8

Willow

Etwas weiter hinter uns erklommen Leute den Bus und ich konnte mir vorstellen, dass die Person, die ausstieg, Ashs sehr menschlicher Vater war. Mein Bruder war der Freiheit so nahe gewesen.

»Lassen Sie ihn gehen«, flüsterte ich und presste die Worte an dem Brennen in meiner Kehle vorbei.

Hüllen waren unberechenbar, und derjenige, der meinen Bruder in der Hand hatte, könnte ihm wahrscheinlich genauso gut die Kehle herausreißen wie ihn auch zum Coven zurückschicken.

Was würden sie ihm antun, welche Entscheidung würden sie ihm abringen …?

»Warum sollte ich das tun?«, fragte Direktor Thorne und legte den Kopf schräg, während er mich musterte. Sein Blick fiel auf die verschmierte Erde an meinem Hals, als ob es ihn anwiderte, die Male zu sehen, durch die er sich von mir genährt hatte. »Ich habe dir bereits die Möglichkeit gegeben, ihn auf friedliche Art zu retten. Du hast mein Angebot ziemlich unhöflich abgelehnt.«

»Bitte«, murmelte ich und erwiderte Ashs Blick. Seine braunen Augen waren vor Angst geweitet und ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper, als er mich wortlos anflehte. »Gibt es jemanden, den Sie lieben? Jemanden, für den Sie alles tun würden, um ihn zu beschützen?«

Seine Hand schloss sich fester um Ashs Schulter, als ich auf das kalte Blau seines Blicks traf. Der Goldschimmer darin schien auf meine Frage hin aufzublitzen und er musterte die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten. »Nein«, sagte er und schüttelte unmerklich den Kopf. »Hüllen haben keine Herzen, kleine Hexe. Du tust gut daran, dir das für die nächsten Jahre einzuprägen.«

»Dann tun Sie mir leid«, gab ich zurück und die Worte waren frei von jeder Boshaftigkeit. Sie sollten nicht verletzen, sondern nur Mitgefühl schenken. »Dass Sie dieses Gefühl nie kennenlernen werden.«

»Auch wenn es zu so etwas führt?«, fragte er und schaute Ash kurz an. »Auch wenn es dich schwächt?«

»Ja«, antwortete ich und nickte zur Bestätigung. Seine Augen blitzten bei meiner Antwort auf und er musterte die Spur, die eine Träne auf meiner Wange hinterließ. »Ich würde diesen Schmerz noch hundertmal intensiver fühlen wollen, bevor ich ihn aufgeben würde.«

Thorne ließ die Schulter meines Bruders los und schob seine Hand in die Tasche, während Ash sich umdrehte und ihn schockiert anstarrte. »Geh«, sagte Thorne und nickte in Richtung des Busses, der am Ende des Parkplatzes wartete.

»Gray«, warnte die weibliche Hülle.

Der Atem rauschte aus meiner Lunge und mein Körper schwankte vorwärts, als ich Thorne vor fassungsloser Erleichterung mit großen Augen anstarrte.

Gray , so hatte sie ihn genannt.

Ich presste die Lippen zusammen, nickte und sah Ash an. Sein Blick zuckte geschockt zwischen uns beiden hin und her.

»Ich hab dich lieb, Bug«, sagte ich und gestattete ihm den einzigen Abschied, den wir bekommen würden. Ich traute mich nicht, zu ihm aufzuschließen, wollte nicht riskieren, etwas zu tun, was Thorne dazu bringen könnte, seine Meinung zu ändern.

»Low«, sagte er und schüttelte den Kopf, während sich sein kleines Gesicht vor Tränen verkrampfte.

»Geh«, sagte ich, ermutigte ihn.

»Aber was ist mit dir?«, fragte er und seine Stimme brach, als die Realität einsickerte. Dass ich nicht mit ihm gehen würde.

Dass ich es nie hatte tun wollen.

Er schüttelte den Kopf und stemmte die Füße in den Boden, als ob er vorhätte, bei mir zu bleiben.

Thorne nahm ihm diese Chance. »Sieh mich an, Junge«, befahl er, während die Zwangsmagie über meine Haut strich. Mein Amulett wurde daraufhin warm an meiner Brust, doch Ash folgte dem Befehl. Er riss die Augen weit auf, als Thorne ihn anstarrte. Er hielt meinen Bruder mit seinem Blick gefangen und in der Mitte seiner Iris leuchtete das Gold auf. »Lauf. Steig in den Bus und suche nie wieder nach Willow.«

Ash zögerte nicht, mich zu verlassen. Das konnte er nicht, denn der Zwang der Hülle kontrollierte ihn. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte über den Parkplatz. Er stürzte sich in die Umarmung seines Vaters, der uns kurz ansah, bevor er sich umwandte und Ash zu dem Bus führte.

Ich sackte auf dem Beton auf die Knie und ein hässliches Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Ich ließ den Kopf hängen und lauschte dem Geräusch des Busses und den Reifen, die über den Asphalt rollten, als er den Parkplatz verließ.

Der letzte Blick auf das Gesicht meines Bruders verfolgte mich.

Ein gekrümmter Finger legte sich unter mein Kinn und hob meinen Kopf an, bis ich auf Thornes Blick traf. »Warum?«, fragte ich, obwohl ich dankbar war für das, was er getan hatte. Ich konnte es nicht verstehen, konnte mir keinen Reim darauf machen.

»Eines Tages schuldest du mir dafür einen Gefallen. Du wirst mir alles geben, was ich von dir verlange«, sagte er leise.

Ein kalter Schauer breitete sich dort aus, wo sein Finger mich berührte, und ich taumelte zurück und umklammerte meine Kehle. Ranken aus Dunkelheit breiteten sich auf meiner Haut aus und wanderten die Vorderseite meines Halses und meine Brust hinunter. Sie krümmten sich, tanzten über mein Fleisch und brannten ein schwarzes Siegel in meine Haut, direkt unter meinem Schlüsselbein. Es war ein Muster aus gekreuzten Linien, das ich nicht verstehen konnte, wenn ich es von oben betrachtete. Die dunklen Ranken verschwanden, als sie mich mit der physischen Manifestation meiner schlimmsten Angst gezeichnet hatten.

Ein Pakt mit einem Dämon.

»Was ist mit dem Coven? Sie werden wütend sein, wenn sie hören, dass du einen Hexer weggeschickt hast«, murmelte die andere männliche Hülle und durchbrach mein Entsetzen, wie ich da auf dem Bürgersteig kniete.

»Was der Coven nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Keiner von euch darf auch nur ein Wort davon zu irgendjemandem sagen. Wenn der Coven fragt, ist Willow die letzte der Madizza-Linie«, antwortete Thorne und sie nickten ohne das kleinste Zögern. Er hielt mir die Hand hin und ich schluckte, als ich sie betrachtete. Als wäre sie eine Schlange, die vorschnellen und mich beißen könnte.

Er hatte das bereits getan.

»Komm, kleine Hexe«, sagte er, als die weibliche Hülle in Windeseile verschwand. »Es gibt Dinge, die wir besprechen müssen.« Ich ignorierte seine ausgestreckte Hand und richtete mich auf, als er verärgert seufzte. »Willst du wirklich jeden Schritt so schwer machen?«

»Höchstwahrscheinlich«, sagte ich und versuchte, nicht daran zu denken, wie schwach meine Stimme klang. Ich konnte nicht die Energie aufbringen, ihm die verdiente Standpauke zu halten, nicht, wenn sich alles in mir roh und wund anfühlte.

Der Coven hatte mir alles genommen. Ich würde sie dafür bezahlen lassen.

»Hollow’s Grove lebt von Struktur und Ordnung. Es ist sehr wichtig, dass wir einen Weg finden, diese Dinge immer aufrechtzuerhalten, auch wenn du dich unserer Schule eher widerwillig anschließt«, erklärte er.

Ein Auto raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf den Parkplatz und kam direkt vor uns zum Stehen. Keine der Hüllen zuckte auch nur mit der Wimper, als Thorne zur hinteren Fahrertür ging und sie aufzog.

»Werden Sie ein Problem für mich sein, Miss Madizza?«

Ich bewegte mich auf das Auto zu und trat dicht an ihn heran, während ich all meine restliche Energie aufbrachte und ihn anfunkelte. »Wenn Sie auf Ordnung Wert legen, dann bringe ich Ihnen nichts als Chaos.«

Ich lächelte und verdrehte dann die Augen, als er mich angrinste.

Ich stieg ins Auto.