5

Willow

»Hol deine Tasche«, befahl ich, funkelte Ash finster an und eilte zu dem kleinen Vorratsschrank neben der Küche. Ich riss die Tür auf und kniete mich vor die Platte im Boden. Mit den Fingern tastete ich an der Kante entlang, suchte nach der winzigen Rille, in die sie einfach hineinrutschen würden, hob dann das Holz an, um die raue, abgenutzte Treppe zu enthüllen, die meine Mutter und ich selbst gebaut hatten, als ich sechzehn geworden war.

»Low, was ist das denn?«, fragte Ash und schulterte seinen Rucksack. Ich stand auf, legte ihm eine Hand auf den Rücken und drängte ihn in die Dunkelheit. Ich knipste das Licht im versteckten Keller an und erhellte den schmutzigen Boden am Fuße der Treppe.

»Runter mit dir«, sagte ich und versuchte, die Dringlichkeit aus meiner Stimme zu halten. Ich wollte ihn nicht erschrecken – nicht, wenn es so viele Dinge gab, die er nicht wusste. Aber da die Hülle draußen wartete und einen Weg auslotete, uns aus dem Haus zu zwingen, mussten wir uns beeilen.

Ash stieg schnell die Treppe hinunter und überließ es mir, in den schmalen Gang zu schlüpfen und die Holzplatte über mir zuzuziehen, um unsere Spuren zu verwischen. Jeder Augenblick würde zählen, wenn es darum ging, Ash hier rauszubringen. Da seine Kräfte gebunden waren, würde er vor dem Coven sicher sein, zumindest bis ich starb – die Seile seiner Bindung waren aus Gräsern geformt, die ich mit meiner Magie beschworen hatte.

Ich ging zu einer der getäfelten Wände des Kellers und schob das Holz zur Seite. Dabei enthüllte ich die massiven Baumwurzeln, die sich unter dem Gang, der uns in die Freiheit führen würde, ausgebreitet hatten. Das war der Grund, warum Mom dieses Haus – diesen Ort – als unsere Zuflucht ausgewählt hatte. Die Bäume hier gingen tief unter die Erde und machten es uns leicht, Tunnel unter der Oberfläche anzulegen.

»Was machst du da?«, wollte Ash wissen, als ich mit der Hand über die erste Baumwurzel fuhr. Ich schnappte mir das Messer mitsamt Scheide aus dem Vorratsregal im Keller, schnallte mir das Holster um den Oberschenkel und zwang mich, die Verwirrung und den Schmerz im Gesicht meines Bruders zu ignorieren.

Das war der Tag, den ich gefürchtet hatte, der Tag, an dem all unsere Täuschungen ans Licht kommen würden.

Ich beobachtete sein Gesicht, seine kleine Stirn, die sich verdattert in Falten legte, als ich das Messer aus der Scheide zog.

»Willow«, sagte er und trat vor, als wolle er mich aufhalten, als ich die scharfe Klinge in meine Handfläche drückte und eine dünne Linie in meine Haut schnitt. Doch das Blut sickerte nur langsam hervor, also ballte ich die Faust und presste meine Fingerspitzen in die Wunde. Ich hielt Ashs entsetztem Blick stand, als ich meine blutverschmierte Handfläche ausstreckte und sie auf die Baumwurzel drückte.

»Sanguis sanguinis mei, aperte« , murmelte ich und schloss langsam die Lider, während der Baum von mir trank. Er nahm das Blut, das ich ihm als Tausch gegen eine sichere Passage in den Wald anbot. Die Magie der Grünen floss durch meine Adern, auch wenn sich mir die Knochen der Schwarzen entzogen.

Die Wurzel unter meiner Hand rührte sich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, als sie sich ruckend durch die Erde zog. Wo die Wurzel sich bewegte, regnete Dreck herunter, der auf den Boden fiel und dort ein neues Zuhause fand. Als sich die Wurzel zur Seite drängte, erschien ein Tunnel an der Stelle, die sie zuvor blockiert hatte.

Ich schob das Messer in die Scheide, packte Ash an der Hand und zog ihn in die Richtung.

»Ich gehe nirgendwohin, bis du mir erzählst, was hier los ist«, sagte er und riss seine Hand zurück, während ich zwischen ihm und dem Tunnel hin und her blickte, der unsere einzige Chance darstellte.

»Wir haben keine Zeit«, protestierte ich.

Ich ging zu dem Regal mit den Vorräten, das wir hier unten all die Jahre sicher vor seinen neugierigen Blicken verborgen hatten. Das Tagebuch meiner Tante lag auf dem obersten Brett und sammelte immer mehr Staub, seit ich vor Jahren ihre Erlebnisse an der Hollow’s Grove University durchgelesen hatte.

Ich trat hinter ihn, öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und legte das Tagebuch hinein. »Das wird dir alles erklären. Und wenn du älter bist, werde ich einen Weg finden, dir noch mehr darüber zu erzählen.«

Meine Tante war nicht seine Tante, und er würde nicht dieselbe Magie besitzen wie sie. Sie hatte die Magie der Totenbeschwörerinnen, nicht die Erdmagie von Ash und meiner Mutter. Aber er würde verstehen, was es bedeutete, eine Hexe zu sein.

Was für Gefahren in Crystal Hollow lauerten, vor denen ich ihn schützen musste.

»Wusste Mom davon?«, fragte er, als ich nach vorne trat und ihn zum Eingang des Tunnels führte.

Ich schnappte mir schnell eine Taschenlampe und schaltete sie ein, dann griff ich nach der Holzvertäfelung und zog sie zu, während wir hineingingen.

Es war immer so dunkel unter der Erde und das Fehlen der Sterne am Himmel füllte diesen Tunnel mit der wahrhaftigsten Finsternis, die ich je erlebt hatte. Panik drohte mich zu verschlingen, denn die Erinnerung an die andere, wahre Dunkelheit war noch da. Um meines Bruders willen schob ich die Furcht beiseite und atmete tief und ruhig durch.

»Claudere« , murmelte ich und wies den Baum an, seine natürliche Position einzunehmen. Er bewegte sich und schottete uns wieder vom Keller ab, während ich Ashs Hand griff. Meine Haut war nass vom Blut, als ich die Taschenlampe in die verletzte Hand nahm und nickte, bis ich merkte, dass er mich wahrscheinlich nicht gut sehen konnte.

»Sie war auch eine Grüne Hexe«, sagte ich und schaute zu ihm hinüber, während ich uns langsam, aber stetig durch den Tunnel führte. Der Boden unter unseren Füßen war uneben, die Erde hatte sich im Laufe der Jahre allmählich herausgelöst, und die Magie hatte sie Stück für Stück abgetragen, um eine Überbeanspruchung zu vermeiden. »Genau wie du.«

Vor Schreck klappte ihm der Mund auf und er starrte auf seine Hand, als er sie anhob, um sie mit neuer Wertschätzung zu betrachten.

Ich erzählte ihm nicht, dass ich seine Magie gebunden hatte, um ihn verborgen zu halten, sondern verschob das Gespräch auf die Zeit, wenn er volljährig war. Bis zu diesem Tag, bis er selbst entscheiden konnte, was er für sich wollte, würde ich nicht zulassen, dass der Coven ihm etwas wegnahm.

»Aber ich habe noch nie …«

»Und du wirst auch erst dazu in der Lage sein, wenn du älter bist«, antwortete ich und hielt inne, um mich umzudrehen und ihn mit dem streng verzogenen Mund zu mustern, den er nur zu gut kannte. »Du darfst es niemandem erzählen. Verstehst du das? Dein Vater ist nicht wie wir. Seine Familie ist nicht wie unsere, und wenn du verrätst, wer du bist, werden dich Kreaturen wie der Mann da draußen finden und dich mitnehmen.«

»Was ist er?«, fragte Ash, als ich ihn hastig weiterzog. Sobald wir die Höhle erreicht hatten, würden wir durch den Wald rennen müssen. Wir konnten nur hoffen, dass die Hülle uns nicht witterte.

»Etwas, das Hülle genannt wird«, erklärte ich und überlegte, wie viel ich ihm erzählen sollte. Er war so jung, so beeinflussbar. Ich erinnerte mich noch gut an meinen ersten Albtraum von den Kreaturen, die sich von Hexenblut ernährten, als ich noch zu jung war, um die wahren Schrecken dieser Wesen tatsächlich zu kennen. »Sie arbeiten mit dem Coven der Hexen und leben auch zusammen. Wir wollen es in jedem Fall vermeiden, dorthin zu gehen«, erklärte ich, anstatt ihm die Wahrheit zu sagen.

Dass sie Körper waren, von der Hecate-Linie geschaffen, um ewig zu leben und Dinge in sich zu beherbergen. Ohne diese Hüllen würden diese Dinge menschliche Körper innerhalb eines Jahres schlichtweg verbrennen.

Aus den einstigen Verbündeten, die derselben höheren Macht gedient hatten, wurden Feinde, die auf engstem Raum umeinander herumschlichen – eine Feindseligkeit, die über Generationen hinweg weiterwuchs.

In der Ferne glomm ein schwacher Lichtschein, die Sonne ging für meinen Geschmack nicht schnell genug unter. Der Schutz der Dunkelheit hätte uns ein wenig geholfen, uns vor den starken Sinnen der Hülle zu verstecken.

Ich blieb stehen, als wir aus dem Tunnel traten und zum Höhleneingang im Wald hinaufstiegen. Ich wusste, dass wir, wenn wir weiter vom Haus weggingen, irgendwann den Busbahnhof erreichen würden. Wir waren zum Glück ganz nah dran, wenn man bedachte, wie weit die Dinge in unserer Stadt voneinander entfernt lagen, vor allem, nachdem wir unter dem Garten und dem Anfang des Waldes durchgestiefelt waren.

In der Ferne konnte ich die schwachen Bewegungen der Leute um unser Haus herum sehen. Diejenigen, die versuchen würden, uns von dem Ort zu vertreiben, an dem wir gelebt hatten, seit ich denken konnte. Ich hielt uns sicher im Höhleneingang versteckt, hockte mich vor Ash und nahm seine Hände in meine, während ich die Taschenlampe zurück in den Tunnel warf.

»Egal, was passiert, egal, was du siehst, du läufst weiter«, sagte ich und ignorierte, wie sich seine Augen weiteten. »Du rennst, so schnell du kannst, und wenn du immer geradeaus gehst, kommst du an der Bushaltestelle an. Dein Vater wird uns dort treffen. Du musst es bloß da hinschaffen, okay? Versprich mir, dass du es hinkriegst, Bug.«

Ash nickte und blinzelte schnell. »Was ist mit dir, Low?«

Ich legte die Hand auf seine Wange und zwang mich zu einem Lächeln, während ich meine Stirn an seine drückte. So viele Lügen in so wenigen Stunden. »Ich bin gleich hinter dir«, sagte ich, nickte, stand auf und klopfte ihm auf den Rücken. Ich zog ihn hinter mir her und positionierte mich zwischen seinem Körper und dem der Hülle. Ich wies ihm die Richtung, in die er gehen musste.

»Geh!«, flüsterte ich brüsk und gab ihm den kleinen Schubs, den er brauchte, um in den Wald zu stolpern. Er war so klein, dass er sich in das Strauchwerk des struppigen Waldes einfügte, und die grüne Kleidung, die er und Mom bevorzugten, half ihm dabei. Zu ihrer Beerdigung hatte er ihre Lieblingsfarbe getragen und ich unterdrückte das Zittern meiner Lippen, als ich mich hinkniete und den Boden berührte.

Ich drückte meine Finger in die Erde und zuckte nicht zusammen, als sich die Körner unter meinen Nägeln verkeilten. Der Boden war an der Oberfläche so fest, dass ich mich durchgraben musste, bis ich die weiche, frische Schicht darunter erreichte.

Ich wartete und schickte meine Magie in einer Welle durch die Erde des Waldes. Ich spürte jeden Baum, jede Wurzel, wo sie sich mit der Erde verband, die meine Finger umgab. Ich pflanzte mich ein, als wäre ich eine von ihnen, schloss die Augen und nahm einen tiefen, kräftigenden Atemzug. Als ich die Lider wieder öffnete, wusste ich, dass durch die Mitte meiner Augen ein grüner Faden pulsierte.

Ich wartete still, um Ash Zeit zu geben, einen vernünftigen Abstand zwischen uns zu bringen, bevor ich eine Ablenkung schuf. Die Zeit schien sich zu verlangsamen und der Ruf der Hülle traf mich in der Brust, als sie versuchten, Ash zu locken. Sie wollten ihn überzeugen, ihnen die Tür zu öffnen, damit sie ihm ein neues Leben fernab von diesem Ort darbieten konnten. Ich hoffte, dass mein Bruder weit genug weg war, um den Druck nicht zu spüren und nicht in Versuchung zu geraten, umzudrehen und zurückzukehren.

Erst als eine der Hüllen seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, schickte ich meine Kraft in einer Welle durch den Wald. Ich rief die Bäume um mich herum, und zwar die, die dem Haus am nächsten standen. Die Hülle, die mir am nächsten war, sah mich, als meine Lippen die Worte formten, und riss den Kopf zur Seite, um die anderen zu warnen.

»Adiuva me« , sagte ich und bat den Wald um Hilfe.

Ein dicker Ast des Baumes, der der Hülle am nächsten stand, schlug aus und traf sie knarrend in die Brust, sodass sie zurückgeschleudert wurde. Mit einem Schrei flog der Mann durch die Luft und krachte gegen die Hauswand, von der er abprallte und auf dem Boden zusammensackte.

Der andere Mann, der von der Veranda kam, drehte sich um und sah seinen gefallenen Freund an. Als ich aufstand, richtete er seine Aufmerksamkeit direkt auf mich. Ich hob das Kinn, als ich seinem Blick begegnete. Er machte den ersten Schritt auf mich zu und rollte den Nacken. Ich rührte mich nicht und lächelte nur, denn ich wusste, dass er mich mit seinen geschärften Sinnen hören würde.

»Sie wollten, dass ich rauskomme. Was nun, Direktor? Brauchen Sie eine Einladung

Er machte einen weiteren Schritt nach vorne, sein zweiter Fuß war schon in Bewegung. Ich wusste, dass es schneller gehen würde, wusste, dass er die Distanz zwischen uns mit einer Geschwindigkeit überbrücken würde, mit der ich keine Chance hatte mitzuhalten.

Unvermittelt sank ich auf die Knie und schlug mit den Handflächen auf den Boden. Die Erde hob sich in einer Welle, die den Wald erschütterte, als sie sich auf das Haus und den Garten zubewegte. Die Hülle, Direktor Thorne , hatte sicherlich geflucht, als er vorwärtsstürmte. Der Wald kam ihm entgegen, die Bäume kreuzten ihre Äste und versperrten ihm den Weg, als sich der Boden hob und ihn von den Füßen warf.

Ich sah, wie die ersten Baumwurzeln aus der Erde ragten, ihn an den Knöcheln packten und sich um seine Arme wickelten. Sie hielten ihn fest an die Erde gepresst, während ich mich wieder dem Wald zuwandte.

Und ich rannte los.