Prolog

Alaric Grayson Thorne

In den dreihundertneunundzwanzig Jahren, die ich bereits in diesem Körper verbrachte, hatte ich gelernt, die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Die Eleganz der filigranen Buntglasfenster in den Mauerbögen und das Farbspektrum, das ihr Licht auf die dunklen Steinfliesen in den Gängen der Hollow’s Grove University warf, gehörten zu diesem Genuss dazu. Der verlockende Hexenblutgeruch der Botin, die mich zum Tribunalraum führte, konnte dieser Schönheit nichts anhaben.

Das Bündnispaar, der Covenant, würde nicht lange warten, nicht einmal auf den Mann, den sie zum Direktor ihrer kostbaren Schule ernannt hatten. Spinnweben und Staub bedeckten den Weg vor uns, und ich rümpfte die Nase darüber, wie sehr die Universität in den vergangenen fünfzig Jahren, seit ich sie zum letzten Mal betreten hatte, verwahrlost war.

Die Hexe an meiner Seite blieb am Ende des Gangs vor dem Tor zum Tribunalraum stehen. Sie fuhr mit einer sorgfältig manikürten Hand über das Schloss und sah dann zu, wie sich der Mechanismus aus Eisen und Gold in Bewegung setzte. Langsam drehten sich die Zahnräder und griffen so ineinander, dass der Rest der Verriegelung sich ebenfalls bewegte. Die Sperre, die über die Nahtstelle zwischen den beiden Türflügeln hinwegging, zog sich schlussendlich zurück. Das leichte Klacken beim Öffnen war für die Hexe das Signal, den Türknauf zu ergreifen.

»Wie viele Generationen trennen dich und George Collins’ Schwester eigentlich?«, wollte ich von ihr wissen und die Hexe schürzte beim Blick zurück über die Schulter die Lippen.

»Neun Generationen liegen zwischen dem Covenant und mir«, gab sie mit einem spöttischen Grinsen zurück.

Die Hexen reagierten immer sehr gereizt, sobald man das Gespräch darauf brachte, was aus dem untoten Paar geworden war, aus den beiden Hexen, die sie über die Jahrhunderte hinweg angeführt hatten.

Susannah Madizza und George Collins gab es nicht mehr – sie waren durch die beiden Teile des Covenant-Bundes ersetzt worden, als Charlotte Hecate sie aus ihren Gräbern erweckt hatte.

»Wie schade«, erwiderte ich grinsend. »Sarah Collins war zu ihren Lebzeiten recht reizvoll. Es ist bedauerlich, dass sie diese Eigenschaft nicht an ihre Nachkommen weitergeben konnte.«

Das Gesicht der Hexe erstarrte vor Schreck, während ich durch die nun geöffnete Tür trat. Ich wendete mich nach rechts in Richtung Tribunalraum, in dem der Covenant auf mich wartete. Meine Begleiterin blieb an der Tür stehen, ganz das brave kleine Hündchen, zu dem ihre Ur-, Ur-, Ur-, oder wie auch immer Großmutter sie erzogen hatte.

»Das sagt der Richtige, du untoter Mistkerl!«, rief sie mir hinterher.

Ich zupfte die Jacke meines Anzugs zurecht und strich das Revers glatt, ergriff dann beide Eingangstüren zum Tribunalraum und öffnete sie rasch.

Das Covenant-Paar saß in den vergoldeten Stühlen, die es vor Jahrhunderten hatte anfertigen lassen, und die Knochenfinger des Wesens, das einst Susannah Madizza gewesen war, umfassten die Lehne. Die Kapuze rutschte ein wenig beiseite und so fiel durch das Kaleidoskopfenster an der Seite der runden Kammer etwas Sonnenlicht auf das, was von Susannahs Gesicht übrig geblieben war.

Das Fleisch war schon vor langer Zeit von ihrem Körper abgefault. Zurück blieb nur die hagere Gestalt eines Skeletts, das meinen Blick erwiderte. Ihr Nacken war in einem unnatürlichen Winkel geneigt, und zwar genau dort, wo die Knochen gebrochen waren, als man sie erhängt hatte. Dieser winzige Knick belegte nach all den Jahren noch immer die Art und Weise ihres Todes.

Susannahs Augenhöhlen blieben leer, auch wenn es so wirkte, als könnte sie mich sehen . »Sie quälen wieder einmal unseren Nachwuchs, Direktor Thorne?«, fragte sie mit dieser schaurigen, alterslosen Stimme, die den Raum zwischen uns füllte. Sie tippte mit dem Knochenfinger in einem gleichförmigen Stakkato auf die Lehne ihres Stuhls, was mir wie ein Angriff auf meine Ungeduld vorkam.

Die andere Hälfte ihrer Magie saß neben ihr, das männliche Gegenstück zu ihrer Weiblichkeit.

George Collins hatte keine Nachkommen, für die er sich hätte einsetzen können – was mit der Prophezeiung zusammenhing, die die Regeln des Hexenzirkels, des Coven, festlegte, wonach Hexer zur Wahl gezwungen waren: Kinder oder Hexenkunst.

Genau wie Susannah war er ein Skelett, doch sein Hals neigte sich zur anderen Seite. Dort, wo ich seine Knochen erkennen konnte, waren sie durch tiefe Kerben von Hieben gezeichnet, ein bleibender Beweis für die Folter, die er in den Stunden vor seinem Tod hatte erdulden müssen.

»Ich darf annehmen, dass Sie mich nicht hierher bestellt haben, um meinen Umgangston mit Ihrer Großnichte zu diskutieren, Covenant«, vermutete ich durch zusammengebissene Zähne.

Ich und meinesgleichen, wir Hüllen, waren nicht dazu bestimmt, irgendjemandem unterwürfig zu sein, doch die Magie, die uns an das Fleisch unseres leiblichen Gefäßes band, machte uns abhängig von den Hexen, sofern wir jemals den Körpern entkommen wollten, die uns gefangen hielten.

Wir hatten einst gedacht, es sei ein Segen, niemals eine neue Form annehmen zu müssen, dafür einen Körper zu haben, der uns für die Ewigkeit aufnehmen konnte.

Wir hatten uns getäuscht.

»Wir haben uns entschieden, die Universität wieder neu zu eröffnen«, erklärte George, bevor sein weibliches Gegenüber etwas einwenden konnte. »Wir alle brauchen frisches Blut. Die besondere Beobachtung, unter der nach jenem Tag alle standen, hat schon lange nachgelassen.«

»So sehr auch ich frisches Blut begrüßen würde, um mich davon zu ernähren, so muss ich doch auf Vorsicht bestehen, wenn es darum geht, die Tore wieder zu öffnen. In dem Moment, in dem wir hier wieder unterrichten, werden umgehend Gerüchte die Runde machen.« Ich sah zwischen den beiden mich anstarrenden Skeletten hin und her.

»Zwei Generationen von Hexen mussten ihre Magie zurückgezogen in ihren eigenen vier Wänden erlernen«, wandte Susannah ein und erhob sich von ihrem Thron. Der schwarze Umhang hüllte sie ein und verbarg ihre Knochen vor meinen Blicken, während sie die Stufen des Podiums herabstieg. »Es wird Zeit, dass sie wieder anständig ausgebildet werden. Wir werden jedes Jahr zwölf neue Schülerinnen und Schüler von außerhalb von Crystal Hollow aufnehmen und wir haben sie persönlich ausgewählt, anhand der bei ihnen entdeckten Kräfte. Es wird keine offizielle Ankündigung geben.« Sie hielt eine Liste in der Hand, auf der in ihrer unordentlichen Handschrift die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten standen, die sie erwählt hatten.

»Wer garantiert uns, dass wir keine Wiederholung des letzten Mals erleben werden?« Ich dachte bei dieser Frage tatsächlich bloß an die Sicherheit von all jenen meiner Art. Obwohl wir nur schwer zu töten waren, so hatten doch sogar einige von uns bei dem Massaker, das sich vor fünfzig Jahren ereignet hatte, erheblichen Schaden genommen.

»Wenn wir unsere Tore nicht wieder öffnen, werden die Hexen niemanden finden, um sich fortzupflanzen. Und sollten wir aussterben, stirbt auch Ihre Art aus. Vergessen Sie nicht, dass Sie alle das Blut unseres Volkes brauchen, um zu überleben, Alaric.« Mit diesen Worten wendete sich Susannah von mir ab und ging zum verwaisten Thron zurück.

Ich biss mir auf die Lippen und zwang meinen Körper zu einer angedeuteten Verbeugung. »Als würden Sie mir jemals erlauben, das zu vergessen«, erwiderte ich und zerdrückte die Liste in meiner Hand. »Auch wenn Sie sich vielleicht intensiver mit der Überlegung beschäftigen sollten, weshalb die Anzahl der Hexen schneller abnahm, als von uns erwartet. Ich frage mich, wie das nur geschehen konnte, Covenant.«

Ich drehte mich um, ohne eine Antwort auf das Spiel zu erwarten, das wir hier spielten. Die Muskeln in meiner Wange zuckten, sobald sie mich nicht mehr sehen konnten.

Verfickte Hexen.