»Wo will Linh denn hin?«, wunderte sich Michael.
»Na, die wird sich blitzschnell umziehen. Sie kann dem Meister ja wohl schlecht im Judoanzug folgen, wenn der rausgeht«, vermutete Jabali.
»Vielleicht sollten wir für sie solange Yuuto im Auge behalten«, schlug Ilka vor. »Nicht dass er weg ist, bevor Linh aus der Umkleidekabine kommt.«
Lennart kratzte sich an der Stirn. »Also ehrlich gesagt . . .«, druckste er herum.
»Was hast du?« Ilka bemerkte sein sorgenvolles Gesicht.
»Na ja«, begann Lennart leise. »Erstens geht es da zu den Umkleidekabinen.« Lennart zeigte nach links. »Linh ist aber hier entlanggelaufen.« Nun zeigte er nach schräg rechts zum Ausgang.
Die Köpfe seiner Freunde folgten seinen Richtungsanzeigen.
»Und zweitens ist weder Yuuto noch Linh zu sehen«, vollendete Jabali Lennarts Gedanken.
Ilka glotzte die Jungs mit offenem Mund an. »Ihr wollt nicht sagen, wir haben jetzt beide verloren, oder?«
Lennart und Jabali nickten.
Michael stöhnte laut auf. »O Mann, das wird ja immer schöner! Die rennt dem doch nicht im Judoanzug durch die Straßen hinterher!« Das konnte sich Michael nicht vorstellen. Zwar lief er selbst oft nur in Sportkleidung durch die Gegend, aber immerhin trug er dabei auch Sportschuhe und war nicht wie die Judoka barfuß.
Doch während ihre Freunde noch grübelten, wo Linh stecken könnte, war sie schon gar nicht mehr auf dem Gelände. Als sie gesehen hatte, wie Yamada Yuuto die Halle verließ, hatte sie spontan einen Entschluss gefasst: Sie wollte herausbekommen, weshalb der Großmeister ständig verschwand. Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, war sie ihm so, wie sie war – das hieß, noch im Judogi –, nachgerannt. Es verstieß zwar gegen die Regeln, den Judogi außerhalb des Dojo zu tragen, aber ihr war keine Zeit zum Umziehen geblieben. Nicht einmal Schuhe hatte sie sich noch anziehen können. Linh musste also nicht nur zusehen, Yuuto nicht aus den Augen zu verlieren und dabei selbst unentdeckt zu bleiben, sondern auch noch höllisch aufpassen, wohin sie trat.
Yuuto schien sich überraschend gut auszukennen und wusste offenbar genau, wohin er wollte. Doch er schien sehr darauf bedacht, genau das zu verbergen. Alle paar Meter drehte er sich um, ob er nicht beobachtet oder verfolgt wurde. Linh musste sich wie eine echte Detektivin ständig verstecken. Jetzt kauerte sie hinter einem parkenden Wagen und stellte erstaunt fest, dass der Großmeister in eine kleine Seitenstraße abbog, die zum Friedhof führte.
Kurz vor dem Eingang schaute sich Yamada Yuuto noch mal in alle Richtungen um und betrat dann das Friedhofsgelände.
In halb gebückter Haltung hastete Linh hinterher. Sie hockte sich hinter einen großen Grabstein, von dem aus sie den Großmeister gut sehen konnte, befürchtete aber, ihn über kurz oder lang in dem Labyrinth der Grabstätten zu verlieren. Keine Frage, sie brauchte Verstärkung. Gern hätte sie Ilka angerufen. Aber ihr Handy steckte in ihrer Jeans. Und die hing am Garderobenhaken in der Turnhalle.
Vielleicht konnte sie jemanden . . .? Schon entdeckte sie einen Jungen, etwa zwei Jahre älter als sie selbst, der mit seinen Eltern recht gelangweilt über den Friedhof stiefelte.
Linh machte sich zischend bemerkbar: »Psst!«
Der Junge reagierte nicht.
»Psssssst!«, wiederholte Linh.
Jetzt blieb er stehen und sah sich um.
»Pssssssssst! Psssssst!«
Linh kam halb hinter dem Grabstein hervor und winkte den Jungen zu sich. Der konnte es gar nicht glauben, tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust und fragte mit stummem Blick, ob er gemeint war.
Linh nickte und winkte heftig.
Der Junge schaute kurz zu seinen Eltern, die einige Meter vor ihm gingen und ihren Sohn im Moment nicht beachteten, und lief auf Linh zu. Die zog ihn sofort hinter den Grabstein, warf noch rasch einen Blick nach dem Großmeister, der sich nun seltsamerweise gar nicht mehr weiterbewegte.
»Hast du ein Handy?«, fragte Linh den Jungen.
»Natürlich! Wieso?«
»Darf ich mal telefonieren?«
»Spinnst du? Weißt du, was das kostet? Wieso willst du mit meinem Handy telefonieren?«
Linh zeigte an sich herunter. »Ich muss meine Eltern anrufen.«
»Wieso bist du denn überhaupt barfuß und im Judoanzug hier?«
»Gute Frage«, gab Linh zu. »Leider kann ich dir das jetzt nicht erklären. Also, was ist: Kann ich oder nicht?«
Der Junge überlegte kurz, dann hatte er sich entschieden: »Okay, aber nur ganz kurz. Ich hab nicht mehr viel Geld auf der Karte! Und meine Eltern . . .«
»Super. Du bist echt nett!«
Und schon hielt Linh das Handy des Jungen in der Hand und tippte eilig Ilkas Nummer. Schnell erklärte sie Ilka, warum sie dringend Hilfe bräuchte und wo sie sich befand.
»Eingang West oder Ost, welcher Bereich?«, fragte Ilka nur, und dann: »Wir sind schon unterwegs!«
»Ach, und noch etwas!«, fiel Linh ein. »Kannst du meine Schuhe mitbringen?«
Der Junge sah sie mit großen Augen an.
»Danke!«, sagte Linh und gab dem Jungen das Handy zurück.
»Das waren deine Eltern?«
Linh lächelte ihn an und zuckte mit den Schultern. »Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Deine suchen dich übrigens schon.«
Der Junge sah sich erschrocken um. Weit vorne, schon fast auf der Höhe des Großmeisters, standen seine Eltern und verrenkten sich die Hälse auf der Suche nach ihrem Sohn. Ohne sich weiter zu verabschieden, düste er los, was Linh nur recht war.
Noch immer stand Yamada Yuuto am selben Fleck. Linh schaute sich um. Sie befanden sich in einem Bereich des Friedhofes, in dem die Gräber erst in den letzten Monaten und Wochen eingerichtet worden waren. Vor einem dieser Gräber stand der Großmeister nun schon seit geraumer Zeit. Und vielleicht, so hoffte Linh, blieb er noch so lange dort stehen, bis ihre Freunde kamen.
Yamada Yuuto schien andächtig zu beten. Das Grab war das einzige weit und breit, das nicht mit Blumen oder Kränzen geschmückt worden war. Keine weißen Bänder mit letzten Worten an den Verstorbenen, kein einziger Gruß eines Hinterbliebenen. Dort konnte nur jemand begraben sein, der sehr einsam gelebt hatte, ohne Familie oder Freunde und Bekannte.
Irgendwann verbeugte Yamada Yuuto sich vor dem Grab und ging drum herum. Er untersuchte die Grabumrandung, die Rückseite des Holzkreuzes und sogar den Boden direkt neben dem Grab. Er schien die ganze Grabstätte einer Art Inspektion zu unterziehen.
Was sucht der da?, fragte sich Linh gerade, als Jabali und Michael den Friedhofseingang erreichten. Sie hatten einen kleinen Sprint eingelegt. Linh konnte sie schon aus der Ferne erst hören und dann auch sehen. Die Jungs erreichten Linh und der Großmeister wandte sich vom Grab ab und machte sich wieder auf den Weg Richtung Ausgang.
»Seht ihr das Grab mit dem schlichten Holzkreuz?«, fragte Linh die Freunde und erzählte, was der Großmeister dort gemacht hatte. »Schaut euch doch mal um, wer da liegt oder ob es dort irgendetwas Besonderes gibt! Ich folge ihm, bevor er wieder ganz verschwindet. Wenn ihr fertig seid, kommt nach!«
»Machen wir!«, stimmte Jabali zu.
»Ich brauche noch ein Handy von euch, damit wir in Verbindung bleiben können«, fiel Linh ein.
»Nimm Jabalis!«, schlug Michael sofort vor.
»Wieso meines?«, wollte Jabali wissen. »Sie kann ebenso gut deines nehmen.«
»Mensch, Leute! Ich telefoniere schon nicht nach Saigon!«, schnauzte Linh die beiden an.
Wortlos reichten sie Linh ihre Handys. Linh entschied sich für Michaels. Der verzog das Gesicht, aber nur kurz.
»Wo sind Lennart und Ilka?«, wollte Linh noch wissen. »Halten sie die Stellung in der Schule?«
»Welche Stellung denn?«, fragte Michael verblüfft. »Da passiert überhaupt nichts.«
Da tauchten Lennart und Ilka auch schon auf. Linh rannte den beiden entgegen. »Gut, dass ihr da seid!«, empfing sie sie und wandte sich gleich an Ilka: »Hast du meine Schuhe?«
»Ja klar!«, antwortete Ilka und hielt Linh eine Tüte hin. »Aber erzähl erst mal, was passiert ist.«
»Ich muss los!«, drängte Linh, schüttete die Schuhe aus der Tüte. »Keine Socken?«
»Schuhe, hast du gesagt«, entgegnete Ilka.
Linh nickte, während sie sich eilig ihre Schuhe anzog. »Schon okay. Jabali erzählt euch alles.« Und schon war sie weg.