Willow
Zwei Monate später
Geflüsterte Worte riefen mich, schwebten unmittelbar außerhalb meiner Reichweite. Ich konnte nicht mehr als das gedämpfte Gemurmel der Toten wahrnehmen, konnte die Worte nicht verstehen, die sie mir mitzuteilen versuchten.
Nicht einmal für die Frau, die vor mir im Sarg lag, konnte ich die Magie ergreifen, die in Wahrheit noch nicht mir gehörte. Wenn ich meine Augen lange genug geschlossen hielt, konnte ich mir vielleicht einreden, dass die letzte Woche ein Traum gewesen war. Der Spuk eines Albtraums, ein Hirngespinst meiner schlimmsten Fantasie, genau der Tag, für den ich ausgebildet worden war.
Und der, dem ich einfach nur entkommen wollte.
Das Geraune hinter meinem Rücken existierte in einer Blase, abgetrennt von dem schwachen Summen, das die Stimme meiner Mutter bildete; fast war es, als hätte ich es geschafft, mich von den Lebenden abzuspalten, um sie zu hören. All die Leute, die sonst hinter dem Rücken meiner Mutter getuschelt hatten, warteten nun in der Schlange darauf, sich von der Frau zu verabschieden, die sie nie verstehen würden. Selbst das konnte mich jedoch nicht dazu bringen, die Augen zu öffnen.
Ich stand da, die Füße schulterbreit auseinander in den Boden gestemmt, eine Angewohnheit, die mir mein Vater mein ganzes Leben lang eingeimpft hatte. Ich war auf alles gefasst; darauf, dass ein Jäger jederzeit angreifen könnte – oder auf etwas noch Schlimmeres. Die Fliesen unter meinen Schuhen waren unnatürlich, eine Barriere. Sie hielten mich davon ab, das Einzige zu berühren, mit dem sich meine Seele vollständig fühlte.
Die Erde unter meinen Füßen.
»Low«, sagte eine dünne Stimme.
Eine Hand glitt in meine, viel kleinere Finger verschränkten sich in einem Muster, das wir gut kannten. Ash blieb an meiner Seite, auch nachdem er meinen Namen gesagt hatte, und gab mir die Chance, mich zu beruhigen. Um die Kraft zu stoppen, die mich zu verschlingen drohte. Zu seiner eigenen Sicherheit hatten wir meinen Bruder vor dem Wissen geschützt, was wir waren. Vor dem, was ihn erwarten würde, wenn er jemals seine Magie entdeckte und den Coven auf uns hetzte.
Ich hätte diejenige sein sollen, die stark für ihn war. Schließlich war es nicht nur meine Mutter, die vor aller Augen verrottend in einem Sarg lag, sondern auch seine.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und betrachtete die Bilder unserer Mutter und unserer Familie. Lächelnde Gesichter starrten in die Menge und sahen trügerisch menschlich aus. Als ob wir hierher gehörten – obwohl das einzige Zuhause, das wir je wirklich hatten, uns niemals in seine Mitte aufgenommen hätte, hätten sie gewusst, was wir waren.
Die Herzen der Menschen waren nur begrenzt in der Lage, Verständnis zu zeigen. Sie neigten dazu, vor echter Hexerei zurückzuschrecken, wenn man als Maßstab die Prozesse nahm, die meine Vorfahrinnen und Vorfahren fast ausgelöscht hatten.
Ich warf einen einzigen, langsamen Blick auf das Gesicht meiner Mutter und zog eine Grimasse, denn ich wusste wieder, warum ich meine Augen geschlossen hatte – um meine Verärgerung niederzukämpfen.
Ihr Lippenstift war falsch. Die Farbe war viel zu rot und auffällig für meine Mutter, die es immer vorgezogen hatte, sich im Hintergrund zu halten. Es war leicht zu erkennen, dass die Person, die sie auf ihre Beerdigung vorbereitet hatte, sie überhaupt nicht gekannt und darum auch die Lachfalten überdeckt hatte. Sie hatte sie wertgeschätzt als ein Ergebnis ihres glücklichen, erfüllten Lebens, das sie frei vom Coven geführt hatte, der sie nur unter größtem Protest zurück nach Crystal Hollow hätte schleppen können.
Es war schon schlimm genug, dass sie nach menschlichem Brauch begraben werden musste – ihre Überreste in einer Kiste in der Erde gefangen, die sie von den Elementen aussperrte –, es sei denn, mein Vater hielt seinen Teil der Abmachung ein. Solange das Grab noch frisch war, sollte er sich mitten in der Nacht auf den Friedhof schleichen, sie auf dem Sarg zur letzten Ruhe betten und noch einmal begraben, damit sie Frieden finden konnte.
Ich griff schnell nach vorne, packte das Amulett, das sie um ihren Hals trug, und zog daran, bis die Kette riss. Das Amulett löste sich, während die flüsternden Idioten hinter mir schockiert aufstöhnten. Aber Ash an meiner Seite blieb unbeeindruckt, als ich schließlich zu ihm hinunterblickte.
Seine braunen Augen waren ein perfektes Spiegelbild von denen meiner Mutter, hätte sie nur ihre Lider geöffnet; sie waren so ganz anders als meine, dank unserer verschiedenen Väter. Ash hatte jedoch das gleiche mahagonifarbene Haar, das so dunkel war, dass es fast schwarz wirkte, und die hellen Lichter des Bestattungsinstituts brachten den warmen Ton darin leicht zum Schimmern.
»Lass uns hier verschwinden«, sagte ich und deutete mit dem Kopf zum Eingang der Empfangshalle. Ash nickte schwach und warf einen letzten zögernden Blick auf unsere Mutter.
Wir wussten beide, was jetzt kam. Sie hatte mir klare Anweisungen gegeben, was ich mit Ash tun sollte, wenn sie schließlich der Krankheit erlag, die ihren Körper geplagt und sie Stück für Stück von uns genommen hatte.
Ash ließ meine Hand los und bahnte sich den Weg durch die Kirchenbänke in Richtung Ausgang. Er reckte den Kopf auf eine Weise, die mich fast zum Schmunzeln brachte, denn seine Wildheit erinnerte mich so sehr an die von Mom. Ich drängte den Gedanken zurück, als die Leute um mich herum über den Tod flüsterten, der uns folgte, über die Tatsache, dass jeder, der meinem Bruder und mir zu nahe kam, viel zu früh im Grab endete.
Die Magie hatte die Angewohnheit, sich durch die Umgebung einer Hexe zu brennen, wenn man sie nicht nutzte, und schließlich wandte sie sich gegen die Hexe selbst, wenn man sie zu lange ignorierte.
So war es auch bei meiner Mutter gewesen.
Schlamm bedeckte die weißen Fliesen auf dem Boden, als wir uns dem Ausgang näherten, und blieb an den Schuhsohlen derer haften, die gekommen waren, um sich von meiner Mutter, Flora Madizza, zu verabschieden.
In gewisser Weise war es passend, dachte ich. Schon bald würde Flora in die Erde zurückkehren, aus der sie gekommen war. Sie würde in den Grund gebettet werden, wenn mein Vater ihren letzten Wunsch erfüllte. Endlich würde sie an dem Ort zu Hause sein, der ihr Frieden schenkte, und ihre Kraft würde wieder in die Natur aufgenommen, mit der wir verbunden waren.
Eine Hand packte meinen Unterarm, als ich auf den Ausgang zuhastete, meinem Bruder hinterher, der sich beeilte, der erstickenden Enge zu entfliehen, in einen Raum mit so vielen gepfercht zu sein, die uns nicht leiden konnten. Er mochte vielleicht nicht die Angst verstehen, die so viele vor uns hegten, aber er nahm sie nichtsdestotrotz wahr.
Ich riss den Kopf herum und starrte den Mann an, der mich gepackt hatte. Seine Finger krallten sich für einen Moment an meinem Arm fest, dann schluckte er.
»Es ist Brauch, dass Sie bleiben, damit die Stadt Ihnen die letzte Ehre erweisen und Ihnen ihr Beileid aussprechen kann«, sagte er und beobachtete, wie mein Blick an seiner Brust hinunter zu der Hand wanderte, die mich unerlaubt berührt hatte.
Langsam zog er sie weg und tat so, als ob er mich nur losgelassen hätte, weil er es so gewollt hatte. Ich sah erneut zu ihm hoch und lächelte schief, als er bei dem Augenkontakt mit dem, was er sicherlich für einen Dämon hielt, zurückwich. Ich wusste das, denn ich hatte den unheimlichen Blick jedes Mal zur Kenntnis genommen, wenn ich in den Spiegel schaute. Die Bernsteinfarbe des einen Auges wäre vielleicht noch als natürlich durchgegangen, träte es nicht zusammen mit dem hellen Violett meiner linken Iris auf. Die meisten hielten es für einen seltsamen Blauton, ungewöhnlich, aber nicht unbekannt. Erst aus nächster Nähe erkannten die Menschen die Wahrheit.
Ein Geschenk aus der Abstammungslinie meines Vaters – eine Eigenschaft, die schon vor Jahrhunderten verblasst war.
»Wann habe ich mich jemals um Ihre Bräuche gekümmert, Mr. Whitlock?«, gab ich zurück und schlang meine lockere graue Strickjacke fester um mich, als die Woge seines Misstrauens über mich hinwegspülte. Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der am Ausgang wartete, und schürzte die Lippen, als ich den ersten Schritt auf ihn zu machte.
Ab jetzt würden sie mit dem Leichnam meiner Mutter anstellen können, was sie wollten, während ich weiterhin ihre Wünsche erfüllen würde, wie sie es verlangt hatte. Ash drückte sich an meine Seite, als ich ihn erreichte, dann riss ich die Tür auf, damit er durchgehen konnte. Ich warf einen letzten Blick auf den Sarg meiner Mutter und wusste, dass es bald kein Zurück mehr geben würde.
Ohne die Schutzzauber meiner Mutter würde mich das Schicksal, das meine Eltern gewählt hatten, einholen, ob ich es wollte oder nicht.
***
»Hol deine Sachen«, sagte ich und schluckte die Welle aus Emotionen hinunter, die meine Kehle zu verstopfen schien. Die Menschen in der Stadt nannten es oft »Frosch im Hals«, wegen der Heiserkeit. Ich hatte diesen Vergleich nie verstanden und fühlte mich stattdessen, als wäre es Graberde, die mich von innen heraus zu verschlingen drohte.
»Ich will nicht gehen«, flehte Ash und starrte zu mir hoch, als ich die Haustür hinter mir zuschlug. Sie ließ sich leicht schließen, völlig im Widerspruch dazu, wie das Holz in der Feuchtigkeit des Sommers aufquoll und wie schwer es dann war, es in den Rahmen zu zwängen. Ich drehte mich um und wandte Ash den Rücken zu, während ich den Riegel vorschob und die Kette vor den Spalt zog, durch den viel zu viel von der ungewöhnlich kühlen Luft hereindrang.
Im September war es normalerweise nicht so kalt, nicht einmal in unserer kleinen Stadt in den Bergen von Vermont.
Ich zog die schwarzen Ballerinas aus, die ich zu Moms Beerdigung getragen hatte, schob sie beiseite und wandte mich dann wieder meinem Bruder zu. Auch wenn Mom nicht mehr da war, und ich wusste, dass dieses Haus bald leer und verlassen sein würde, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihre Regeln zu missachten.
Regeln, um die sie sich nicht länger kümmerte.
Tränen brannten mir in den Augen, als ich mich nach vorne beugte und meine Lippen auf Ashs Stirn drückte. Ich spürte, wie er unter der Berührung seufzte und mich mit seinem Blick fixierte, als ich mich zurückzog.
»Du weißt, dass wir hier nicht bleiben können«, erklärte ich und legte einen Arm um seine Schulter. Ich führte ihn aus dem engen Eingangsbereich und hielt auf die Treppe am Eingang zum Wohnzimmer zu.
Er schüttelte mich ab und drehte sich mit finsterer Miene zu mir um. »Warum nicht? Warum willst du mir nicht sagen, wohin du gehst?«
Ich schloss die Augen, denn ich wusste, dass die Verschwiegenheit, zu der mich meine Mutter verpflichtet hatte, seinem eigenen Schutz diente. Ich wünschte nur, ich könnte ihm klarmachen, wie wenig ich mich um die Pflicht scherte, die sie mir auferlegt hatte.
Wenn es nach mir ginge, könnte mich das Schicksal mal kreuzweise.
»Ich werde es dir erzählen, wenn du älter bist. Ich verspreche es«, erklärte ich und machte mich daran, die Treppe zu erklimmen.
Ich legte meine Hand auf das alte Geländer aus Walnussholz und schaute nach oben in Richtung meines Zimmers, als ich die erste Stufe nahm. Der Drang, mich unter den Decken zu vergraben, war übermächtig. Ich wollte mich vor der Welt verstecken, vor der Verantwortung und den Erwartungen, die auf mir lasteten.
»Das sagst du schon seit Jahren! Wann ist es denn so weit?«
Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht, stieg von der Stufe herunter und ging vor Ash in die Hocke. »Wenn du sechzehn bist, werde ich dir alles erzählen. Ich verspreche es.«
»Warum nicht jetzt?«, fragte er und seine Unterlippe zitterte.
Unsere Mutter hatte nie vorgehabt, ein weiteres Kind zu bekommen, nicht nachdem sie erfahren hatte, was ich war und was das für die Menschen bedeuten würde, die mir am nächsten standen. Das Mindeste, was wir tun konnten, war, ihn mit allem, was wir hatten, zu beschützen – auch wenn das bedeutete, ihn Leuten zu überlassen, die er kaum kannte.
Bei der Familie seines Vaters zu leben, war weitaus besser, als neben mir für diese dumme, irrwitzige Pflicht zu sterben, der ich scheinbar nicht entkommen konnte.
»Ich würde dich nicht verlassen, wenn ich eine Wahl hätte. Bitte glaub mir das«, sagte ich und nahm seine Hände in meine. Ich hielt sie fest, und an den Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, erkannte ich, dass er mir wirklich glaubte. Sein ganzes Leben lang war er mein Ein und Alles gewesen. Er war derjenige, den meine Mutter benutzt hatte, um mich zu motivieren, die Magie zu praktizieren, die sich anfangs so fremd angefühlt hatte.
Das Versprechen, ihn zu beschützen, reichte mir, um zu wissen, dass es das wert war.
»Dann komm mit mir«, sagte er und grub die Zähne in die Unterlippe. »Mein Vater wird sich um dich kümmern, bis du einen neuen Job gefunden hast. Du weißt, dass er das macht.«
Ja, das würde er. Ashs Vater war nicht wie mein eigener Erzeuger. Er war ein Mensch, gut und geduldig, liebevoll und warmherzig. Er war alles, was ein Vater sein sollte, und nur wegen der Geheimniskrämerei unserer Mutter hatte er nicht mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen können. Im Gegensatz dazu hatte mein Hexenvater viel zu viel Zeit mit mir verbringen dürfen und mich mit allen notwendigen Mitteln zu einem perfekten Instrument der Rache geformt. Es gab keine Zuneigung zwischen uns, keine Wärme oder Liebe. Ich war nichts weiter als ein Mittel zum Zweck für den Mann, der mich nur aus einem einzigen Grund gezeugt hatte.
Doch Ashs Vater konnte mich nicht vor dem schützen, was kommen würde. Schlimmer noch, er konnte Ash nicht vor der Gefahr bewahren, sollte der Junge an meiner Seite bleiben.
»So einfach ist das nicht, Bug«, sagte ich, und der Kosename, den ich seit Monaten nicht mehr benutzt hatte, ging mir leicht über die Lippen. Es war der Name, den meine Mutter ihm gegeben hatte, aber ihre Krankheit hatte ihr die Fähigkeit zu sprechen genommen.
Den Namen zu benutzen, ohne dass sie da war, kam mir irgendwie falsch vor.
Moms Mantel schien an seinem Haken zu schaukeln, als würde ein Phantomwind durch das Haus wehen, und mir rieselte ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Mahnung, dass ich unmöglich mit ihnen gehen konnte, wenn sie kamen. Als letzte verbliebene Madizza-Hexe war mir mein Platz in Hollow’s Grove sicher, wenn sie Susannahs Blutlinie weiterführen wollten.
»Könnte es aber sein. Versprich es mir einfach. Versprich mir, dass wir, egal wohin wir gehen, zusammen gehen«, sagte er und grub sich noch tiefer in meine Brust. Ich zog ihn fester an mich, schluckte gegen das Brennen in meiner Kehle an und widerstand dem Drang zu schniefen.
Ich tat das, was ich mir geschworen hatte, niemals zu tun.
»Ich verspreche es, Bug«, sagte ich und drückte ihn noch fester an mich.
Ich log.