Willow
Das Flüstern von Stimmen tanzte durch meinen Kopf, ein schwaches Gespräch, weiter entfernt, das ich selbst nicht ganz erfassen konnte. Selbst in meinem halb bewussten, traumähnlichen Zustand war ich mir im Klaren, dass meine Mauern gerade so weit gefallen waren, dass diejenigen, die nie weit weg waren, in den Hafen meines Geistes eindringen konnten.
Die Gestalt meiner Mutter war nicht weit entfernt, ihre geisterhafte Form existierte als Nebel und Schatten am Rande jener Dunkelheit, die mich verschlang. Ich schlief, und das wusste ich mit jeder Faser meines Seins. Die Erinnerung daran, wie ich mich in mein Bett gelegt hatte, war klar, auch wenn der Akt des Einschlafens so schnell gegangen war, dass ich die Momente an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen nicht mehr mitbekommen hatte.
Es kam nicht oft vor, dass ich meine Magie so weit ausreizte, dass die natürliche Abgrenzung zwischen mir und den Toten fiel, denn mein Schlaf brachte mich schon immer einen Schritt näher zum Schleier zwischen Leben und Tod. Selbst wenn ich es tat, hielten die Toten sich normalerweise am Rande auf, beobachteten mich, konnten sich mir aber genauso wenig nähern wie ich mich ihnen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als über die Kluft hinweg zu reichen, um mit meiner Mutter zu sprechen. Ich wünschte mir, dass sie einen Weg fände, sich mit den Dingen zu versöhnen, die sie hier bei mir festhielten, um sich im Jenseits auf die Suche nach ihrer eigenen Zukunft zu machen.
Ihre Züge sahen gequält aus, der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben; ein Gesicht, das ich so gut kannte wie mein eigenes. Sie hatte noch nicht begonnen zu verblassen. Ihre Geistergestalt war ein Abbild dessen, was ich vorfinden würde, wenn ich ihren Körper ausgrub, um ihr eine für eine Grüne Hexe angemessene Beerdigung zu gewähren.
Der Bereich unter ihren Augen war eingesunken und in einem so tiefen Violett gefärbt, dass es einem Bluterguss ähnelte. Ihr Gesicht, das bis zu ihrer Krankheit so lebhaft und fröhlich gewesen war, wurde ins Groteske verzerrt. Ihre Haut war fahl, als ich einen Schritt auf sie zuging und beobachtete, wie sie eine Hand hob, als ob sie mich berühren wollte.
Ihr Mund öffnete sich und enthüllte eine Dunkelheit in ihrem Inneren, die bar jeder Lebendigkeit war. Das Fleisch in ihrem Mund hatte die rosa Farbe des Lebens verloren und die ersten Anzeichen von Verwesung machten sich bemerkbar, als sie ein röchelndes Keuchen ausstieß.
Ich spürte die leichte Berührung von Händen auf meiner Haut, als ich mich zwang, tiefer in die Dunkelheit zu gehen und näher an meine Mutter heranzutreten, obwohl ich wusste, dass das nicht klug war. Die Toten erinnerten sich nicht immer daran, wer sie waren oder wen sie liebten, da ihre Sicht getrübt war durch die unerledigten Aufgaben, die sie hier hielten.
»Mom«, sagte ich und schniefte gegen das Brennen der Tränen an. Ich spürte sie in meiner Kehle, in der Anspannung der Muskeln, als ich zwischen dem, was richtig und was sicher war, schwankte. Ich hob eine Hand und ignorierte den Hauch der Geister, die ich nicht sehen konnte. Diejenigen, die so lange verweilt hatten, dass fast nichts mehr übrig war außer ihrer Energie, diejenigen, die Worte flüsterten, die ich nicht hören konnte. »Du musst weiterziehen.«
Nachdem ich sie nun fortgeschickt hatte, presste ich die Lippen zusammen und kämpfte gegen die Gefühle an, die meine Kehle verstopften. Sobald sie weg war, würde ich nie wieder ihren Blick auf mir spüren. Nie wieder würde ich ihre Anwesenheit als stille Unterstützung wahrnehmen.
Ich würde ohne jeden Zweifel wissen, dass sie weg war.
»Ich habe ihn mit seinem Vater fortgeschickt, Ash ist in Sicherheit. Du musst dir keine Sorgen um ihn machen«, erklärte ich. Meine Hand hielt kurz vor der ihren inne, nah genug, um sie zu spüren, ohne jedoch das zu berühren, was denen verboten war, die die Knochen nicht trugen. Ohne sie konnte ich die sehen, die mich verlassen hatten, aber ich konnte nie in die Umarmung meiner Mutter sinken oder ihre Stimme hören.
Das war die langsamste und grausamste Form der Folter, die ich mir vorstellen konnte. So nah zu sein und doch nie die Schwelle zu überschreiten.
Ihre Lippen bewegten sich und der Klang ihrer Worte wurde von einem Wind fortgetragen, der nur in dieser Leere existierte. Das machte es unmöglich, sie zu hören und zu verstehen, was sie wollte, indem sie zu mir kam.
»Ich kann dich nicht hören«, gab ich zu und unterdrückte das erstickte Schluchzen, das sich zu lösen versuchte.
Sie kniff die Lippen zusammen, ihr Gesichtsausdruck war genau so, wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Wenn sie zum ersten Mal einen schwierigen Zauber versuchte oder wenn sie mit meinem Vater darüber stritt, wie viel Zeit er in meinem Leben verbringen würde.
Sie bewegte sich vorwärts und drückte ihre Hand mit unvermitteltem Schwung gegen meine. Eis füllte meine Adern und breitete sich in meiner Handfläche aus, als sich unsere Hände verbanden und sie unsere Finger ineinander verschränkte.
»Fuck!«, wimmerte ich und sank angesichts dieses Schmerzes auf die Knie. Es war so kalt, dass es brannte, und ich kämpfte darum, meine Hand aus ihrem Griff zu befreien. Ihre andere Hand berührte meine Wange und versengte mich mit diesem Eis, während ihre verschleierten Augen auf mich herabstarrten.
»Ash ist in Sicherheit«, sagte sie und ihre Zustimmung hallte in mir wider, während ich gegen den Schmerz ankämpfte, um den Worten zu lauschen, die deutlicher wurden, seitdem ihre Hände auf mir lagen. Sie senkte ihre Hand zu meinem Schlüsselbein, berührte es und drückte sich noch fester gegen mich, während sich ihr Gesicht erneut vor Qual verzog. »Aber du bist es nicht.«
Ich keuchte und saß aufrecht in meinem Bett in Hollow’s Grove. Meine Hände flogen zu meiner Brust und tasteten nach den Brandmalen, die eine Berührung hinterlassen hatte, die eigentlich unmöglich hätte sein müssen.
Ich hörte das Flüstern der Knochen auf meiner Haut, spürte, wie sie über mich hinwegschlitterten und mich aufforderten, sie zu finden. Kurz danach drängte ich sie fort und stellte mir vor, wie sich Ranken durch einen Stoß Ziegelsteine schlängelten und die Risse dazwischen auffüllten, bis nichts mehr da war außer einer undurchdringlichen Mauer. Eines wusste ich mit Sicherheit, eine einzige Tatsache, die ich bei den Geistern, die mich gefunden hatten, nicht leugnen konnte: Die Knochen wussten, dass ich in der Nähe war.
Und sie wollten gefunden werden.
Meine nackten Beine glitten gegeneinander, als ich sie bewegte, und mein Blick fiel auf die Hose, die auf dem Boden lag. Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Rosen auf meinem Nachttisch zu und streckte eine Hand aus, um mich an den Dornen zu stechen.
Was auch immer die Pflanze gesehen hatte, ich würde es bald erfahren.
Ich grinste, denn ich wusste, dass derjenige, der die Grenze überschritten hatte, mich damit in eine machtvolle Position gebracht hatte.
Laut Direktor Thorne gedieh Hollow’s Grove auf den Grundlagen von Struktur und Ordnung.
Doch hier gab es keine Ordnung.
***
Ich zupfte am unteren Ende meines grün-schwarz karierten Rocks und wünschte mir, ich könnte die Lücke zwischen dem Saum und dem oberen Ende meiner halterlosen Strümpfe schließen. Einen Rock zu tragen würde sich als ziemlich unpraktisch erweisen, wenn ich Leichen im Wald vergraben müsste, weil mir Leute in die Quere gekommen waren.
Auch wenn mein Plan war, die Gewalt auf ein Minimum zu beschränken, war ich nicht für meinen Mangel an Impulsivität bekannt.
Mein Spiegelbild war etwas, das ich nicht wiedererkannte. Ich hatte mein Haar offen gelassen und es fiel mir über die Schultern. Die Farbe hob sich auffallend von dem Weiß meiner Bluse ab. Mein waldgrüner Blazer hing über dem Bettende, die schwarzen Schuhe, die man mir hingestellt hatte, hatte ich vergessen und unter die Bettkante geschoben.
Meine Kampfstiefel sahen mit den oberschenkelhohen Strümpfen und dem absurden Bändchen, das anstelle einer Krawatte zu einer Art lockeren Schleife gebunden war, nicht gut aus. Den Rock würde ich kampflos akzeptieren, aber für Schuhwerk würde ich in den Krieg ziehen.
Ich schnappte mir den Blazer, schlüpfte mit den Armen hinein und ließ ihn bequem auf meinen Schultern ruhen. Es gab keine Knöpfe, sodass er offen stand und die hohe Taille des Rocks, in die die Bluse gesteckt wurde, sichtbar blieb.
Ich verdrehte die Augen, als ich die Tür meines Schlafzimmers öffnete, um drei Gesichtern zu begegnen, die mich anstarrten. Sie waren alle ungefähr in meinem Alter und wahrscheinlich alles Nachkommen der ursprünglichen fünfzehn Familien.
Zumindest hatten die Legatinnen immer zusammengewohnt, bevor die Schule vor fünfzig Jahren geschlossen wurde. Es spielte keine Rolle, dass ich eine der dreizehn Schülerinnen und Schüler war, die von außerhalb der Grenzen Crystal Hollows aufgenommen wurden. Ich war eine der dreizehn, die magische Fähigkeiten besaßen und den Blutlinien etwas Variationsbreite bieten konnten.
Ich war als Legatin geboren worden. Und ich würde auch als solche sterben.
»Du musst Willow sein«, sagte das erste der Mädchen, das sich von den anderen beiden löste und auf mich zukam. Sie ergriff meine Hände und strahlte mich an, wobei Energie in Wellen von ihr ausging. »Ich bin Della Tethys.« Sie bestätigte meinen Verdacht, dass sie eine Legatin war. Der Name einer der beiden ursprünglichen Erblinien der Blauen Hexen kam ihr über die Lippen, passend zu der blauen Uniform, die sie trug.
Langsam löste ich meine Hände aus ihrem Griff. Ihre Haut fühlte sich kühl an. Ihre türkisfarbenen Augen glitzerten wie Meerwasser, als sie losließ und sich mit einem Schwung ihrer dunklen Haare zu den anderen Mädchen umdrehte, um sie anzulächeln und nach vorne zu winken.
Diejenige, die einen grau-schwarz karierten Rock und einen grauen Blazer trug, trat vor und rang schüchtern ihre Hände. »Ich bin Nova Aurai«, sagte sie und irgendetwas an ihr fühlte sich verstörend an. Ihre Augen waren völlig farblos, das hellste Grau starrte mir aus einem bemerkenswert schönen Gesicht entgegen. Ihr dunkles Haar war in hübsche Locken gelegt, ihre Lippen waren von Natur aus dunkel und hoben sich prägnant von ihrer dunkelbraunen Haut ab. »Das ist Margot Erotes«, fügte sie hinzu und deutete auf die Blondine im Hintergrund.
Die Rote Hexe machte keine Anstalten, näher zu kommen, sondern betrachtete mich nachdenklich, blondes Haar rahmte ihr Gesicht in einem Longbob ein. »Ist mir ein Vergnügen«, sagte sie und ihre Stimme klang fast wie ein Schnurren. Daraufhin stellten sich die Haare auf meinen Armen auf.
»Lass dich nicht verunsichern. Sie mag es nicht, wenn man sie anfasst«, erklärte Della und hakte sich bei mir unter. »Es ist nichts Persönliches.«
Ich hob eine Augenbraue und bemerkte, dass sich die Wangen der Roten Hexe leicht verfärbten. Eine Sexhexe, die es nicht mochte, wenn man sie anfasste.
»Das hört sich bei deiner Magie absolut qualvoll an«, sagte ich. Die Worte rutschten mir heraus, bevor ich sie stoppen konnte.
Margot atmete erleichtert auf und ihre Schultern sackten herab, als ich sie weder verurteilte noch mich über sie lustig machte. »Du hast ja keine Ahnung.«
Nova ging zur Küchenzeile und holte vier Müsliriegel aus einer Dose auf dem Tresen. Sie warf jedem von uns einen zu. »Wir haben das Frühstück verpasst, also müssen die hier reichen.«
Ich riss meine Packung mit den Zähnen auf und nahm einen großen Bissen. Nach der Energie, die ich in der Nacht zuvor ausgestoßen hatte, brauchte ich mehr . Ich brauchte Eiweiß und Nahrung aus der Erde.
Nova lächelte, als sie die Wohnungstür aufzog, und blieb ruckartig stehen, als sie jemanden auf der anderen Seite stehen sah. Iban lächelte etwas schüchtern und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. »Direktor Thorne dachte, du könntest das brauchen, Willow«, rief er über Novas Schulter.
Ich trat vor und runzelte die Stirn, als ich den Teller sah. Ein englischer Muffin mit Eiern, kanadischem Speck und geschmolzenem Käse war halb in Folie eingewickelt und der Teller war ansonsten mit frischem Obst, Kirschtomaten und Gurkenscheiben gefüllt. Ich nahm ihn Iban mit einem leisen Lachen ab, schnappte mir eine Weintraube und steckte sie mir in den Mund.
»Das war sehr aufmerksam von ihm«, zwang ich mich zu sagen, während ich kaute. Es war rücksichtsvoll, verdächtig rücksichtsvoll, und ich konnte mir vorstellen, dass die jüngeren Hexen keinen Schimmer hatten, was eine Hexe nach so einer Opfergabe brauchte.
Er war vielleicht einer der Wenigen, die es wussten.
Wenn eine von ihnen es seltsam fand, dass der Direktor etwas Derartiges getan hatte, sagte sie es nicht laut. Die Blicke, die sie schweigend austauschten, verrieten es schon deutlich genug.
Ich trat an Iban vorbei in den Gang und hielt inne, als mir klar wurde, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wohin ich mich wenden sollte. Ich lächelte ihn verlegen an, als ich einen Bissen von meinem Muffin nahm.
»Wo habe ich die erste Stunde? Bekomme ich einen Stundenplan?«
»Ah, ich glaube, da kann dir Della am besten helfen«, antwortete er und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare.
»Iban hat keine Magie, Willow. Wozu sollte er Unterricht besuchen, in dem ihm solche Dinge beigebracht werden?«, fragte Della. Die Worte waren nicht grausam gemeint, aber Iban zuckte trotzdem zusammen.
»Was machst du dann in Hollow’s Grove?«, erkundigte ich mich und zog die Stirn kraus.
Mir war nicht klar, dass diejenigen, die die Wahl getroffen hatten, die Schule auch dann noch besuchten, wenn sie ihre Magie aufgegeben hatten. Das hätte mir allerdings in der Nacht zuvor schon klar werden müssen.
»Ich diene dem Coven auf andere Weise«, teilte er mit und nickte zu dem Teller mit dem Essen in meinen Händen. »Außerdem ist der beste Platz für mich in meinem Alter jetzt hier. Wo sonst sollte ich meine Gefährtin finden, oder?«
»Du suchst also freiwillig nach deiner Gefährtin? Bist du nicht ein bisschen jung?«, fragte ich und meine Stimme klang zittrig. Der Gedanke, in unserem Alter Kinder zu bekommen, war schrecklich für mich. Ich hatte gerade erst angefangen zu leben .
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich noch nicht mal das.
»Ich habe meine Magie aufgegeben, weil ich hoffe, eine geeignete Partnerin zu finden, die der Covenant gutheißt und in die ich mich verlieben kann. Ich werde nicht riskieren, sie zu verpassen«, sagte er und lächelte.
Ich schob mir einen Bissen Melone in den Mund, um Zeit zu gewinnen und die Beklommenheit zu verdrängen, die ich empfand, weil ich eine Antwort geben musste. Die Art und Weise, wie er mich anstarrte, löste Unbehagen in mir aus.
Der Coven würde ihn als Partner für mich anerkennen. Er war ein Grüner und das hielt die Blutlinien so rein wie möglich. Obwohl eine Hexe die Macht nur von ihrer Mutter erbte, da der Vater zum Zeitpunkt der Empfängnis machtlos war, legten sie dennoch Wert darauf, die Häuser so rein wie möglich zu halten. Als gäbe es nicht hundert wichtigere Dinge, über die man sich jeden Tag den Kopf zerbrechen konnte. Ich hatte weder die Zeit noch die Muße, meine Blutlinie rein zu halten.
Ich hatte das Gefühl, dass sie durch die Schließung der Schule gezwungen waren, weniger wählerisch zu sein, da sie nicht mehr jedes Jahr frisches Blut für die Zucht bekamen. Aber weder meine Eltern noch meine Großeltern waren Brays gewesen, soweit ich wusste.
Abgesehen davon wusste ich nichts. Ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken.
Ich schluckte laut und hakte mich bei ihm ein. »Wer auch immer sie ist, sie wird eine glückliche Frau sein«, sagte ich und lächelte, während ich einen weiteren Bissen nahm. Ibans Wangen wurden rot und ich wusste, dass ich das, was immer es war, besser früher als später aus der Welt schaffte.
Er hatte seine Magie aufgegeben, um eine Familie zu gründen.
Ich hatte nicht vor, mir eine anzuschaffen – selbst wenn ich lange genug überleben würde.
Es war viel wahrscheinlicher, dass ich bei dem Versuch starb, die Knochen meiner Vorfahrinnen zu finden – es war sogar noch wahrscheinlicher, dass Gray mich ausbluten und das Zeitliche segnen lassen würde, wenn er herausfand, wer ich wirklich war.
Ich zwang mich, trotz der nackten, kalten Realität zu lächeln, und ließ mich von Della und den anderen Mädchen zu unserer ersten Unterrichtsstunde des Tages führen. Iban schien glücklich zu sein, mit uns zu kommen, also ließ ich ihn neben mir gehen. Währenddessen versuchte ich, ein wenig von meiner Kraft mittels des Frühstücks zurückzugewinnen.
Mit jedem Bissen pulsierte das leise Summen der Magie in meinen Adern und der Kreislauf des Lebens erfrischte mich. Ich hatte geopfert, also tat die Natur jetzt das Gleiche, denn was mit Gewalt genommen wurde, würde nie so mächtig sein wie das, was freiwillig gegeben wurde.
Ich spürte, wie meine Augen vor Wärme pulsierten, als ich von meinem Teller in das Klassenzimmer aufblickte, in das mich meine Mitbewohnerinnen führten. Direktor Thorne stand am Ende des Raumes, hinter ihm eine Wandtafel. Er hatte die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt und seine Anzugjacke über die Lehne des Stuhls neben dem Pult geworfen. Er musterte mich mit kalten Augen, als mich meine Begleitung in den Raum führte, und ich errötete, als dieser wissende Blick auf den Teller mit dem Essen fiel, den ich in meinen Händen hielt.
»Danke«, murmelte ich leise und widerwillig vor mich hin. Ich war mir nicht sicher, ob sogar sein Gehör dafür fein genug war, aber er lächelte nur leicht.
Iban hielt mich an der Tür auf und drehte mich sanft, bis ich mit dem Rücken an die steinerne Wand des Klassenzimmers stieß. Ich kicherte, als er sich leicht in meinen Bereich hineinlehnte und dennoch einen respektvollen Abstand hielt. Er drängte mich nicht, stützte keinen Arm über meinem Kopf ab und gab mir nicht das Gefühl, gefangen zu sein. Schuldgefühle stiegen in mir auf, als ich das tat, was ich nicht tun sollte: Ich nutzte die Gelegenheit, die er mir bot. Wenn ich den Direktor verführen sollte, schien es sehr motivierend zu sein, ihn eifersüchtig zu machen – bedachte man seine Reaktion, die er gezeigt hatte, als ich Kairos berührte.
Ich griff nach oben, um Iban eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen, und seine grünen Augen verdunkelten sich als Reaktion darauf. Er lehnte seinen Kopf in die Berührung, was mein Herz vor Schuldgefühlen zusammenkrampfen ließ. Trotz meiner ganzen Ausbildung bereitete mir die Tatsache keinerlei Freude, dass ich auf meinem Weg zum Ziel Leute ausnutzen musste. Doch Ibans nächste Worte bestätigten, dass er genau wusste, was ich vorhatte, und sein Wissen um meinen Plan nahm ein wenig Gewicht von meiner Brust. »Du spielst mit dem Feuer«, sagte er grinsend und ließ seine perfekten geraden Zähne aufblitzen.
»Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete ich und unterdrückte mein eigenes Lächeln.
Er brummte und platzierte seine Hand oberhalb meines Kopfs, nachdem ich den ersten Schritt gemacht hatte, ihn zu berühren. »Schon bald wirst du merken, dass die Hülle für dich nicht infrage kommt«, sagte er. Iban beugte sich vor, um die Worte vollkommen leise zu flüstern, und mir war klar, dass er sich unserer Zuhörer nur allzu bewusst war. Ich lächelte den wohlwollenden, unbeschwerten jungen Mann an. »Vielleicht siehst du mich dann auch so an, wie du es jetzt noch vorzutäuschen scheinst.«
Das Lächeln verschwand langsam aus meinem Gesicht und ich sah ihn mit großen Augen an, als mir die Bedeutung dieser Worte gegen die Brust donnerte. Die Schuldgefühle hielten mich aufs Neue fest im Griff und nur dank einer sorgfältig einstudierten Maske konnte ich mein Lächeln wieder strahlen lassen. Ich hielt es selbst dann noch aufrecht, als ich fürchtete, dass seine Äußerung das bedeuten könnte, was ich vermutet hatte – Interesse an mir.
Zu Recht, wie es schien.
Iban beugte sich vor, berührte mit seinen Lippen sanft meine Wange und verweilte einen Moment länger, als es angemessen war. »Genieß deine Spielchen, Willow, aber du solltest wissen, dass ich spiele, um zu gewinnen.«