Langsam betrat sie den gewaltigen Innenraum mit seinen riesigen goldenen Bögen. Der Geruch von Weihrauch hing schwer in der Luft. Sie war in ihrem Leben hunderte Male hier gewesen, aber diese Kirche, die anders war als alle anderen, die sie kannte, löste in ihr immer noch ein Gefühl der Ehrfurcht aus. Noch zwei Minuten bis zum vereinbarten Treffen. Gemessenen Schrittes bewegte sie sich durch den Mittelgang auf den Altar zu. Ihr Blick wanderte prüfend umher. Bislang konnte sie nur Touristen und einige wenige Gläubige entdecken. Oder Leute, die so erscheinen wollten. Einige Augenblicke später hatte sie den Altar erreicht. Es war genau fünfzehn Uhr dreißig. Ein Mann in einem hellgrauen Sommeranzug schlenderte betont lässig den Mittelgang entlang. Unauffällig – oder was er dafür hielt – blickte er um sich. Dann glitt seine Hand in die Tasche, als sie wieder auftauchte, befand sich darin etwas Schwarzes. Lukrezia Pesaro spürte diese Eiseskälte im Magen, die sie im Laufe ihrer vielen Ermittlungen erst zweimal verspürt hatte: die Anwesenheit des Todes. Der Mann riss den schwarzen Gegenstand hoch und machte ein Foto von der Kuppel. Lukrezia atmete auf und kam sich lächerlich vor. Der Mann war zweifellos ein Gesetzesübertreter, das Fotografieren war im Inneren des Doms verboten, aber kein Killer. Erneut sah sie sich um. Noch immer näherte sich niemand. Dann sah sie es. Am Fuß des Altars war ein kleiner Umschlag angelehnt. Sie kniff die Augen zusammen, um die Aufschrift zu lesen. L. PESARO. Der Brief war für sie. Hastig sah sie sich um, ob kein Kirchenmann in der Nähe war, dann stieg sie schnell über die rote Kordel vor dem Altar und bückte sich nach dem Brief. Wenige Augenblicke später befand sie sich wieder auf der richtigen Seite der Absperrung. Instinktiv wusste sie, dass niemand mehr kommen würde. Der Brief war alles, was hier zu holen sein würde. Sie warf einen letzten Blick in die Runde, dann zog sie sich mit dem Umschlag in eine ruhige Ecke zurück und riss ihn an der Seite auf. Darin befand sich eine Karte und schon während Lukrezia sie hinauszog, begann sich ihr sechster Sinn zu melden. Hier stimmte etwas nicht. Die Karte fühlte sich seltsam an. Sie betrachtete ihre Fingerspitzen. Sie waren weiß. Auch auf ihrem Rock und auf ihren eleganten Schuhen befanden sich kleine weiße Punkte. Ihre Hand zitterte, als sie die Karte umdrehte, sie konnte sich vorstellen, was sie nun lesen würde, und sie sollte Recht behalten. Dort stand in handschriftlichen Druckbuchstaben nur ein Wort:
ANTHRAX
Ihr erster Impuls war, den Umschlag fallen zu lassen, sich die Hände abzuklopfen und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Amerikanische Regierungsbehörden bekamen ständig Briefe, in denen angeblich der hochinfektiöse Milzbranderreger Anthrax steckte. Fast nie war es tatsächlich der Fall. Normalbürger kamen gar nicht an diese hochgiftige Substanz heran, von der schon winzigste Mengen ausreichten, um tausende von Menschen zu töten. Die Briefe kamen von irgendwelchen Spinnern, die die Regierung hassten. Aber das hier war anders. Dieser Brief war konkret an sie gerichtet und es ging explizit um den Vatikanbankfall. Wer immer dahinter steckte – Vatikan, Mafia, Großbanken – diese Leute hatten die Mittel, sich Anthrax zu verschaffen. Lukrezia versuchte, sich einzureden, dass es dennoch nur ein Bluff war, ein billiger Versuch, sie einzuschüchtern, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Beine anfingen zu zittern. »Kommen Sie nicht näher!«, schrie sie ein junges Pärchen an, das gerade auf sie zu kam und nun erschrocken zurückzuckte, weil sie befürchteten, eine Verrückte vor sich zu haben. Auch zahlreiche andere Köpfe wandten sich nun in ihre Richtung. Plötzlich war ihr übel und ihre Beine fühlten sich schwach an. Hätte ihr nicht klar sein müssen, dass dies eine Falle gewesen war? Ihr ganzes Berufsleben war sie so vorsichtig gewesen. Jetzt hatte sie eine kleine Sekunde nicht aufgepasst, war nachlässig gewesen. Es war genau eine Sekunde zu viel gewesen. Warum hatte sie nicht den Umschlag vorher betastet? Oder wenigstens hineingesehen. Aber hätte das überhaupt etwas genützt? Wahrscheinlich nicht. In ihrem Geist ging alles durcheinander. Wie schnell breitete sich dieses Zeug aus? Sollte sie alle aus dem Dom scheuchen oder mussten nun alle hier drinbleiben, bis die Experten der Polizei Entwarnung geben würden? Oder auch nicht geben würden. Sie ließ den Umschlag fallen, hielt die Luft an, rieb sich langsam ihre Hände ab und stieß nacheinander beide Fußspitzen auf den Steinboden, um so viel wie möglich von dem Pulver loszuwerden. Dann trat sie einige Schritte zur Seite. Ihr war klar, dass diese Maßnahmen absolut lächerlich waren, aber sie konnte schließlich nicht einfach gar nichts tun. »Lieber Gott, lass mich bitte nicht sterben«, murmelte sie inbrünstig, obwohl sie nur Weihnachten zur Kirche ging. Dann holte sie langsam ihr Smartphone aus der Handtasche und wählte die Nummer des Notrufs.