Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, spurtete Cavelli die große Treppe auf dem Piazza di Popolo hoch. Dies war der anstrengendste Teil seines täglichen Laufpensums vom Vatikan bis zum Villa-Borghese-Park, wo er dann je nach Laune eine größere oder kleinere Runde drehte. Dabei dachte er über Cecilia Volpi nach. Die Frau tat ihm leid. Er konnte teilweise nachempfinden, wie sie sich fühlen musste. Cavellis Ehefrau Elena war vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hatte über ein Jahr gebraucht, um einigermaßen wieder ins normale Leben zurückzufinden. Allerdings hatte er von Freunden und Kollegen viel Mitgefühl und Hilfe erfahren; Cecilia Volpi war noch schlimmer dran, ihr Mann wurde des Betrugs beschuldigt. Ihrer Meinung nach zu Unrecht, das musste schwer zu ertragen sein.
Nach seinem Gespräch mit Joseph Mattlin hatte er sie angerufen und ihr davon erzählt, wobei ihm sein Bericht wahrscheinlich etwas positiver geraten war, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Cecilia Volpi hatte sich immer wieder bedankt, was ihm unangenehm war, und er hatte dann das Gespräch bald beendet.
Danach hatte er nicht mehr an sie gedacht, aber vor einigen Tagen war er in einem seiner Jacketts auf das graphologische Gutachten gestoßen, das immer noch darin steckte. Aus purer Neugier, wie so etwas aussieht, hatte er sich darin vertieft. Mattlin hatte natürlich recht, viele Gutachten bestätigten nur, was der Auftraggeber vorgab, und vernebelten die Wahrheit mehr als sie zu erhellen, aber an diesem Gutachten konnte Cavelli beim besten Willen nichts Fragwürdiges entdecken. Der Gutachter hatte Volpis Unterschriften auf Dokumenten wie dem Mietvertrag, dem Reisepass und anderen Privatpapieren, die ihm Cecilia Volpi zur Verfügung gestellt hatte, mit den auf Kopien der IOR-Dokumente verglichen. Auf den ersten Blick konnte Cavelli keine wesentlichen Unterschiede erkennen, doch das Gutachten zählte eine ganze Reihe davon auf. Insbesondere wurde immer wieder auf die unterbrochene Linienführung und die Dicke des Striches hingewiesen, die den Verdacht nahelegten, dass die Unterschriften auf den IOR-Dokumenten nicht flüssig geschrieben, sondern sorgfältig gemalt worden waren. Ein typisches Merkmal von Fälschungen. Für Cavelli war es eine klare Sache, aber er wusste auch, dass die Sache in den zu erwartenden Prozessen ganz anders ausgehen konnte. Wie hieß es doch so unschön: »Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.« Vor einer Stunde dann, Cavelli hatte schon seine Joggingsachen an und wollte eben die Wohnung verlassen, hatte das Telefon geklingelt und Cecilia Volpi war dran gewesen. Sie hatte aufgekratzt geklungen und ihm berichtet, dass sie es tatsächlich geschafft hätte, telefonisch zu Monsignore Mattlin durchzudringen, was ohne Cavellis Vorarbeit ganz sicher nicht möglich gewesen wäre, und dass er ihr persönlich garantiert hatte, dass sie Einsicht in alle Dokumente bekommen würde, die ihren Mann betrafen. Das sei ein gewaltiger Erfolg, denn zuvor hatte sie wiederholte Male versucht, Kontakt zu Dottore Diotallevi aufzunehmen, doch der hatte sich stets am Telefon verleugnen lassen und auch nie zurückgerufen. Dann hatte sie etwas schüchtern gefragt, ob sie Cavelli zum Abendessen einladen dürfe. Hauptsächlich natürlich, um sich für seine Hilfe zu bedanken, andererseits aber auch, weil sie vielleicht noch den einen oder anderen Rat im Umgang mit dem Vatikan gebrauchen könne.
Cavelli war etwas unbehaglich dabei gewesen, er hatte keine Lust, dass sich die Hilfe für Cecilia Volpi zum Dauerzustand entwickelte; offenbar schien sie niemanden zu haben, mit dem sie über diese Probleme reden konnte, und allzu schnell wurde man unentbehrlich für so jemanden. Aber im selben Moment schämte Cavelli sich für seinen Egoismus. Er selbst führte ein verdammt privilegiertes Leben, und hier war jemand in Not, der sich an niemanden sonst wenden konnte. Außerdem handelte es sich lediglich um eine harmlose Einladung zum Abendessen; wenn Cecilia Volpi tatsächlich anfing, zur Klette zu werden, konnte er dem jederzeit ein Ende setzen. Also hatte er zugesagt. Da sie, trotz seiner Proteste, darauf bestand, ihn einzuladen, hatte er ein günstiges, aber dennoch gutes Ristorante in Trastevere vorgeschlagen, aber sie war nicht davon abzubringen gewesen, ihn in ihr, wie sie betonte, Lieblingslokal Lo Scoglio am Meer einzuladen. Cavelli hatte noch nie von Lo Scoglio, gehört, aber plötzlich war ihm aufgegangen, dass er auch schon seit über einem Jahr nicht am Meer gewesen war. Da unterschied er sich nicht vom typischen Römer, der ein Meer praktisch vor der Haustür hatte, nur eine halbe Auto- oder U-Bahnstunde vom Zentrum entfernt, und in diesem Punkt genauso verwöhnt wie die Einwohner von Paris, die noch nie auf dem Eiffelturm gewesen waren, eben weil man das ja jederzeit machen konnte. Die Einladung Cecilia Volpis war ein kleiner Tritt in den Hintern vom Schicksal, das offenbar meinte, dass Cavelli viel zu viel arbeitete und viel zu lange nicht am Meer gewesen war.