16

Willow

Tage vergingen, an denen ich nicht mit Gray sprach. Ich sah ihn nicht außerhalb des Unterrichts und er schickte mir kein Frühstück mehr auf mein Zimmer. Ich weigerte mich, das stechende Gefühl in meinem Bauch zuzugeben, das sich wie Enttäuschung anfühlte, und schob es auf die Tatsache, dass meine Aufgabe viel schwieriger sein würde, als ich erwartet hatte.

Wie sollte ich herausfinden, wo die Hüllen oder der Coven die Knochen meiner Vorfahrinnen versteckt hatten, wenn ich keine zwei Sekunden mit dem Arschloch im selben Zimmer sein konnte, ohne ihm die Kehle herausreißen zu wollen?

Es fühlte sich wie eine sinnlose Zeitverschwendung an. Ich wäre viel lieber zurück in meinem Zuhause gewesen, mit Ash an meiner Seite, um einen Weg zu finden, mit dem Verlust von Mom fertigzuwerden. Wenigstens hätten wir uns aneinander anlehnen können. Stattdessen war ich in einer Schule gefangen, die ich nicht besuchen wollte, und dachte über all die Dinge nach, die ich bereits versäumt hatte.

Ich konnte die Lehren meines Vaters nicht verdrängen, seine Ermahnungen, dass Männer Frauen vorzogen, die ausschließlich etwas fürs Auge waren. Um den Direktor zu verführen, musste ich leise und zurückhaltend sein – so, wie ich es mit meinem Vater in der Kindheit gewesen war –, anstatt laut und dreist. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das auf jede Menge Arten versaut hatte und jetzt kein Rückzieher mehr möglich sein würde.

Außerdem hatte ich gesehen, wie die anderen Hexen ihn im Unterricht beobachteten. Dass ich mich von ihm angezogen fühlte, war nichts Ungewöhnliches, so gern ich es auch geleugnet hätte. Selbst diejenigen, die im Coven aufgewachsen waren und gelernt hatten, seinesgleichen zu hassen, fühlten sich zu ihm hingezogen.

Seine Hülle war ungewöhnlich gut aussehend, selbst im Vergleich zu den anderen. Hüllen waren immer von einer unnatürlichen Schönheit, aber seine hatte einfach irgendwie … mehr davon.

So kam es, dass ich mich nach dem Unterricht in der Bibliothek wiederfand, unter dem Vorwand zu lernen. Die geschwungenen Fenster vor mir waren mit einem feinen Regenschleier bedeckt, der den Wald vor der Schule verschwommen und weit entfernt erscheinen ließ. Der Raum war zu dunkel, um ihn zum Lesen zu nutzen, aber ich zog die ruhige, gedämpfte Atmosphäre dieser Bibliothek den Neonlichtern jener öffentlichen Schule vor, die ich als Kind besucht hatte. Holzregale säumten die Wände der Bibliothek. Sie waren mit Büchern bestückt, die viel älter sein mussten als ich, und nach einer Methode angeordnet, die wahrscheinlich nur für die Frau Sinn ergab, die für diesen Raum zuständig war. Es war mir peinlich, dass ich sie nach Büchern zu dem Thema, das ich suchte, fragen musste, denn es existierte keine Möglichkeit einer digitalen Suche.

Aber sie half mir, überreichte mir einen kleinen Stapel Bücher und sagte, ich solle sie einfach auf dem Tisch liegen lassen, wenn ich fertig sei.

Iban hatte angeboten, mir Gesellschaft zu leisten, während ich versuchte, den Stoff »nachzuholen«, den ich eigentlich bereits kannte. Zwar konnte nichts die Tatsache ändern, dass ich nicht so wie die anderen mit der Kultur dieses Ortes aufgewachsen war, aber ich kannte meine Fakten.

Der Hexer hatte nur traurig geseufzt, aber sein Gesichtsausdruck enthielt keine Spur von Wut, wie ich sie von den Männern, die ich sonst abgewiesen hatte, gewohnt war. Irgendwie war der enttäuschte Ausdruck in seinen Zügen schlimmer und erinnerte mich an die Unmöglichkeit dessen, was ich mir vorgenommen hatte. Seit ich in Hollow’s Grove angekommen war, hatte ich kein einziges Stechen von den Knochen gespürt, und ich fragte mich, ob sie überhaupt hier waren.

Sie existierten. Das wusste ich von der Magie, die ab und zu in mir pulsierte und nur knapp außerhalb meiner Reichweite pendelte. Ich konnte sie nicht fassen und wusste, dass ich das auch nicht können würde, bis ich das Schicksal erfüllte, für das ich auserwählt worden war, und die Knochen in der Hand hielt.

Ich blätterte in dem Buch vor mir, fest entschlossen, irgendwelche Spuren von Antworten zu finden. Ich hätte nach dem Standort der Knochen suchen sollen, nach einem Register irgendeiner Art, das nach dem Massaker angelegt worden war. Stattdessen vergrub ich meine Nase in den Überlieferungen zu den Hüllen und versuchte herauszufinden, warum Gray so viel Einfluss unter seinesgleichen hatte.

Die Worte auf der Seite waren ein Echo dessen, was meine Mutter mich gelehrt hatte: dass diese Wesen neue Namen angenommen hatten, als sie in die für sie geschaffenen Hüllen schlüpften. Niemand kannte ihre wahre Identität – waren die teuflischen Mächte, denen die Hecate-Linie die Hüllen aus Fleisch geschenkt hatte, nun geringere Dämonen oder wandelte sogar einer der sieben Dämonenfürsten unter uns? Es gab Gerüchte, dass die erste Hülle einer von ihnen gewesen sei, vielleicht vom Teufel selbst geschickt, um seine neue Kolonie von Anbetenden auf der Erde zu überwachen.

Aber in all den Jahrhunderten, seit sich die Hexen und Hüllen zusammengeschlossen hatten, um Crystal Hollow zu formen, konnte ich nur sehr wenige Aufzeichnungen über tatsächliche Anbetung finden. Was auch immer der Zweck des Experiments mit den Hexen und den Hüllen sein mochte, er hatte sich noch nicht offenbart, zumindest nicht mir.

Ich wollte es herausfinden, doch es war für mich nicht wichtig. Das durfte es auch nicht sein, denn die Suche nach den Knochen hatte für mich Priorität. Aber Grays schlecht verschleierte Worte klangen in meinem Kopf nach, als ich auf die nächste Seite starrte und die Worte vor mir verschwammen. Seinesgleichen wusste, wie man geduldig war.

Aber geduldig wofür ?

»Miss Madizza«, sagte eine strenge Stimme.

Ich drehte mich um, knallte das Buch zu und legte meinen Unterarm über den Einband, damit er den Titel nicht sehen konnte. Das Letzte, was ich brauchte, war, dass der arrogante Arsch erfuhr, dass ich meine Freizeit damit verbrachte, über ihn zu recherchieren.

»Ich würde gerne mit Ihnen reden.«

Ich nahm das Buch in die Hand und steckte es in die Tasche, die über der Lehne meines Stuhls hing. Der Gurt verlief quer über meine Brust, als ich ihn mir über den Kopf auf die Schulter hievte, und teilte mein Dekolleté auf eine Weise, die ich mehr als alles andere verabscheute.

Gurtbrüste waren nicht gerade attraktiv.

Grays Blick fiel nur für einen kurzen Moment darauf und blieb völlig teilnahmslos, bevor er mir wieder in die Augen sah. Es gab kein einziges Aufflackern von auch nur entferntem Interesse und ich unterdrückte den Unmut, den ich dabei empfand. Ich fühlte mich dadurch irgendwie unzulänglicher, obwohl es kaum eine Rolle spielte, was Männer von mir hielten.

Ich brauchte sie nicht, denn ich konnte alles, was ich wollte, auch allein erreichen. Sie waren nichts weiter als eine Ablenkung von meinem Ziel, außer er war dieses Ziel. Er war der Einzige, dem ich nicht erlauben konnte, sich von mir zu entfernen.

Fuck .

»Dann reden Sie«, sagte ich und schürzte die Lippen, während ich zeitgleich mit den Achseln zuckte.

Ich hatte nicht beabsichtigt, dass mein Unmut nach außen drang, ich hatte die zurückhaltende Version von mir selbst präsentieren wollen, die man mir beigebracht hatte. Doch die anderen Hexen verhielten sich alle kooperativ. Sie taten, was man ihnen sagte, passten im Unterricht auf und hingen an jedem seiner Worte, als wären sie eine Rettungsleine.

Vielleicht lag der Schlüssel zum Erfolg – sich vom Rest abzuheben – darin, ihn mit einer großen Klappe zu schlagen und ihn zu ärgern. Immerhin stand er in der Bibliothek und suchte mich . Nicht die anderen.

Selbst wenn er völlig desinteressiert schien, konnte ich damit arbeiten, dass er aus irgendeinem Grund seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. Ich konnte nicht damit umgehen, ignoriert zu werden.

Aus ihrer Ecke schnalzte die Bibliothekarin missbilligend mit der Zunge und warf mir einen Blick zu, den sie bei dem Direktor nicht anzuwenden wagte. Er lächelte leicht, drehte sich um und winkte mich nach vorne.

»Lassen Sie uns in mein Büro gehen«, sagte er.

Ich verdrehte die Augen, als ich um ihn herumschritt und die Bücher hinter mir liegen ließ.

Er schwieg, als wir in den Flur traten und die nächste Treppe hinaufstiegen. Ich lief hinter ihm her und versuchte, nicht an das letzte Mal zu denken, als wir zusammen auf der Treppe gewesen waren. Daran, wie er mich getragen hatte, als es völlig unnötig war; er hätte mich einfach Iban überlassen und mich in mein Bett stolpern lassen können.

Ich hatte gedacht, er wolle mit mir Sex haben, aber das Interesse daran schien zu schwinden.

Er drehte den Knauf an einer Tür, die sich allein auf dem Treppenabsatz unter den Schlafräumen befand, und schob sie auf. Dahinter offenbarte sich ein riesiger, heller Raum. Sein Büro war so groß wie die gesamte untere Etage des Hauses, in dem ich mit meiner Mutter und Ash gelebt hatte. Es gab drei bogenförmige Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten und über eine komplette Wand reichten. Sie gaben den Blick auf die Klippen frei, unter denen in der Ferne schwach der nebelverhangene Ozean glitzerte.

Vor den Fenstern stand eine Sitzecke mit einem kamelhaarfarbenen Sofa und einem übergroßen Stuhl, die einen Couchtisch einrahmten. Auf dem Tisch stapelten sich Bücher, trotz der Regale, die auf der gegenüberliegenden Seite die Wand hinter seinem Schreibtisch säumten. Dahinter stand ein leuchtend roter Stuhl mit geschwungener, strenger Rückenlehne. Der Direktor bewegte sich darauf zu. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen, so als ob es ihm egal wäre, dass jemand in seinen Privatbereich sehen könnte.

»Sie wohnen hier?«, fragte ich, als ich ihm zu seinem Schreibtisch folgte und meinen Blick von den dunkelgrau getäfelten Wänden und dem Himmelbett abwandte, das kunstvoll aus Eisen gefertigt und mit filigranen Goldverzierungen versehen war.

»Ich habe ein Haus im Dorf, aber ich bleibe hier, wenn in der Schule unterrichtet wird«, antwortete er glatt, lehnte sich an seinen Schreibtisch und deutete auf den einzelnen Stuhl, der davor stand.

Ich stellte mich daneben und weigerte mich, mich zu setzen, weil ich mich wie eine gescholtene Schülerin fühlte. Was auch immer ihn veranlasst hatte, mich hierher zu rufen, ich bezweifelte, dass es etwas mit meiner Kursarbeit zu tun hatte.

»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte ich und faltete die Hände vor dem Körper. Die Tasche über meiner Schulter war schwer mit Büchern beladen. Ich wollte nichts weiter, als sie abzusetzen.

Aber solange ich nicht genau herausbekommen konnte, wie Grays Geschichte lautete, hielt ich es für besser, abzuwarten, bis ich mehr darüber in Erfahrung gebracht hatte, was ihn antreiben mochte.

»Willst du wirklich stehen bleiben? Kannst du nicht einmal das tun, was man dir sagt, selbst wenn es etwas so Einfaches ist, wie in einem bequemen Stuhl Platz zu nehmen?«, fragte er und hob ungläubig eine Augenbraue.

Ich erwiderte seinen Blick und machte mir nicht die Mühe, eine Antwort zu formulieren. Er brauchte keine Worte, denn Gray schloss frustriert die Augen und kniff sich in den Nasenrücken, als hätte er meinetwegen die schlimmste Migräne bekommen.

»Unmöglich«, murmelte er.

»Das nehme ich als Kompliment«, murmelte ich, wandte den Blick von ihm ab und betrachtete den Rest seines Büros. Ich ignorierte den Luxus, der mir so unfair erschien, konzentrierte mich auf die kleineren Gegenstände im Raum und ließ zu, dass die Magie in mir ausschweifte … auf der Suche nach den Knochen.

»Das solltest du nicht tun«, blaffte er und lenkte mich von meinem Vorhaben ab.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte ich.

Sein Kopf wirbelte herum, seine Augen weiteten sich und ein verblüfftes Lächeln umspielte seine Lippen. »Alaric Thorne. Du weißt wirklich nicht mehr, wie ich heiße ?«, fragte er mit einem Schnauben und tat so, als ob er es für absolut möglich hielt, dass ich so etwas vergaß. Das war ziemlich dumm von ihm, denn ich erinnerte mich an alles .

»Nicht der«, sagte ich und verdrehte die Augen zur Decke. »Ihr wahrer Name.«

»Das«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust, während seine Miene sich verfinsterte »ist eine sehr unhöfliche Frage.«

»Es ist nur ein Name«, antwortete ich, wuchtete die Tasche von meiner Schulter und stellte sie auf den Stuhl, den er mir unbedingt anbieten wollte.

»Namen haben Macht. Mit Namen werden Dämonen von Hexen beschworen und ich habe nicht die Absicht, mich irgendwohin beschwören zu lassen«, sagte er und seine Stimme wurde leise, warnend.

»Es würde trotzdem funktionieren? Auch wenn Sie in einer Hülle stecken?«, hakte ich nach und dachte darüber nach, was ich über diese Schöpfung wusste.

Den Dämonen war eine unsterbliche Form gegeben worden, die Blut brauchte, um weiterhin zu funktionieren, aber ihre Seele war an diese Form gebunden. Sie konnten sich nicht mehr so frei bewegen, wie sie es früher getan hatten, als sie Menschen in Besitz nahmen und sich durch ihre Körper brannten.

Diese Hüllen hielten vor, aber sie waren ein Gefängnis.

»Würde es Ihre Seele dann aus der Hülle ziehen?«, fragte ich und neigte neugierig den Kopf. Die Idee hatte etwas für sich. Wenn Dämonen aus ihren Hüllen gerissen werden konnten, könnte man sie zurück in die Hölle schicken.

»Nein«, erwiderte er und seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Ich wäre gezwungen dem Ruf zu folgen, aber ich müsste den langen Weg nehmen.«

»Interessant«, murmelte ich und versuchte, meine Enttäuschung zu unterdrücken. Die Hüllen waren nicht meine Priorität, aber wenn es mir gelingen würde, die Welt von ihnen zu befreien, wäre ich nicht böse darüber.

»Ich habe dich hierher gebracht, um über einen Waffenstillstand zwischen uns zu sprechen, und du stehst da und planst meinen Untergang«, brummte er, aber das Zucken seiner Lippen war eher amüsiert als wütend.

»Ein Waffenstillstand?«, fragte ich und beobachtete, wie er um den Schreibtisch herumging und auf seinem Stuhl Platz nahm.

Sobald er sich niedergelassen hatte, deutete er auf den Stuhl, der auf mich wartete. Er schien zu erkennen, dass es uns auf gleiche Augenhöhe brachte, wenn er saß. Ich seufzte, hob meine Tasche vom Stuhl und stellte sie auf dem Boden ab, während ich dramatisch mit den Armen wedelte.

Ich würde es zwar tun, aber ich würde deutlich machen, dass ich es für dumm hielt.

»Es gibt keinen Grund, warum wir während unserer Zeit hier uneins sein sollten«, antwortete er auf meine Frage.

»Natürlich gibt es den. Sie sind eine Hülle und ich bin eine Hexe«, gab ich zurück.

Einfach ausgedrückt: Unsere Gattungen hatten sich jahrhundertelang gegenseitig gehasst. Die Hüllen hatten dem Covenant nie verziehen, was er Charlotte Hecate angetan hatte, und das konnte ich ihnen auch nicht verübeln. Sie hatte den Hüllen das Leben geschenkt und war für sie so heilig wie der Teufel selbst.

»Bist du das wirklich?«, fragte er und legte die Hände auf dem Tisch übereinander. Er beugte sich zu mir, sein stählerner Blick war fest auf mich gerichtet, als er mit der einen Sache fortfuhr, die auf ewig wahrhaft bleiben würde. »Du hast Magie in deinen Adern. Daran besteht kein Zweifel, aber du bist genauso ein Teil dieses Coven wie ich ein Engel bin.«

»Ich bin erst seit ein paar Tagen hier«, sagte ich und grub die Zähne in meine Unterlippe. Ich hatte nie vorgehabt, meinen Hass auf den Covenant zu verbergen, deshalb wusste ich nicht, weshalb mich seine Worte so sehr entwaffneten. Aber sie taten es trotzdem, denn es fühlte sich an, als hätte er mich entblößt und jede Schwachstelle offenbart.

Ich würde allein sein. Für den Rest meines Lebens, ob nun hier oder an einem anderen Ort. Wenn ich geflohen war, würde ich nichts mehr haben als die Kleidung an meinem Körper und hoffentlich einen Beutel mit Hecate-Knochen.

Das Leben einer Totenbeschwörerin war ein einsames Leben. Der Puls des Todes war für die meisten zu stark, um seine Nähe zu ertragen.

»In Wahrheit hast du nicht die Absicht, dem Coven beizutreten. Du verwendest Magie, die sie verboten haben – Magie, von der wir beide wissen, dass sie wiederhergestellt werden muss, damit die Welt wieder ins Gleichgewicht kommt«, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es gibt keinen Grund, dass jeder in Hollow’s Grove dein Feind sein muss.«

»Und warum würde ich von allen, mit denen ich mich hier anfreunden könnte, ausgerechnet Sie wählen?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich zog eine Braue hoch und beobachtete, wie seine blauen Augen als Antwort herausfordernd funkelten. Was auch immer zwischen uns war, was auch immer uns so heftig aufeinanderprallen ließ, alles in diesem Blick deutete darauf hin, dass er wusste, was passieren würde, wenn es endlich ausbrach. »Ich glaube, du bist nicht die Einzige, die weiß, was es heißt, allein unter vielen zu sein«, sagte er und seine Stimme war weicher als sonst, wenn er mit mir sprach. Der Anflug von Ernsthaftigkeit strich über meine Haut und kühlte das Brennen, das sich in meiner Brust auszubreiten schien, sobald er in der Nähe war.

»Die anderen Hüllen respektieren Sie«, stellte ich fest und beobachtete, wie er hinter seinem Schreibtisch aufstand. Er lief zu den Bücherregalen im Wohnzimmer und ging die Buchrücken durch, bis er fand, was er suchte. Er kehrte an den Schreibtisch zurück und ließ den Wälzer mit einem dumpfen Schlag, der in meiner Seele nachhallte, auf die Tischplatte fallen.

»Die anderen Hüllen fürchten mich«, korrigierte er mich mit einer lässigen Handbewegung. »Genauso wie der Rest des Coven dich fürchtet. Sie sind uns nicht ebenbürtig und das wissen sie genauso gut wie wir.«

»Nur weil Sie so arrogant sind und sich für etwas Besseres halten als alle anderen, heißt das nicht, dass ich das auch tue«, erwiderte ich und legte meine Hände auf die Schreibtischkante, während er sich wieder setzte und das Buch aufschlug. Es war eine Karte von Crystal Hollow, dem Dorf außerhalb des Schulgeländes, das ich noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Weihestätten des Dorfes zu besuchen, aber ich wusste genau, dass die Knochen in Hollow’s Grove selbst lagen. Ich konnte spüren, wie sie in der Ferne pulsierten und nach mir riefen, jenseits jeglicher Verzauberung, die sie verbergen sollten.

»Ist es Arroganz, wenn es wahr ist?«, fragte Gray mit leichtem Lachen und ließ seine Hände auf dem Buch vor ihm ruhen. »Du bist nicht wie sie, kleine Hexe. Du bist mehr wert als sie alle zusammen.«

Diese Spur von Fürsorge durchdrang die Mauern, die ich um mich herum aufgebaut hatte, und nagte an mir, bis ich mich zu einem spöttischen Lächeln zwang, um zu verbergen, wie sehr diese Worte alles bedrohten. Noch nie in meinem Leben war ich etwas anderes wert gewesen als einen Racheplan, der zu meinem Tod führen würde. Noch nie hatte jemand auch nur angedeutet, dass er mich sah.

»Ich bin vielleicht nicht wie sie«, gab ich seufzend zu und ließ meinen Blick zum Fenster und den Wäldern in der Ferne schweifen. »Aber deshalb bin ich trotzdem nicht wie Sie

»Ich vermute, wir haben viel mehr gemeinsam, als du jemals zugeben würdest«, meinte er und eine Warnung flammte in seinem Blick auf, als er eine der Schubladen in seinem Schreibtisch öffnete. Er zog einen grünen Ordner heraus, klappte ihn auf und starrte auf die Seiten. Oben auf der ersten Seite war ein Bild von mir zu sehen, das an dieses Informationspaket geklammert war. Er blätterte die Details meines Lebens durch.

»Warum haben Sie so etwas?«, fragte ich und schob meine Angst beiseite. Wenn der Coven die Wahrheit wüsste, wäre ich nicht hier. Dann wäre ich nicht auf freiem Fuß, und Ash ebenfalls nicht.

»Eine tote Mutter und ein abwesender Vater. Check«, sagte er, anstatt zu antworten, und brach dann ab, als hätte er mir nichts Wichtiges verraten. Ich blieb ruhig und zwang mich, ihm zu erlauben, die Fakten meines Lebens durchzugehen. Keiner davon würde etwas Wichtiges über mich als Person enthüllen, aber vielleicht, nur vielleicht, würde er mir etwas geben, mit dem ich arbeiten konnte.

Eine Schwäche, die ich ausnutzen konnte.

Die Akte war lächerlich kurz, was durch meine mangelnden Aktivitäten außerhalb meines Zuhauses noch betont wurde. Es war mir nie erlaubt worden, an außerschulischen Aktivitäten teilzunehmen oder viele Freunde zu haben.

Die Ausbildung mit meinem Vater an den Wochenenden machte diese Dinge fast unmöglich, aber die Art und Weise, wie die Menschen mich angeschaut hatten, als könnten sie spüren, dass ich anders war, hätte dem sowieso ein Ende gesetzt.

»Du bist oft mit blauen Flecken in der Schule aufgetaucht, aber du hast behauptet, dass du nicht misshandelt wurdest«, sagte er und seine Stimme wurde leiser, als er die Worte laut vorlas. »Gegen wen hast du dich dann gewehrt, Willow?« Er hob den kalten Blick von der Akte.

»Gegen jeden, den ich in die Finger bekommen konnte«, gab ich ohne zu zögern zu. Ich wollte ihm nicht sagen, was mich zum Kämpfen in diese Käfige getrieben hatte, denn das würde viel zu viel verraten.

Er griff über den Schreibtisch und strich mit seinem Finger über meine Fingerknöchel, die ich – wie ich gerade zugegeben hatte – als Waffe benutzte, wenn es mir passte. »Dann wissen wir beide, wie befriedigend es sein kann, wenn die Haut unter unseren Fäusten aufplatzt, nicht wahr?«

»So bin ich nicht mehr«, sagte ich und hatte das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, als er mich mit so viel Verständnis ansah, dass ich meinte zu zerbrechen. Ich musste seine Schwäche finden.

Nicht meine.

»Nein, wir haben beide ein anderes Ventil für unsere Wut gefunden, richtig?«, sagte er, seine Stimme ein Brummen, als er sich zurückzog und sich aufrechter in seinen Stuhl setzte. »Wir wissen beide, wie es ist, die Last unserer Leute auf den Schultern zu tragen und sich selbst nicht zu genügen. Wir wissen beide, was es heißt, unfassbare Kräfte zu besitzen und trotzdem das Gefühl zu haben, dass wir die, die uns wichtig sind, nicht beschützen können.«

»Sie kennen mein Geheimnis«, sagte ich und legte den Kopf schräg mit einem verschmitzten Grinsen. Ich bemühte mich, es nicht so ernst wirken zu lassen, während ich nach der Antwort suchte, die ich wirklich brauchte. »Es ist wohl kaum fair, dass ich Ihres nicht kenne.«

»Es gibt nur eine Person, deren Leben für mich von Bedeutung ist, kleine Hexe. Du tust gut daran, dich zu erinnern, dass ich sie mit meinem Leben vor allen beschützen werde, die ihr schaden wollen«, sagte er und beugte sich vor, um mich anzufunkeln.

»Vorsichtig, Gray. Das klingt fast wie ein Liebesgeständnis«, sagte ich und versuchte, meine Enttäuschung zu verdrängen. Nichts davon war hilfreich bei meiner Suche nach den Knochen.

»Hüllen können nicht lieben«, sagte er und wiederholte damit die Aussage, über die ich schon von Anfang an im Bilde war. »Aber das heißt nicht, dass sie nicht besessen sein können von dem, was sie als das Ihre betrachten.«

Er neigte seinen Kopf zur Seite und musterte mich herausfordernd.

Die Bewegung lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Porträt in seinem Rücken. Das morbide Bild von Lucifers Fall in Ungnade grinste mir ins Gesicht. Wo einst die gefiederten Flügel eines Engels waren, klafften nur noch die offenen Wunden, als sie ihm aus dem Fleisch gerissen worden waren.

Eine einzelne Träne rann über die Wange des Mannes, dessen atemberaubend schöne Gesichtszüge sich vor Schmerz verzerrt hatten. Seine Augen glommen golden und der harte Ausdruck in Seiner Miene gab jede Faser Seiner Wut preis.

Er war anders als alles, was ich je gesehen hatte, und strahlte eine solche Kraft aus, dass mir der Atem stockte. Das war derjenige, dessen Zorn ich riskierte, wenn ich es irgendwie schaffte, den Covenant und die Hüllen entzweizuschlagen. Wenn ich Lucifers Lakaien zurück in die Hölle schickte, ohne dass Er es wollte, würde ich mich selbst in große Gefahr bringen.

»Es soll uns als Mahnung dienen«, sagte Gray, seine Worte waren Mitgefühl und Vorwurf zugleich. »Egal, wie schön das Äußere auch sein mag, wir sind alle zu großen und schrecklichen Dingen fähig.«

»Das klingt, als käme es aus einem Glückskeks«, entgegnete ich und wandte meinen Blick wieder zu ihm. Ich verwandelte mein Gesicht erneut in die emotionslose, leere Leinwand, die ich jahrelang perfektioniert hatte, und wischte mir mit der feuchten Hand über den Rock, um das einzige verbliebene Anzeichen der Angst zu verbergen, die das Porträt in mir ausgelöst hatte.

»Worauf ich hinauswill«, sagte er und seine Stimme wurde weit weniger geduldig, als er sich von seinem Schreibtisch erhob, »ist, dass du in der Lage bist, selbst zu denken. Du weißt so gut wie ich, dass der Coven in unnatürliche Verhaltensweisen verfallen ist, und dass der Covenant, aus welchen Gründen auch immer, entschlossen ist, diesen Verfall zu fördern. Zwei Familienlinien sind dadurch fast ausgelöscht worden. Vielleicht bist du genau das, was diese Schule jetzt braucht, Miss Madizza.«

»Wie das?«

»Du bist mutig genug, um einen Pakt mit dem Teufel zu schließen? Nimm mich stattdessen«, sagte er und hielt mir die Hand hin. Er hob sie zum Mund und punktierte mit einem Fangzahn den Daumen, bis dort ein Blutstropfen hervorquoll. »Hilf mir, den Coven wieder auf den alten Weg zurückzuführen und das Gleichgewicht wiederherzustellen, bevor es zu spät ist und Crystal Hollow nur noch eine leere Hülle dessen ist, was es einst war.«

»Warum kümmert Sie das?« Ich hielt inne und dachte nach, während der Duft von Erde und Vanille die Luft erfüllte. »Und was habe ich davon?«

»Es kümmert mich, weil dies mein Zuhause ist, solange der Coven hier ist. Willst du nicht, dass es wieder zu dem wird, was es sein sollte?«, fragte er und seine Lippen öffneten sich. Deren Mitte war mit Blut befleckt, was sie noch üppiger aussehen ließ als sonst.

Der irrationale Drang, mich nach vorne zu beugen und es von seinem Mund zu lecken, rauschte durch mich hindurch. »Es ist mir ziemlich egal, was mit dem Coven passiert.« Das stimmte, aber was mit der Erde als Folge ihres Verhaltens geschah, war eine andere Geschichte. Ich konnte nicht jede Pflanze allein wiederherstellen.

Selbst meine Magie war nicht so allumfassend.

In einer Stadt ohne Pflanzen und ohne Leben wäre meine Magie nutzlos. Diese Fäulnis würde sich schließlich ausbreiten, wenn der Coven gezwungen wäre, Crystal Hollow zu verlassen und eine weitere Stadt zu zerstören. Alles Leben war miteinander verbunden, und selbst nachdem meine Zeit in Crystal Hollow zu Ende gegangen sein würde, bekäme ich die Folgen zu spüren. Ich würde den Schaden wahrnehmen, den sie der Quelle meiner Magie und meiner Verbindung zu ihr zufügten.

Sie würden mich unweigerlich schwächen, auch ohne mich zu berühren, und es mir unmöglich machen, Ash in irgendeiner Weise zu beschützen.

Gray nickte und bewegte den Daumen dichter zu mir. Er näherte sich meinem Mund, berührte ihn jedoch nicht. Der Pakt mit einem Dämon musste mit meinem Einverständnis abgeschlossen werden und er konnte nichts tun, bevor ich nicht aktiv zustimmte.

»Ich biete dir Schutz vor dem Covenant. Ich werde dafür sorgen, dass sie ihre Absicht, dich so schnell wie möglich zu verheiraten und schwängern zu lassen, nicht ohne deine ausdrückliche und freiwillige Zustimmung durchsetzen kann.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, machte einen Satz und zog sich dann zusammen. Meine Mutter hatte mich gewarnt. Sie hatte mir erzählt, dass sie genau deshalb geflohen war, weil der Covenant sie mit jemandem verheiraten wollte, dem ihre eigenen Gedanken und Gefühle völlig egal gewesen waren. Ich hatte gewusst, dass meine Zeit hier begrenzt sein würde, bevor sie genau das versuchen würden, aber so wie er es klingen ließ …

»Haben sie schon angefangen, über Heiratskandidaten zu reden?«, wollte ich wissen und wandte meinen Blick von ihm ab.

»Ich glaube, sie haben schon über sie gesprochen, bevor du überhaupt in Crystal Hollow angekommen bist. In dem Moment, als sie deine Existenz entdeckten, hattest du für sie nur einen Zweck. Nichts, was sie tun, ist ein Zufall. Den Bray-Jungen am Tag deiner Ankunft zu schicken, war durchaus beabsichtigt«, erklärte er, und obwohl ich darauf vorbereitet war, konnte ich meinen Ekel nicht abschütteln.

Ich war mehr als nur eine Gebärmutter und es war mir egal, ob er in ihren Augen der ideale Anwärter war.

»Wie wollen Sie mich davor beschützen?«, fragte ich. Auch wenn ich den Verdacht hegte, dass er hier mehr Macht besaß, als meiner Mutter bewusst gewesen war, glaubte ich nicht, dass sie so weit reichte.

»Ich habe meine Mittel und Wege. Im Moment musst du nur darauf vertrauen, dass ich mich an meinen Teil der Abmachung halte.«

»Gilt dieser Schutz auch für andere Dinge? Werden Sie sie davon abhalten, mich zu töten, wenn ich sie bei der Wiederherstellung der alten Wege zu sehr verärgere?«, hakte ich nach und schürzte die Lippen. Ich konnte die Knochen nicht finden, wenn ich tot wäre.

»Tot bist du für mich nutzlos. Ich habe ein großes Interesse daran, dass du lange genug überlebst, um mir zu helfen – also Ja. Mein Schutz wird sich auch auf andere Aspekte deines Lebens erstrecken, wenn ich sie als gefährlich für deinen Körper oder dein allgemeines Wohlbefinden erachte. Sei es emotional, mental oder physisch«, antwortete er und starrte auf das herausquellende Blut.

»Und wer wird mich vor Ihnen beschützen?«

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er trat einen Schritt näher, bis sein Daumen nur noch einen Hauch davon entfernt war, meine Lippe zu berühren.

»Ich habe das Gefühl, du kommst auch allein zurecht, kleine Hexe«, sagte er.

Ich griff nach seinem Handgelenk und schob seine Finger von meinem Gesicht weg. Ich beugte mich vor und gab dem Wunsch nach, das Blut von seinem Mund zu lecken. Ich nahm seine Unterlippe in den Mund und fuhr mit der Zunge über die Oberfläche, bis süßes Apfelaroma sie benetzte. Ich hob seine Hand zu meinem Mund und saugte so fest an seinem Daumen wie ich konnte, um sein Blut zu trinken und es als Teil von mir aufzunehmen.

Seine Augen waren immer noch halb geschlossen, als ich seinen Daumen langsam herauszog und ihn schließlich losließ, als er sich nach vorne beugte. Es war üblich, dass er meinen Daumen auf die gleiche Weise durchbohrte, wie er es bei sich getan hatte, doch er ahmte meine Handlungen nach. Sein Blick fixierte mich, während sein Mund nur einen Atemzug von meinem entfernt verharrte; er bohrte seine Zähne in meine Unterlippe, bis sie blutete. Er stöhnte, als er die Wunde mit seinem Mund bedeckte, an dem Fleisch saugte und das Blut aufnahm, das er für den Pakt benötigte.

Ich war atemlos, als er sich zurückzog, meine Augen waren geschlossen. Als ich sie öffnete, sah ich seinen arroganten, stählernen Blick, in dem Verlangen glühte, und Fäden aus Magie zogen sich durch seine Iris.

»Ich mag Sie immer noch nicht«, murmelte ich und trat einen Schritt zurück, um mich zu beruhigen. Ich straffte die Schultern, um meine Emotionen besser im Zaum zu halten. Da sein Blut noch frisch in mir war, würde er einen besseren Zugang haben.

Aber nicht, wenn ich nichts fühlte.

Er grinste und ein leises Glucksen entfuhr ihm, als er wieder hinter den Schreibtisch trat. »Und ich habe immer noch vor, dich zu vögeln, kleine Hexe.«

»Dann bleiben wir wohl in mancher Hinsicht uneinig«, erwiderte ich, hob meine Tasche vom Boden auf und schob sie über meine Schulter.

»Aber diese Uneinigkeiten machen viel mehr Spaß«, sagte er.

Ich konnte mir ein klitzekleines Lächeln nicht verkneifen, als ich den Kopf über ihn schüttelte. Auf dem Absatz machte ich kehrt und floh aus dem Büro und vor dem merkwürdig warmen Gefühl, das meine Kehle hinaufkletterte.

Das ist nur das Blut , erinnerte ich mich.