, dass ich ihn beleidigt hatte, und sagte schnell: »Ja, selbstverständlich. Verzeihen Sie.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, verehrter Sir.« Und schon lächelte er wieder freundlich. »Es war keine unvernünftige Frage. Als Sie und Ihre Eltern hier lebten, war es schließlich zweifellos der Fall. Aber ich glaube, das ist schon lange vorbei. Verehrter Sir, bedenken Sie doch nur, wie sehr sich Shanghai in den vielen Jahren verändert hat. Alles, alles hat sich immer und immer wieder verändert. Im Vergleich dazu sind dies«, er seufzte und zeigte umher, »kleine Veränderungen. Es gibt Stadtteile, die ich früher sehr gut kannte, Plätze, über die ich jeden Tag ging. Komme ich heute dorthin, weiß ich nicht mehr, welchen Weg ich einschlagen muss. Veränderung, Veränderung die ganze Zeit. Und nun wollen die Japaner ihre Veränderungen einleiten. Die schrecklichsten Veränderungen stehen uns vielleicht noch bevor. Aber man darf nicht pessimistisch sein.«

Einen Moment standen wir schweigend da und sahen uns um. Dann sagte er leise: »Meine Familie wird natürlich sehr traurig sein, aus diesem Haus auszuziehen. Mein Vater ist hier gestorben. Zwei Enkel sind hier geboren. Aber als eben meine Frau sprach – und Sie müssen ihr ihre Offenheit verzeihen, Mr Banks –, hat sie für uns alle gesprochen. Wir betrachten es als eine große Ehre und ein Privileg, Ihnen und Ihren Eltern dieses Haus zurückzugeben. Lassen Sie uns nun, mein verehrter Sir, weitergehen, wenn es Ihnen recht ist.«

Ich glaube, nur wenig später stiegen wir eine mit Teppich belegte Treppe hoch – die es zu meiner Zeit bestimmt noch nicht gegeben hatte – und traten in ein luxuriös ausgestattetes Schlafzimmer mit üppigen Stoffen und Laternen, die den Raum in rötliches Licht tauchten.

»Das Zimmer meiner Frau«, sagte Mr Lin.

Ich sah, es war ein Heiligtum, ein behagliches Boudoir, in das die alte Dame sich wohl die meiste Zeit des Tages zurückzog. Im warmen Laternenschein konnte ich einen Kartentisch erkennen, auf dem verschiedene Spiele im Gange zu sein schienen; einen Schreibtisch, der auf der einen Seite hübsche, mit Goldquasten geschmückte Schubladen hatte; ein großes Himmelbett mit Draperien, die an Schleier erinnerten. Mein Auge verweilte noch auf verschiedenem edlem Zierrat und auf amüsanten Gegenständen, deren genauen Zweck ich nicht erraten konnte.

»Madam muss diesen Raum sehr mögen«, sagte ich schließlich. »Ich erkenne hier ihre Welt.«

»Er passt zu ihr. Aber Sie dürfen sich ihretwegen keine Sorgen machen, mein verehrter Sir. Wir werden für sie ein anderes Zimmer finden, das sie eines Tages ebenso lieben wird.«

Er hatte dies gesagt, um mich zu beruhigen, doch in seiner Stimme hatte etwas Brüchiges mitgeklungen. Er ging nun durch den Raum, hinüber zu einer Frisierkommode, und ein kleiner Gegenstand – vielleicht eine Brosche – beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Wenig später sagte er leise:

»Sie war sehr schön, als sie noch jünger war. Die schönste aller Blumen, mein verehrter Sir. Sie machen sich keine Vorstellung. Was die Herzensdinge angeht, fühle ich wie ein Westlicher. Ich habe nie eine andere Frau als sie gewollt. Eine Frau, das reicht. Natürlich hatte ich auch andere. Ich bin schließlich Chinese, auch wenn ich mein ganzes Leben hier in der Stadt der Ausländer verbracht habe. Ich fühlte mich verpflichtet, andere Frauen zu nehmen. Aber sie ist die Einzige, die ich wirklich gernhabe. Die anderen sind inzwischen alle tot, und sie ist übrig geblieben. Ich vermisse die anderen, aber ich bin froh, herzensfroh, dass es nun im Alter wieder nur uns beide gibt.« Für einen Augenblick schien er meine Anwesenheit vergessen zu haben. Dann wandte er sich zu mir und sagte: »Ich frage mich, wie Sie dieses Zimmer nutzen werden. Vergeben Sie mir, das ist sehr unhöflich. Aber glauben Sie, dieses Zimmer wird für Ihre eigene gute Frau sein? Natürlich weiß ich, dass bei vielen Ausländern, wie wohlhabend sie auch sein mögen, Mann und Frau das Zimmer teilen. Ich frage mich also, ob dieses Zimmer für Sie und Ihre gute Frau sein wird. Meine Neugier, ich weiß, ist sehr unhöflich. Aber dieser Raum bedeutet mir sehr viel. Ich habe die Hoffnung, dass Sie ihn besonders nutzen werden.«

»Ja …« Ich sah mich wieder aufmerksam um. Dann sagte ich: »Vielleicht nicht für meine Frau. Meine Frau, sehen Sie, um es offen zu sagen …« Mir wurde bewusst, dass ich bei diesem Gespräch über eine Ehefrau ein Bild von Sarah vor Augen hatte. Um meine Verlegenheit zu überspielen, fuhr ich rasch fort: »Was ich sagen will, Sir, ich bin noch nicht verheiratet. Ich habe keine Frau. Aber ich glaube, dieses Zimmer passt zu meiner Mutter.«

»Ach ja. Nach all den Unannehmlichkeiten, die sie hat hinnehmen müssen, wird dieses Zimmer ideal für sie sein. Und Ihr Vater? Ob er es mit ihr nach westlicher Sitte teilen wird? Bitte, verzeihen Sie mir, dass ich Sie belästige.«

»Es ist keine Belästigung, Mr Lin. Da Sie mich hier hereingeführt haben, sind Sie es schließlich, der mir Einblick in Ihre Intimsphäre erlaubt hat. Sie haben jedes Recht, diese Fragen zu stellen. Es kommt nur alles sehr plötzlich, und ich hatte noch nicht genügend Zeit, Überlegungen anzustellen …«

Ich verfiel in Schweigen und schaute immer noch im Raum umher. Kurz darauf sagte ich: »Mr Lin, ich fürchte, dies wird Sie bestürzen. Aber Sie waren offener und großzügiger, als ich es je erwarten konnte, und ich spüre, Sie verdienen meine Aufrichtigkeit. Sie haben selbst gerade gesagt, wie unvermeidlich es ist, dass ein Haus, wenn seine Bewohner wechseln, Veränderungen durchmacht. Nun, Sir, so lieb Ihnen auch diese Räume sind, so fürchte ich doch, sollte meine Familie hier wieder leben, dass auch wir Veränderungen vornehmen lassen werden. Auch dieses Zimmer, fürchte ich, wird sich so verändern, dass man es später nicht mehr wiedererkennt.«

Mr Lin schloss die Augen, und ein bedrückendes Schweigen machte sich breit. Ich fragte mich, ob er wütend werden würde, und bedauerte eine Sekunde, so ehrlich zu ihm gewesen zu sein. Doch als er dann die Augen wieder öffnete, sah er mich nachsichtig an.

»Natürlich«, sagte er. »Das ist ganz normal. Sie wollen dieses Haus wieder so herrichten, wie es in Ihrer Kindheit war. Das ist ganz normal. Mein verehrter Sir, ich verstehe Sie vollkommen.« Ich dachte darüber einen Moment nach, dann sagte ich: »Mr Lin, wahrscheinlich werden wir es nicht wieder genau in den Zustand versetzen, in dem es früher war. Denn so, wie ich es in Erinnerung habe, gab es einiges, über das wir nicht ganz glücklich waren. Meine Mutter, zum Beispiel, hatte nie ein eigenes Arbeitszimmer. Bei alldem, was sie für ihre Kampagnen tat, hat ihr ein kleiner Schreibtisch im Schlafzimmer nie gereicht. Auch mein Vater hätte gerne eine kleine Werkstatt für seine Holzarbeiten gehabt. Was ich sagen will, es besteht keine Notwendigkeit, die Uhr nur um ihrer selbst willen zurückzudrehen.«

»Das ist sehr klug, Mr Banks. Und obwohl Sie sich noch keine Frau genommen haben, kommt doch vielleicht schon bald der Tag, an dem Sie die Bedürfnisse einer Frau und von Kindern in Betracht ziehen müssen.«

»Das ist gut möglich. Bedauerlicherweise ist die Frage nach einer Frau gerade im Augenblick in meinem Fall, ungeachtet westlicher Sitten …« Ich wurde sehr verwirrt und hielt inne. Doch der alte Mann nickte weise und sagte:

»Natürlich, Herzensdinge sind nie einfach.« Dann fragte er: »Wünschen Sie sich Kinder, verehrter Sir? Wie viele werden Sie wohl haben?«

»Tatsächlich habe ich bereits ein Kind. Ein kleines Mädchen. Es ist aber nicht meine leibliche Tochter. Sie ist ein Waisenkind, und nun ist sie in meiner Obhut. Ich betrachte sie wirklich als meine Tochter.«

Ich hatte schon eine Weile nicht mehr an Jennifer gedacht, und als ich sie jetzt so plötzlich erwähnte, löste das eine heftige Erschütterung in mir aus. Bilder von ihr kamen mir in den Sinn; ich dachte an sie in ihrer Schule und fragte mich, wie es ihr ging und was sie an diesem Tag wohl gemacht hatte.

Möglicherweise wandte ich mich ab, um meine Gefühle zu verbergen. Jedenfalls nickte Mr Lin wieder, als ich ihn das nächste Mal ansah.

»Wir Chinesen kennen solche Arrangements gut«, sagte er. »Blut ist wichtig. Aber ebenso das Zusammenleben in einem Haushalt. Mein Vater nahm ein elternloses Mädchen auf, und es wuchs mit uns auf, als wäre es meine Schwester. Ich betrachtete sie als solche, obwohl ich immer wusste, wo sie ursprünglich herkam. Als sie bei einer Choleraepidemie starb und ich noch ein junger Mann war, fühlte ich ebenso großen Schmerz, als wäre meine leibliche Schwester gestorben.«

»Wenn Sie erlauben, Mr Lin, es ist mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Selten trifft man jemanden, der einen auf Anhieb so versteht.«

Er verneigte sich leicht und legte seine Fingerspitzen aneinander. »Wenn man so lange gelebt hat wie ich und durch die Unruhen dieser Jahre gegangen ist, sind einem Freude und Kummer vertraut. Ich hoffe, Ihre Adoptivtochter wird hier glücklich. Welches Zimmer werden Sie ihr geben? Aber selbstverständlich, verzeihen Sie! Sie sagten ja bereits, Sie würden umbauen.«

»Eines der Zimmer, das wir eben gesehen haben, wäre tatsächlich ideal für Jennifer. Es hatte einen schmalen hölzernen Vorsprung entlang der Wand.«

»Mag sie einen solchen Vorsprung?«

»Ja, für ihre Sammlung, für ihre Dinge. Und es gibt eine weitere Person, die ich hier im Haus unterbringen möchte. Ich vermute, offiziell war sie so etwas wie eine Dienerin, aber in unserem Hause war sie immer mehr. Ihr Name ist Mai Li.«

»War sie Ihre amah, verehrter Sir?«

Ich nickte. »Sie muss nun schon älter sein, und sicherlich würde es ihr gefallen, sich von ihrer Arbeit auszuruhen. Kinder können sehr anstrengend sein. Ich wollte sie schon immer, wenn sie alt sein würde, hier bei uns aufnehmen.«

»Das ist sehr großzügig von Ihnen. Man hört so oft, dass ausländische Familien die amah, sobald sie zur Belastung werden, vor die Tür setzen. Solche Frauen sieht man oft ihren Lebensabend auf der Straße als Bettlerinnen verbringen.«

Ich lachte. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mai Li so etwas je geschehen könnte. Nein, allein der Gedanke erscheint mir völlig absurd. Jedenfalls wird sie, wie gesagt, hier mit uns leben. Sobald ich meine Aufgabe erfüllt habe, werde ich anfangen, sie zu suchen. Ich glaube nicht, dass es so schwer sein wird, sie zu finden.«

»Und sagen Sie, verehrter Sir, werden Sie ihr ein Zimmer im Dienertrakt geben oder bei der Familie?«

»Bei der Familie, bestimmt. Meine Eltern sehen das vielleicht ungern. Aber dann bin wirklich ich das Familienoberhaupt.«

Mr Lin lächelte. »Entsprechend Ihren Gebräuchen wird es sicherlich so sein. Bei uns Chinesen, welch ein Glück für mich, dürfen die Alten auch in ihren närrischen Jahren weiter über die Geschicke des Hauses bestimmen.«

Der alte Mann lachte vor sich hin und wandte sich zur Tür. Ich wollte ihm schon hinterhergehen, doch gerade in diesem Augenblick fiel mir – recht unvermutet und äußerst lebhaft – eine weitere Erinnerung ein. Ich habe seither viel darüber nachgedacht, und ich habe keine Ahnung, warum es gerade diese eine Erinnerung und keine andere war. Ich war sechs oder sieben, als meine Mutter und ich einen Wettlauf auf einer Wiese machten. Ich weiß nicht mehr genau, wo das stattfand; heute würde ich vermuten, in einem Park – vielleicht im Jessfield Park –, denn ich entsinne mich noch an einen Gitterzaun, der parallel zu unserer Rennstrecke verlief und an dem sich Blumen und Kletterpflanzen emporrankten. Es war ein warmer, wenn auch nicht besonders sonniger Tag. Zu diesem Wettrennen über eine Strecke, die nicht allzu lang war, hatte ich meine Mutter aufgefordert, weil ich vor ihr damit angeben wollte, dass ich schneller geworden war. Ich war mir völlig sicher, sie zu schlagen, und sie würde dann wie üblich ihre freudige Überraschung über dieses neueste Anzeichen meines Reifeprozesses bekunden. Doch zu meinem Ärger hatte sie über die ganze Strecke mitgehalten und dabei gelacht, obwohl ich mit aller Kraft lief. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden eigentlich »gewann«, doch ich erinnere mich noch immer an meine Wut auf sie und an das Gefühl, mir wäre eine tiefe Ungerechtigkeit widerfahren.

Als ich an jenem Abend in der behaglich geschützten Atmosphäre von Madam Lins Schlafzimmer stand, kam mir dieses Ereignis wieder in den Sinn. Oder eher ein Fragment davon: eine Erinnerung, wie ich mit aller Kraft gegen den Wind vorwärtspreschte; meine lachende Mutter neben mir; das Rascheln ihres Rocks und meine aufsteigende Enttäuschung.

»Sir«, sagte ich zu meinem Gastgeber, »darf ich Sie etwas fragen? Sie sagen, Sie haben Ihr ganzes Leben hier im Settlement verbracht. Haben Sie in dieser Zeit je meine Mutter getroffen?«

»Ich hatte nie das Glück, sie persönlich kennenzulernen«, antwortete Mr Lin. »Aber natürlich wusste ich von ihr und ihrer großen Kampagne. Ich bewunderte sie, wie alle anständig denkenden Menschen. Sie ist bestimmt eine großartige Frau. Und ich habe gehört, sie soll sehr schön sein.«

»Wahrscheinlich ist sie es. Man denkt nie darüber nach, ob die eigene Mutter schön ist.«

»Oh, ich habe gehört, sie sei die schönste Engländerin in Shanghai.«

»Wahrscheinlich ist sie es. Aber natürlich ist sie mittlerweile älter geworden.«

»Eine gewisse Art von Schönheit verwelkt nie. Meine Frau«, er deutete durch den Raum, »ist für mich heute genauso schön wie am Tag unserer Hochzeit.«

Als er dies sagte, hatte ich plötzlich das Gefühl, ein Eindringling zu sein, und dieses Mal war ich es, der den ersten Schritt machte, um zu gehen.

Sehr viel mehr habe ich von meinem Besuch in dem Haus an jenem Abend nicht in Erinnerung. Vielleicht blieben wir noch eine Stunde, redeten und aßen mit der ganzen Familie am Tisch. Immerhin weiß ich, dass ich die Familie Lin in bestem Einvernehmen verließ. Morgan und ich jedoch gerieten auf der Rückfahrt in einen Streit.

Vermutlich war es meine Schuld. Ich war zu diesem Zeitpunkt müde und irgendwie gereizt. Wir waren eine Weile schweigend durch die Nacht gefahren, und meine Gedanken waren vielleicht schon wieder bei der immens schweren Aufgabe, die vor mir lag. Jedenfalls erinnere ich mich, wie ich zu Morgan aus heiterem Himmel sagte:

»Du lebst doch nun schon seit einigen Jahren hier. Sag mal, hast du zufällig mal einen gewissen Inspektor Kung getroffen?«

»Inspektor Kung? Einen Polizisten?«

»In meiner Kindheit war Inspektor Kung so etwas wie eine Legende. Tatsächlich war er der Beamte, der ursprünglich verantwortlich war für den Fall meiner Eltern.«

Zu meiner Überraschung hörte ich Morgan neben mir in schallendes Gelächter ausbrechen. Dann sagte er:

»Kung? Der alte Kung? Ja natürlich, er war Polizeiinspektor. Dann ist es ja kein Wunder, dass man damals nichts herausfand.« Sein Ton verblüffte mich, und ich erwiderte recht kühl: »Inspektor Kung war damals der angesehenste Detektiv Shanghais, wenn nicht ganz Chinas.«

»Er hat immer noch so etwas wie einen Namen, das sag ich dir. Der alte Kung. Nein, so was.«

»Ich bin froh zu hören, dass er zumindest noch in der Stadt ist. Hast du eine Vorstellung, wo ich ihn finden könnte?«

»Am einfachsten ist es, nach Einbruch der Dunkelheit durch Frenchtown zu gehen. Unweigerlich trifft man ihn dort früher oder später. Normalerweise findet man ihn inmitten einer Menschenmenge auf der Straße. Oder, wenn man ihn in irgendeine finstere Spelunke hineingelassen hat, schnarcht er in einer dunklen Ecke.«

»Willst du andeuten, Inspektor Kung sei Alkoholiker geworden?«

»Alkohol. Opium. Das übliche Chinesenzeug. Aber er ist eine Persönlichkeit. Erzählt Geschichten über seine glorreichen Tage, und die Leute schenken ihm Münzen dafür.«

»Ich glaube, du denkst an den falschen Mann, alter Knabe.«

»Das glaube ich nicht, alter Kumpel. Der alte Kung. Dann war er also wirklich Polizist. Ich habe immer gedacht, er würde sich all das nur aus den Fingern saugen. Die meisten seiner Geschichten sind wirklich grotesk. Was ist los, alter Knabe?«

»Das Problem mit dir, Morgan, ist, dass du immer alles durcheinanderbringst. Erst verwechselst du mich mit Bigglesworth. Und nun verwechselst du Inspektor Kung mit irgendeinem nichtswürdigen Lumpen. Der Aufenthalt hier hat dein Hirn ganz schön weich werden lassen, alter Knabe.«

»Nun halt mal die Luft an. Was ich dir erzähle, wird dir jeder andere, den du fragst, bestätigen. Und spar dir bitte deine Kommentare. Von wegen weiches Hirn.«

Möglicherweise haben wir zu etwas zivileren Tönen zurückgefunden, bevor er mich am Cathay Hotel absetzte, aber unser Abschied war ausgesprochen kühl, und seitdem habe ich Morgan nicht mehr gesehen. Was Inspektor Kung betrifft, so trug ich mich nach jenem Abend mit der Absicht, ihn unverzüglich ausfindig zu machen, aber aus irgendeinem Grund – vielleicht fürchtete ich, Morgan könnte die Wahrheit gesagt haben – habe ich diese Sache nicht vorrangig behandelt, zumindest nicht bis gestern, als bei meiner Suche in den Polizeiarchiven der Name des Inspektors auf höchst dramatische Weise wieder ins Spiel gebracht wurde.

Als ich heute MacDonald gegenüber beiläufig Inspektor Kung erwähnte, war seine Reaktion der von Morgan in jener Nacht nicht unähnlich, und ich habe den Verdacht, dies war noch ein weiterer Grund für meine Ungeduld mit MacDonald, als wir uns in seinem stickigen kleinen Büro, das Ausblick auf das Gelände des Konsulats gewährte, gegenübersaßen. Dennoch weiß ich, wenn ich mir mehr Mühe gegeben hätte, wäre die Sache besser ausgegangen. Mein Hauptfehler heute Morgen war, ihm die Gelegenheit geboten zu haben, mich so aufzustacheln, dass ich wütend wurde. An einer Stelle habe ich ihn, fürchte ich, geradezu angeschrien.

»Mr MacDonald, es reicht einfach nicht, die Dinge dem zu überlassen, was Sie beharrlich meine ›Kräfte‹ nennen! Ich habe solche ›Kräfte‹ nicht! Ich bin ein Normalsterblicher, und ich kann meine Ziele nur erreichen, wenn man mir die grundlegende Unterstützung gewährt, die es mir ermöglicht, meiner Arbeit nachzugehen. Es ist nicht sehr viel, worum ich Sie gebeten habe, Sir. Eigentlich fast nichts! Ich will mit diesem kommunistischen Informanten sprechen. Nur mit ihm sprechen, ein kurzes Gespräch genügt. Ich habe diesen Wunsch in aller Deutlichkeit geäußert. Es ist mir unbegreiflich, warum diese Verabredungen noch immer nicht getroffen worden sind. Warum ist das so, Sir? Warum? Was hindert Sie eigentlich?«

»Aber sehen Sie doch, alter Freund, das ist kaum eine Sache für mein Büro. Wenn Sie wollen, lasse ich den Polizeichef hierherkommen, damit er mit Ihnen spricht. Vergessen Sie nicht, selbst dann, sehen Sie, bin ich keineswegs sicher, dass Sie irgendetwas Nützliches erreichen. Nicht sie haben die Gelbe Schlange …«

»Es ist mir völlig klar, dass die Gelbe Schlange unter dem Schutz der chinesischen Regierung steht. Das ist ja der Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin und nicht zur Polizei. Es ist mir bewusst, dass in einer Angelegenheit dieser Größenordnung die Polizei irrelevant ist.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, alter Freund. Aber Sie müssen verstehen, dies hier ist keine britische Kolonie. Wir können den Chinesen keine Befehle erteilen. Doch ich werde mit jemandem im entsprechenden Amt reden. Gehen Sie dennoch nicht davon aus, dass in absehbarer Zeit etwas geschieht. Tschiang Kai-schek hatte schon früher Informanten, aber niemals einen mit solch weitreichenden Kenntnissen über das Netzwerk der Roten. Tschiang würde eher viele Schlachten mit den Japanern verlieren, ehe er zuließe, dass diesem Gelbe-Schlange-Typen etwas zustößt. Sehen Sie, was Tschiang betrifft, für ihn sind die wahren Feinde nicht die Japaner, sondern die Roten.«

Ich seufzte laut auf. »Mr MacDonald, Tschiang Kai-schek oder seine Prioritäten interessieren mich nicht. Ich muss jetzt einen Fall aufklären, und ich wünsche, dass Sie alles tun, was in Ihrer Macht steht, um mir ein Gespräch mit diesem Informanten zu verschaffen. Ich erkläre Ihnen hiermit persönlich, dass ich, wenn alle meine Anstrengungen zu nichts führen, weil dieser einfache Wunsch nicht erfüllt wird, nicht zögern werde zu verbreiten, dass Sie es waren, zu dem ich gegangen bin …«

»Nun wirklich, alter Freund, bitte! Es besteht kein Anlass, diese Töne anzuschlagen! Keinerlei Anlass! Wir sind hier alle Freunde. Wir alle wollen, dass Sie Erfolg haben. Ich gebe Ihnen darauf mein Wort, wir wollen es wirklich. Sehen Sie, ich habe gesagt, ich werde alles tun, was ich kann. Ich werde mit einigen Leuten reden, wissen Sie, mit Leuten, die in dieser Richtung arbeiten. Ich werde mit ihnen reden, werde ihnen sagen, wie sehr Sie sich aufregen. Aber Sie müssen verstehen, dass wir bei den Chinesen nur sehr wenig erreichen können.« Dann beugte er sich vor und sagte vertraulich: »Wissen Sie, Sie sollten es mit den Franzosen versuchen. Die haben eine Menge kleiner Vereinbarungen mit Tschiang. Sie wissen schon, inoffizielle. Dinge, die wir nicht machen würden. Gehen Sie zu den Franzosen.«

Vielleicht ist etwas dran an MacDonalds Vorschlag. Vielleicht würde ich tatsächlich nützliche Hilfe von den französischen Behörden erhalten. Aber ehrlich gesagt habe ich seit heute Morgen über diese Möglichkeit noch nicht weiter nachgedacht. Mir ist klar, dass MacDonald aus Gründen, die bis jetzt noch im Dunkeln liegen, Ausflüchte macht und dass er, wenn er erst einmal die überaus große Wichtigkeit, meinem Wunsch zu entsprechen, erkannt hat, alles Notwendige in die Wege leiten wird. Vermutlich habe ich mich bei unserem heutigen Treffen so ungeschickt angestellt, dass ich ihn noch einmal bedrängen muss. Das ist keine besonders erfreuliche Aussicht, aber zumindest wird meine Taktik das nächste Mal eine andere sein, und es wird ihm nicht so ohne Weiteres gelingen, mich mit leeren Händen wegzuschicken.