LX

Cavelli sah Hollis’ Wagen noch einen Moment nach, dann betrat er das Flughafengebäude und studierte die große Anzeigetafel. Er konnte nicht wählerisch sein. Jeder Flug, der ihn in ein westliches Land brachte, war jetzt der richtige. Er zog sein Notizbuch und einen Stift hervor und notierte sich die Ziele und Flugnummern der ersten fünf in Frage kommenden Flüge: London, Frankfurt, Athen, Tel Aviv und Buenos Aires. Dann klapperte er die Schalter der Fluggesellschaften ab. Bei British Airways und Lufthansa waren die entsprechenden Flüge ausgebucht. Bei Aegean Airlines ergatterte er schließlich noch einen der letzten Plätze nach Athen. Er nahm gegen Aufpreis ein Ticket mit VIP-Status, das ihn dazu berechtigte, als einer der ersten das Flugzeug zu betreten. Je weniger Zeit er noch außerhalb des Sicherheitsbereichs und auf kubanischem Boden verbringen musste, desto besser. Bei der Passkontrolle musste er sich zwingen, ruhig zu bleiben. Was, wenn er bereits im System war? Was, wenn das Hotel Cecilias Tod an die Polizei gemeldet und die seinen Namen routinemäßig auf eine Befragungsliste gesetzt hatte? Wahrscheinlich war es so. Die Frage war nur, ob das bereits im Computer dieses Kontrollbeamten angekommen war. Die Prozedur schien sich ewig hinzuziehen. Erst studierte der Beamte gründlich das Diplomatenvisum, dann verglich er mehrmals Cavellis Gesicht mit seinem Passbild. Cavelli bemühte sich, harmlos auszusehen, ohne jedoch zu lächeln. Jemand hatte ihm mal gesagt, dass man sich durch Lächeln – zumindest bei Kontrollen in Russland – höchst verdächtig machte. Cavelli versuchte, im Gesicht des Mannes etwas abzulesen, doch es war ein absolutes Pokerface. Er hatte es noch bei keiner Grenzkontrolle anders erlebt. Offenbar wurden diese Leute speziell in Ausdruckslosigkeit geschult. Endlich war es so weit, der Beamte klappte den Pass zu und schob ihn Cavelli unter der Trennscheibe zurück. Cavelli bedankte sich und ging, die erste Hürde war geschafft, aber erst, als er auch den Sicherheitsbereich durchlaufen hatte, begann er, sich etwas ruhiger zu fühlen. Bis zu seinem Abflug waren es noch über vier Stunden. Er betrat ein Flughafenlokal, verzog sich in die hinterste Ecke und bestellte eine Ropa Vieja, einen kubanischen Rindfleischeintopf mit Gemüse. Es fühlte sich an, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Einige Stunden saß er einfach nur da, zählte die Minuten, bis er das Land verlassen haben würde, und beobachtete die Umgebung.

Es dämmerte schon, als er sich zu seinem Gate begab. Alle Sitzplätze dort waren bereits besetzt. Cavelli lehnte sich an eine Wand und schloss die Augen. Er war so ungeheuer müde. Für einige Momente kamen ihm die Ereignisse der letzten Stunden nicht real vor. Gift im Kaffee? Die russische Botschaft? Ein Angriff mit einer Mikrowellenwaffe? Russische Killer? Das klang nach einem billigen Kriminalroman. Normalerweise hätten sich für all das andere Erklärungen finden lassen. Aber Cecilia war tot. Das war eine Tatsache, die sich nicht verleugnen ließ. Und es war eine Tatsache, die seinen Verstand dazu zwang, auch all das andere zu akzeptieren, auch wenn sein Gefühl sich noch immer weigerte, dies zu tun. Dann kam ihm der Gedanke, dass er jetzt die Zeit hatte, Mattlin anzurufen und ihm ausführlich zu berichten. Der Vatikan musste erfahren, was passiert war. Cavelli ließ den Gedanken ziehen, er hatte jetzt nicht die Kraft, dieses Gespräch zu führen. Das würde er tun, wenn er wieder in Rom war. Rom. Sollte er überhaupt dahin zurückkehren? Oder würden ihn diese Leute weiter jagen? So lange, bis auch er tot war. Ihm wurde bewusst, dass es nun schon das zweite Mal innerhalb zweier Tage war, dass er ein Land fluchtartig ohne Gepäck verließ. Sah so seine Zukunft aus? Würde er sich für den Rest seines Lebens im Vatikan vergraben müssen? Dort war er verhältnismäßig sicher. Rein theoretisch war es machbar. Aber war das noch ein Leben? Er lächelte bitter, als ihm aufging, dass es das schon einmal gegeben hatte. Vom Ende des Kirchenstaates im Jahre 1870 bis zu den Lateranverträgen von 1929 hatten sich die amtierenden Päpste als »Gefangene im Vatikan« bezeichnet und ihn niemals verlassen. Kein Gläubiger außerhalb hatte sie je zu Gesicht bekommen. Aber Cavelli war kein Papst und er hatte definitiv nicht vor, wie einer zu leben. Er musste einen anderen Weg finden. Er würde sich weiterhin zur Wehr setzen, und wenn er alle Detekteien von ganz Rom engagieren musste. Es gab keine Alternative, wenn er sein altes Leben zurückhaben wollte. Er würde ...

Dann sah er die beiden Polizisten. Cavelli wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Das waren keine Beamten, die routinemäßig für die Flughafensicherheit sorgten. Diese beiden waren auf der Suche nach jemandem und instinktiv spürte Cavelli, dass er es war, den sie suchten. Jetzt kamen sie auf ihn zu. Völlig entspannt. Sie hatten keine Eile, sie wussten, dass er nirgendwo hinkonnte. Nun blieben sie vor ihm stehen. Der Größere von den beiden trat einen kleinen Schritt vor. »Senor Cavelli?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Si.« Damit waren Cavellis Spanischkenntnisse aufgebraucht, so dass er von dem Redeschwall, der nun folgte, nichts verstand. Er versuchte, dies den beiden durch einige Gesten deutlich zu machen, doch sie ließen nicht erkennen, dass sie es begriffen oder auch nur wahrgenommen hatten. Als der Größere fertig war, sahen ihn beide nur an, dann machte der kleinere eine Geste Richtung Terminal. Cavelli schluckte. Was hatte das zu bedeuten? War er verhaftet? Wurde er nun doch verdächtigt, etwas mit Cecilias Tod zu tun zu haben? Im Grunde keine abwegige Idee für die Polizei. Besonders in einer Diktatur. Warum in einem Mordfall aufwändig gegen rechtschaffene einheimische Arbeiter ermitteln, wenn man einfach einen ausländischen Kapitalisten verhaften konnte? Fall abgeschlossen. Wie hatte Adrian Hollis gesagt? »Es läuft darauf hinaus, dass Sie Ihre Unschuld beweisen müssen.« Cavelli verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Andererseits wirkten die beiden nicht besonders feindselig. Allerdings auch in keiner Weise freundlich. Aber was konnte er tun? Protestieren? Dazu fehlten ihm die Sprachkenntnisse. Er hielt seine Bordkarte hoch und deutete auf die Boardingtime auf der elektronischen Anzeigetafel. Der Kleinere schüttelte freundlich den Kopf. Fast so, als tue er Cavelli einen Gefallen, indem er ihn von der Strapaze entband, einen Interkontinentalflug anzutreten. Es half nichts, Cavelli würde mitkommen müssen. Möglichst in einer entspannten Art, die den beiden suggerierte, dass er nichts zu verbergen hatte. Natürlich ein naiver Gedanke, als wenn ihm das später etwas nützen würde, wenn er erstmal in einer Verhörzelle in die Mangel genommen würde. Hatte er hier überhaupt Recht auf einen Anwalt? Rein theoretisch wahrscheinlich schon, aber er fürchtete, dass die Praxis im Einzelfall ganz anders aussah. Während sie den Flughafen durchquerten, nahmen ihn die beiden in die Mitte. Immerhin hatten sie ihm keine Handschellen angelegt und sie hielten ihn auch nicht an den Armen fest. Das waren gute Zeichen. Oder war es nur die übliche Vorgehensweise, um einen Verhafteten aus einem Flughafen zu bekommen, ohne dass es Aufsehen erregte? Immer noch schweigend traten sie durch einen Seiteneingang ins Freie. Dort wartete ein Polizeiwagen. Cavelli musste allein auf der Rückbank Platz nehmen. Der kleinere knallte die Tür zu.

Auch die Fahrt zum Revier verlief schweigend. Noch immer wirkten die beiden Polizisten völlig entspannt. Aber was hieß das schon? Dies war nicht Amerika, wo Polizisten permanent angegriffen wurden. Kuba war eine Diktatur und in solchen war die Polizei so gefürchtet, dass sie nur sehr selten mit Widerstand konfrontiert wurde. Vielleicht war es auch einfach nur die Hitze, die sie so entspannt wirken ließ. Cavelli sah aus dem Fenster. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen, und er hatte das Gefühl, dass es quer durch die ganze Stadt ging, was er beunruhigend fand. In der Stadt gab es unzählige stark verwitterte, aber dennoch wunderschöne Gebäude. Nun kam er schließlich doch noch zu einer Stadtrundfahrt mit Sightseeing, wenn auch unter den denkbar unerfreulichsten Bedingungen. Schließlich gelangten sie zu einem Bauwerk, das wie ein altes Fort aussah. War das ein Polizeirevier oder ein Gefängnis, oder beides auf einmal? Nachdem ein stählernes Tor geöffnet worden war, fuhr der Wagen auf einen quadratischen Innenhof und hielt vor einem länglichen flachen Gebäude. Die beiden Polizisten stiegen aus, und der kleinere öffnete Cavelli die Wagentür. Während er ausstieg, sah er nach oben und fragte sich unwillkürlich, wie lange es dauern würde, bis er den Himmel wiedersehen würde. Möglicherweise nie mehr. Dann wurde er in das Gebäude geführt. Der größere wechselte mit einem Beamten hinter einem Schalter einige schnelle Worte, dann griff dieser zum Hörer und begann zu telefonieren, während man Cavelli einen Gang entlangführte und darauf eine Treppe ins Untergeschoss; das ließ nichts Gutes ahnen. In einem kleinen Raum, der bis auf vier Stühle an der Wand leer war, hieß man ihn warten. Dann wurde die Tür geschlossen. Er war allein. Cavelli atmete etwas auf; nach einer Verhaftung sah das nicht unbedingt aus. Er überlegte, ob er auf seine Vatikanische Staatsangehörigkeit und sein Diplomatenvisum hinweisen sollte, sobald wieder jemand auftauchte. Nein, besser nicht. Er wusste nicht, ob ihn das vielleicht noch verdächtiger machte. Das konnte er immer noch versuchen, wenn sich die Dinge schlecht entwickelten und er nichts mehr zu verlieren hatte.