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Willow

Mein Telefon vibrierte in meiner Hand und ich erhob mich vom Tisch, ließ Ash sein Abendessen beenden. Ich verließ die Küche und ging zur Treppe, wo ich den Anruf leise murmelnd entgegennahm.

»Du weißt, dass es zu gefährlich ist, mich jetzt anzurufen.«

»Warum hast du dein Telefon oder deinen Bruder noch nicht entsorgt?«, fragte die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ich werde meinen Bruder nicht entsorgen «, schnauzte ich halblaut und blickte zurück in Richtung der Küche, wo Ash saß, während ich meine Stimme gedämpft hielt. Ich stieg langsam die Stufen hinauf und spürte, wie meine enge schwarze Jeans meine Beine einschnürte; ein Versuch, mich von der Dringlichkeit abzulenken, die ich fühlte. »Ash hat klargemacht, dass er nicht ohne mich gehen will. Wir treffen uns heute Abend mit seinem Vater an der Bushaltestelle. Er kann also helfen, wenn Ash sich weigert, ihn zu begleiten. Ich kann das Risiko nicht eingehen, ihn nach Maine zu fahren. Nicht jetzt.«

»Du hättest ihn schon vor Tagen wegschicken sollen. Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte mein Vater und seine Stimme wurde tiefer, nahm den tadelnden Ton an, den ich nur allzu gut kannte.

Größere Sorgen hätte ich mir nur dann gemacht, wenn er mit mir gesprochen hätte, ohne diesen Tonfall zu nutzen.

»Ich habe mir dabei gedacht, dass er es verdient hat, an der verdammten Beerdigung seiner eigenen Mutter teilzunehmen«, flüsterte ich, schwang meine Zimmertür zu und lehnte mich dagegen. Ich hatte eine kleine Tasche gepackt, vor allem um Ash davon zu überzeugen, dass ich ihn auf jeden Fall zu seinem Vater nach Hause begleiten wollte. Aber ich hatte sie auch mit den kleinen Stücken aus meinem Leben gefüllt, die mir etwas bedeuteten: ein Stein und eine Muschel, die meine Mutter und ich, als ich noch ein Kind war, in einem der seltenen Urlaube an einem Strand in New Hampshire gesammelt hatten. Ein Fotoalbum, das meine Mutter und ich in ihren letzten Monaten zusammengestellt hatten. Der Käfer aus Plüsch, den Ash als kleiner Junge überall mit hingeschleppt hatte und der sein Namensgeber wurde. Die getrockneten Blumen und Kräuter, die mir meine Mutter hinterlassen hatte.

Wie mir immer gesagt wurde, würde ich die Kleidung, die ich bevorzugte, nicht tragen dürfen. Die grauen und schwarzen Töne, die mich von Kopf bis Fuß einhüllten, passten nicht zu jemand Grünem. Schon allein deshalb war es sinnlos, meine eigene Kleidung mitzunehmen. Ich schlurfte mit den Stiefeln über den Teppich zu meinem Bett, setzte mich auf die Kante und stützte den Kopf in die Hand.

»Du spielst mit dem Feuer, Mädchen. Wenn sie das mit ihm herausfinden …«

»Ich weiß.« Ich seufzte und rieb mir über die Augen. Meine Fingernägel waren mattschwarz lackiert, und der Lack war an den Kanten abgesplittert. Ich runzelte die Stirn, als ich sie von meinem Gesicht wegzog.

»Wenn er unbedingt zu der Beerdigung wollte, hättest du verschwinden und woanders hingehen sollen. Sein Vater hätte ihn mitnehmen können«, erwiderte mein Vater Samuel, seine düstere Stimme wurde noch barscher. Das war der Ton, den er immer dann anschlug, wenn ich ihn enttäuschte, ein Ton, den ich viel zu oft hörte. Ich malte mir aus, wie er streng die Stirn über seinen außergewöhnlichen violetten Augen in Falten legte. Sein Haar war reines Schwarz, ohne den roten Schimmer, der an den Spitzen stärker hervortrat. Vielleicht lag es daran, dass es zu kurz geschnitten war, um die Farbe richtig zur Geltung kommen zu lassen, oder vielleicht lag es auch daran, dass die Magie ihn nicht auserwählt hatte. Vielleicht war das in Blut getauchte Haar ein Zeichen für die Hüter der Knochen, eine Aufgabe, für die mein Vater ignoriert wurde und die bis zu meiner Geburt geruht hatte.

»Du verlangst, dass ich meine gesamte Zukunft für deine Rache aufgebe. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, zu verstehen, dass ich an der Beerdigung meiner eigenen Mutter teilnehmen möchte«, erwiderte ich und ließ mich mit einem Seufzer auf meine Matratze zurücksinken.

»Es geht nicht nur um meine Rache. Sie war deine Tante, Willow«, hielt er dagegen und seine Stimme wurde so ruhig, wie es nur der Fall war, wenn er über sie sprach. Die ältere Schwester, die alles gegeben hatte, um das Wissen um seine Existenz zu schützen. Sie hatte ihren kleinen Bruder aus seiner Wiege gestohlen und ihn irgendwo weit weg vom Coven aufwachsen lassen.

So konnte ihn niemand zwingen, sich zwischen seiner Hexenkunst und seiner Fähigkeit, Kinder zu zeugen, zu entscheiden.

Jahrelang hatte mein Vater darauf bestanden, dass es die Obsession einer Hülle ins Unermessliche treiben würde, wenn ich unberührt blieb, und jahrelang hatte ich unter seinen brutalen Trainingstaktiken gelitten. Was hatte er doch für eine liebevolle Beziehung mit dieser Gabe aufgebaut und seine einzige Tochter in die Waffe verwandelt, die das tun sollte, wozu er nicht in der Lage gewesen war …

Die Knochen meiner Vorfahrinnen zu finden – die Knochen seiner Schwester und aller Schwarzen Hexen, die vor ihr gewesen waren – und sie zu benutzen, um die Hüllen unschädlich zu machen und den Covenant zu zerstören. Nur die Knochen würden es mir ermöglichen, mich der Magie der Hecate-Linie vollständig zu bemächtigen.

»Ich weiß, dass sie das war«, antwortete ich.

Auch wenn ich sie nie kennengelernt hatte, konnte ich nicht anders, als für die junge Frau Rache zu üben, die der Coven vor fünfzig Jahren ermordet hatte. Ich wollte es nur nicht so dringend, dass ich meinen Bruder nie wieder sehen würde. So sehr ich mir auch die Anerkennung meines Vaters verdienen und das eine tun wollte, wozu er und meine Mutter mich erzogen hatten, ich hätte alles stehen und liegen lassen, hätte bloß die geringste Chance bestanden, dass Ash und ich uns irgendwo an einem sicheren Ort verstecken könnten.

»Sie verdient es, Frieden zu finden, Willow«, sagte mein Vater und seine Stimme wurde leiser, bevor er fortfuhr. »Und du verdienst es, das zu bekommen, was dein Geburtsrecht ist.«

»Ich pfeife auf mein verdammtes Geburtsrecht«, gab ich zurück. Meine Freiheit und Ash waren jetzt meine einzigen Sorgen.

Das Geständnis stand zwischen uns. Das Sammeln der Knochen war ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit für meine Tante und all diejenigen, die vor ihr kamen, um den Weg nach Hause zu finden.

Die meisten Hexen des Coven schöpften ihre Kraft aus der Natur. Die Grünen, wie meine Mutter, zogen sie aus der Erde, die Weißen aus Kristallen und die Gelben aus dem Feuer.

Aber bei den Schwarzen war es anders.

Wir generierten unsere Kraft aus den Knochen unserer Vorfahren, aus der Magie, die nur in unserer Blutlinie vorkam. Ohne diese Knochen waren wir nichts und sie waren irgendwo innerhalb der Grenzen von Crystal Hollow sicher verborgen.

Ich spürte sie – ich wusste, dass sie existierten. Jeder kluge Mensch hätte sie mit Salz verbrannt, als sie die letzte von uns getötet hatten, nur um sicherzugehen, aber stattdessen hatte jemand sie aufbewahrt.

Es war ein perverses Sammlerstück, hundertprozentig.

Die Knochen der letzten der Totenbeschwörerinnen.

Als mein Vater wieder sprach, schnaubte ich, denn seine Worte waren ein Wiederkäuen all dessen, was er im Laufe meines Lebens gesagt hatte. Ich war zu jung, um mich daran zu erinnern, wie er mir die Grundlagen der Beschwörung beigebracht hatte, wie ich mein Blut und die Knochen meiner Vorfahrinnen benutzen konnte, um die Toten zu erwecken.

»Kannst du dir vorstellen, was ich dafür geben würde, der Hexer zu sein, der von unseren Vorfahren dazu auserkoren wurde, die Knochen zu tragen?«

»Ich habe da eine gewisse Ahnung«, antwortete ich und ließ die Bitterkeit in meiner Stimme durchschimmern. Ich wusste genau, was er dafür geben würde, auserwählt zu werden.

Er würde ihnen mich dafür geben. Er würde mich innerhalb eines Atemzugs dafür opfern, wenn er glaubte, dass die Knochen an das einzige verbliebene Mitglied der Hecate-Linie fallen würden. Deshalb hatte er nur ein Kind bekommen, damit ihm nur eine Person im Weg stehen würde.

Das Opferlamm.

Er hat ihren Ruf nie gespürt. Er hörte nicht, wie sie ihm in der Nacht zuflüsterten, wenn es eigentlich still sein sollte.

Um Ashs willen durfte das nicht passieren. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass ich eines Tages entweder meinen Vater töten würde oder zuließ, dass er mich tötete.

Das Klingeln an der Tür bewahrte uns davor, diese Wirklichkeit anzuerkennen, denn ich setzte mich schnell auf und blickte zur Tür.

»Scheiße«, zischte ich und hoffte zum ersten Mal, dass es nur eine nervige, neugierige Nachbarin war, die mit einem Auflauf auftauchte, um ihre Nase in unsere Angelegenheiten und meine Pläne zu stecken, wie ich mir das Leben für Ash und mich ab jetzt vorstellte.

Mein Vater legte ohne ein Wort auf. Es gab keinen rührenden Abschied – auch wenn er wusste, dass er mich vielleicht nie wiedersehen würde, sollte die Person vor der Tür stehen, von der ich befürchtete, dass sie es war. Die Chance war groß, dass ich die Hollow’s Grove University nicht überleben würde. In dem Moment, in dem meine Mutter gestorben war, hatte ihr Schutzzauber, der mich vor dem Augenmerk der anderen verbarg, Risse bekommen und war im Laufe einer Woche zusammengebrochen. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis der Coven mich erspürte und jemanden schickte, der mich abholte und an die berühmte Universität schleppte, die man nur auf Einladung betreten durfte.

Ich eilte zur Tür und weiter zur Treppe. Meine Erleichterung war fast greifbar, als Ash sich im Haus nicht rührte und außer Sichtweite blieb. Man hatte ihm schon vor Jahren verboten, zur Tür zu gehen, um ihn zu schützen, und so atmete ich erleichtert auf, während ich meinen grauen Pullover zurechtzupfte und die Treppe hinuntereilte.

»Geh in die Küche und halt den Kopf unten«, flüsterte ich und scheuchte ihn so weit wie möglich von der Haustür weg.

Er tat wie ihm geheißen und versteckte sich in der Küche, blieb aber in der Nähe der Tür, um zu hören, was geredet wurde.

Seine Neugierde würde noch mein Ende sein.

Ich atmete tief ein und versuchte, mir weiszumachen, dass es nur Mrs. Johnson war, die auf der anderen Seite stand. Dass sie nachsehen wollte, ob wir schon gegessen hatten, und uns noch eine Lasagne brachte. Ich legte eine Hand auf den vergoldeten Türknauf und schaute auf das Amulett hinunter, das ich mir bereits um den Hals gehängt hatte. Die Kette war unwichtig, aber der schwarze Turmalin, der sicher in dem roségoldenen Drahtkäfig steckte, würde mich vor Zwang schützen. Alle Hexen im Coven trugen sie, wenn sie volljährig wurden, und ich wäre verdammt fahrlässig, würde ich es riskieren, jemandem die Tür ohne die Kette zu öffnen.

Mit der freien Hand griff ich nach oben und löste die Türkette und den Riegel. Ich drehte den Knauf und vergewisserte mich mit einem letzten Blick hinter mich, dass Ash nirgendwo zu sehen war, dann öffnete ich die Tür einen Spalt und spähte nach draußen.

Ich schluckte, als mein Blick auf dem Mann landete, der auf der Veranda stand. Er war allein und seine Lippen waren zu einem dünnen Lächeln verzogen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass es beruhigend wirken sollte, als er die Anspannung, die hinter dieser ungewohnten Geste lauerte, aus seinen vollen Lippen löste.

Das war definitiv nicht Mrs. Johnson.

Die Kraft, die von ihm ausging, machte klar, dass er nicht meine neugierige Nachbarin war und auch kein Mensch, und schon gar nicht wirklich lebendig. Seine Augen blitzten auf, als sein Blick auf meinen traf, und das Stahlblau darin verdunkelte sich für einen Moment, ehe er zu dem Amulett auf meiner Brust sah. Mir stockte der Atem, als dieser glühende Blick über meinen Körper wanderte, und es sich anfühlte, als strichen Krallen leicht über meine Haut.

Er war wunderschön und verheerend – eine Naturkatastrophe, die nur darauf wartete loszubrechen.

Seine Haut war makellos, kein Fleck und keine Narbe zu erkennen. Sein Mund war üppig, aber maskulin, die perfekten weißen Zähne blitzten hervor, während er versuchte, unscheinbar zu wirken. Er trug einen Anzug, der sich für meine Veranda in den Wäldern von Vermont viel zu schick ausnahm, doch er passte irgendwie zu ihm. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas so Alltägliches wie eine Jeans seine sehnigen Muskeln verdeckte, denn seine ätherische, überweltliche Schönheit stach so hervor, als wäre er ein in Ungnade gefallener Engel. Mein ganzes Leben lang war ich zu seltsam gewesen, nicht menschlich genug, aber plötzlich fühlte ich mich schrecklich menschlich angesichts der unsterblichen Kreatur vor mir.

»Miss Madizza, nehme ich an?«, fragte er mit tiefer, rauer Stimme, während er seinen Kopf langsam zur Seite neigte. Sein Blick wanderte immer wieder an meinem Körper hinunter, glitt über meinen Bauch und meine kräftigen Oberschenkel, bis sein Lächeln breiter wurde, als er die Kampfstiefel an meinen Füßen bemerkte.

»Reden Sie mit mir? Oder mit meinen Füßen?«, erkundigte ich mich und zog meinen Pullover eng über meiner Brust zusammen. Sein Blick wanderte langsam und träge wieder nach oben. Er hatte es nicht eilig, mir noch einmal in die Augen zu sehen. Auch wenn ich ihm verbal auf die Finger geklopft hatte, erlaubte ihm die Arroganz eines jahrhundertelangen Lebens, sich auf eine Art und Weise zu benehmen, die nicht den Anstandsregeln entsprach.

»Ich rede auf jeden Fall mit dir«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lehnte sich mit der Schulter an die Eisensäule, die das Dach der offenen Veranda stützte, und machte es sich in dem Bereich, der eigentlich mir gehören sollte, viel zu bequem.

»Was wollen Sie von Miss Madizza ?«, fragte ich und widerstand dem Drang, meine Finger um mein Amulett zu schlingen. Die beste Chance, Ash in Sicherheit zu bringen, bestand darin, so zu tun, als wüsste ich nicht, wer sie waren. Auch wenn sie mich bereits gefunden hatten. Wenn ich meine Unschuld vortäuschte, konnte ich meinen Bruder vielleicht rausschmuggeln.

»Ich vertrete eine angesehene Universität. Wir bieten ihr die einmalige Gelegenheit, zusammen mit den besten und klügsten Schülerinnen und Schülern ihres Jahrgangs am Unterricht teilzunehmen. Könnte ich vielleicht reinkommen, um das zu besprechen?«, fragte der Mann und stieß sich mit der Schulter vom Geländer ab. Er machte einen Schritt auf mich zu, als ich durch den Rahmen hinaustrat, die Tür hinter mir zuzog und ihm so den Weg versperrte.

»Nein«, sagte ich und mein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

Zu schnell.

Er hob die Augenbrauen und seine Lippen öffneten sich leicht, als er sich mit der Zunge über die unteren Zähne fuhr. Ich lächelte, um den Nachdruck in meiner Stimme abzumildern, und schluckte meine Angst herunter, einem Raubtier so nah zu sein. Er trat einen weiteren Schritt auf mich zu und blieb stehen, als er so nahe war, dass ich meinen Kopf neigen musste, um zu ihm aufzuschauen.

»Heutzutage kann ein Mädchen nicht vorsichtig genug sein. Ich bin sicher, Sie verstehen das«, erwiderte ich und konzentrierte mich auf den Rhythmus meines Herzschlags.

Ich atmete tief ein und dann wieder aus.

Mein Amulett wurde warm an meiner Brust, als er auf mich herabschaute und meinen Blick festhielt, während er versuchte, mir seinen Zwang aufzuerlegen. Ich tat so, als ob ich es nicht spüren würde, als ob der Kristall nicht alles bestätigte, was ich bereits anhand seiner unnatürlichen Schönheit vermutet hatte.

Hülle .

Er musterte mich eingehend, seine stahlblauen Augen waren entflammt. Von so Nahem war ich fasziniert von dem goldenen Ring, der die Pupille seines Auges umgab, ein Funken Wärme in seinem sonst so kalten Blick.

»Natürlich«, murmelte er und verzog seine Lippen zu einem sorgfältig kontrollierten Lächeln. Er hatte jahrhundertelang geübt, um keine Fangzähne zu zeigen, die selbst die dümmsten Menschen in Panik versetzen würden.

»Die Hollow’s Grove University heißt dich in zwei Tagen herzlich willkommen.« Er warf einen Blick über meine Schulter auf das Haus. Meine Mutter hatte zu keinem Zeitpunkt zugelassen, dass es verfiel, und sich darum gekümmert, auch wenn das hier kein Buckingham Palace war, aber die Verachtung, mit der er die alternde Fassade betrachtete, ließ meine Kehle vor Wut kribbeln. »Es ist die Art von Gelegenheit, bei der ein Mädchen wie du dumm wäre, sie so leichtfertig auszuschlagen.«

Ich verlagerte das Gewicht und wandte meinen Blick nach unten, während ich ungläubig lächelte. »Ein Mädchen wie ich? Was genau soll das heißen?«

»Eine Waise«, sagte er und ließ mich für keine Sekunde aus den Augen, als das Wort über seine Lippen kam. Es gab weder Anteilnahme noch Mitgefühl für meinen kürzlichen Verlust, nur diese sachliche Aussage, die mir Tränen der Wut in die Augen trieb.

»Muss man nicht ein Kind sein, um als Waise zu gelten?«, fragte ich und bohrte meine Zähne in die Innenseite meiner Wange. Ich beugte mich nach vorn und kam ihm diesmal zu nah. Seine Nasenflügel blähten sich, als ich dichter rückte, und der Geruch meines Blutes erfüllte zweifellos seine Lunge. »Wenn ich ein Kind bin, zu was macht es Sie dann, wenn Sie mich andauernd so angaffen?«

»Du bist kein Kind«, sagte er und sein Kiefer spannte sich an, als ich seinen Blick herausfordernd erwiderte. »Ich hätte diesen Begriff nicht benutzen sollen. Ich meinte nur, dass du plötzlich auf dich allein gestellt bist. Ein Ort, an dem du neu anfangen kannst, könnte einen Vorteil für dich bedeuten …«

»Ich werde das hier ganz einfach halten, damit wir nicht noch mehr Zeit miteinander verschwenden«, unterbrach ich ihn. »Ich bin nicht daran interessiert, eine Universität zu besuchen, die einen absolut zwielichtigen Mann an meine Haustür schickt. Jede seriöse Universität würde es mir erlauben, mich selbst zu bewerben. Wenn Sie mir direkt ein Bewerbungsformular dalassen wollen, um so eine Briefmarke zu sparen, mein Briefkasten ist gleich da drüben.« Ich deutete hinter ihm auf das Ende der Einfahrt in der Ferne – auf den kleinen roten Briefkasten, der dort stand.

»Es gibt keine Bewerbungsformulare für die Hollow’s Grove University. Das geht nur per Einladung«, erklärte der Mann und trat einen Schritt zurück. Er hielt mir seine Hand hin und starrte mich aufmerksam an, während er mir aufzwingen wollte, sie zu nehmen. Ich reckte das Kinn und ignorierte es. Er fuhr fort: »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin der Direktor von Hollow’s Grove, Alaric Thorne. Dies ist deine offizielle Einladung …«

»Dann lassen Sie meine Einladung doch am besten in meinem Briefkasten«, stellte ich richtig.

»Ich bin die Einladung«, erwiderte er zähneknirschend und funkelte mich wütend an.

Er zog die Hand zurück und schob sie in seine Hosentasche. Der dreiteilige Anzug verfälschte für meinen Geschmack viel zu sehr den Eindruck von ihm, es war eine absolute und vollkommene Ablenkung. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass das genau der Sinn der Sache war, als ob sein ganzes sündiges Wesen in den feinsten Stoff eingehüllt war.

Ich griff hinter mich und umschloss den Türknauf, um die Tür gerade so weit zu öffnen, dass ich meinen Körper hindurchzwängen konnte. Ohne Einladung konnte er nicht eintreten, und ich würde in die neun Kreise der Hölle verdammt werden, bevor ich ihm eine aussprechen würde.

Ich lächelte, als ich mich ins Haus manövrierte, und schaute ihm entgegen, während er mich wolfsgleich beobachtete. »Dann bin ich definitiv nicht interessiert.«