Willow
Susannah schritt im Klassenzimmer auf und ab. Seit ich Hollow’s Grove besuchte, hatte ich gelernt, das Klicken und Klacken ihrer Knochen auf dem Boden auszublenden. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, so zu tun, als gäbe es mich nicht; vermutlich weil sie nicht wusste, was jeden Moment aus meinem Mund kommen könnte.
Das hatte vielleicht auch damit zu tun, dass ich sie eine »überhebliche Lektion in Knochendichte« genannt hatte, als sie mir unterstellte, ich würde nicht aufpassen.
Manchmal tat die Wahrheit weh.
»Woher kommt die Magie?«, fragte sie, während sie auf und ab ging und ihren Blick über die Gesichter in unserer Gruppe schweifen ließ.
Ich hatte gelernt, dass die Legatinnen und Legaten je nach Alter gemeinsam den Unterricht besuchten. Die kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die mich in jeder meiner Kurse umgab, stammte von einer der ursprünglichen Blutlinien. Die meisten von ihnen hatten die Jahrhunderte ohne Probleme überlebt.
Es war mir nicht entgangen, dass ich von den beiden einzigen Blutlinien abzustammen schien, die sich nicht schnell genug fortpflanzten, um die Morde innerhalb der Familien auszugleichen. Das war für mich in Ordnung.
Das bedeutete nämlich, dass mein Onkel mir kein Messer in den Rücken stoßen würde, weil ich keinen hatte.
»Von der Quelle«, antwortete Della stolz.
»Und was ist die Quelle, Miss Tethys?«, fragte Susannah und hielt inne, um die Blaue mit einem prüfenden Blick anzustarren.
»Da … da kommt die Magie her«, sagte sie und zuckte mit den Schultern, als ob das Warum keine Rolle spielen würde.
»Sie kommt aus der Welt um uns herum. Sie existiert in allem. Deshalb gibt es auch so viele verschiedene Ausprägungen der Magie«, sagte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Ich entspannte mich dort, wo die anderen zu sehr damit beschäftigt waren, sich Notizen zu machen oder die Covenant anzustarren, als würde sie mit ihren Knochen deren Fleisch zermalmen und sie zu ihrem Abendessen machen.
»Wie erklärst du dir dann die Roten?«, fragte einer der Hexer. Sein blondes Haar war lang und schwang in einer geraden Linie über seinen Schultern. Seine braunen Augen waren fest auf mich gerichtet, während seine Haltung sich versteifte.
»Wenn du denkst, dass Sex unnatürlich ist, dann liegt das an deinem Selbsthass, bei dem ich dir nicht helfen kann«, sagte ich und lächelte ihn an, als sich sein Kiefer anspannte.
»Genug, Willow«, schimpfte Susannah.
Ich sagte kein weiteres Wort, nicht weil sie mir gesagt hatte, ich solle ruhig sein, sondern weil ich meinen Standpunkt bereits klargemacht hatte. Ich verzog meine Lippen zu einem süffisanten Lächeln und wartete auf die Bestätigung, von der ich wusste, dass sie sie geben würde.
»Verlangen, Lust und Sex sind Teil der Natur, Mr. Peabody.«
Der Rote schaute nicht in meine Richtung, seine Hand umklammerte seinen Stift nur etwas fester.
Ich war mir nicht sicher, womit die Legatinnen und Legaten ihre Kindheit in der Stadt Crystal Hollow verbracht hatten, aber es schien nicht so, als ob Bildung auch nur im Entferntesten auf der Liste stand.
»Die genaue Anzahl der Häuser von den ursprünglichen Familien wurde von den Elementen bestimmt, nicht von uns. Es gab andere Familien, die wir in Salem zurücklassen mussten, obwohl wir wussten, dass sie dadurch wahrscheinlich unter der Ungerechtigkeit der Hexenjäger leiden würden. Das Gleichgewicht ist von größter Bedeutung und es gab nur die Möglichkeit, dass zwei von jeder Farbe mit uns kamen. Die Kristallhexen und Kosmoshexen, die Wasser- und Feuerhexen, die Luft- und Erdhexen und die Lebens- und Totenhexen. Wir kennen sie gemeinhin als die Sexhexen und die Totenbeschwörerinnen, aber sie wurden geschaffen, um das Gleichgewicht zu Hecates Linie herzustellen«, erklärte Susannah und warf den Apfel, den sie in den Fingern hielt, in die Luft. Sie fing ihn auf und ich stellte mir vor, wie das Fruchtfleisch unter ihrem harten Griff zerquetscht wurde.
So wie sie es mit dem getan hatte, was der Coven eigentlich hätte sein sollen.
»Warum gab es in der Hecate-Linie nur eine Familie?«, fragte ich, um die Antwort zu bekommen, die mir meine Mutter nie hatte geben können. Jede der anderen Manifestationen der Quelle hatte zwei Blutlinien bekommen, außer der ursprünglichen.
»Charlotte Hecate war zu stark für ihr eigenes Wohl. Ihre Fähigkeit, den Tod zu lenken und eine verdrehte Art von Leben zu schenken, konnte nicht nachgeahmt werden. Hätte man diese Art von Macht multipliziert, wären katastrophale Folgen möglich gewesen. Also haben wir ihrer einzelnen Kraft zwei Punkte als Gleichgewicht entgegengesetzt, in der Hoffnung, dass sie so in den Griff zu bekommen ist«, erklärte sie und die Worte fühlten sich wie eine Lüge an, als sie sie aussprach. Ohne Zweifel war da etwas Wahres dran, aber etwas anderes hatte sich in meinem Hinterkopf eingenistet.
Etwas, das ich nicht ganz zu begreifen vermochte. Die Hecate-Linie war schon zu Lebzeiten im Nachteil gewesen, weil sie ihre Magie nicht an ihre Familienmitglieder weitervererben konnte. Die anderen Häuser waren zwar zahlenmäßig stark, die Hecate-Linie bestand indes immer nur aus einer Hexe.
Wenn sie starb, wurde die Magie weitergegeben.
Bis zu meiner Tante. Die einzige mögliche Quelle für die Magie war mein Vater und er hätte sie spüren müssen, auch wenn sich die Knochen außer Reichweite befanden. Aber erst als ich volljährig wurde, begannen die Knochen nach mir zu rufen.
Mein Vater hatte einen Verdacht. Und er hatte leider recht gehabt.
»So gefährlich Charlotte Hecate zu Lebzeiten auch gewesen ist, der Tod ihrer letzten Nachfahrin war eine Tragödie für den Coven. Als ihre Schöpferin und das einzige Haus, das sie unschädlich machen konnte, ermöglichte der Tod ihrer Linie den Hüllen, an Macht zu gewinnen. Uns wurde es damit unmöglich gemacht, sie dauerhaft loszuwerden. Wie kann man etwas bestrafen, das nicht stirbt? Wie hält man es im Zaum, wenn es zu stark ist, um es zu bekämpfen, und keine Bedrohung vorhanden ist, die nicht die Magie der Hexe mit sich reißen würde?«, fragte Susannah und schaute sich im Raum um.
»Man könnte sie verbrennen«, rief einer der Gelben, schnippte mit den Fingern und formte eine kleine Flamme.
»Die Hülle wird sich selbst wieder herrichten, sogar aus der Asche«, antwortete Susannah.
»Was wäre, wenn man sie in einem Stein einschließt?«, fragte eine Weiße Hexe und spielte mit den Kristallen in ihrer Handfläche. Ihre dunklen Wimpern flatterten nervös, als ob sie die Antwort schon kannte.
»Das kann eine Zeit lang funktionieren, doch es gibt nur sehr wenig, was eine Hülle für lange Zeit einschließen kann. Sie sind stark genug, um Felsen zu zertrümmern«, erwiderte Susannah und ich fragte mich, was Gray wohl von diesem Gespräch halten würde.
Dass sie seinen Schülern beibrachte, wie sie ihm schaden könnten.
»Ich glaube, Sie können diese Frage am besten beantworten, Covenant. Schließlich kann man nicht töten, was bereits tot ist«, sagte ich und hob eine Augenbraue, als sie sich umdrehte und mich aus diesen gruseligen, leeren Augenhöhlen anstarrte. Fast glaubte ich, ich hätte gesehen, wie sich ihre Knochen zu einem Lächeln verzogen, falls so etwas überhaupt möglich war.
Konnte man lächeln, wenn man keinen Mund hatte?
Ich erschauderte, als Susannah sprach. »Die einzige Möglichkeit, eine Hülle zu schwächen, ist, ihr die Nahrungsquelle zu entziehen. Nur dann kann man sie lange genug in der Erde einschließen, damit sie sich langsam in nichts auflöst. Ohne das Blut der Hexe, das die Hülle erhält, hört sie irgendwann einfach auf zu existieren.«
»Und wie bringt man eine Hülle dazu, nicht einfach das Blut zu nehmen, das sie braucht?«, hakte Della nach.
»Das ist unmöglich«, sagte ich und wandte meinen Blick zu ihr. Es gab nichts auf der Welt, was eine Hülle dazu bringen könnte, sich nicht zu ernähren.
Ich lächelte, als Susannah schwieg, aber wir tauschten einen wissenden Blick aus. Zum ersten Mal begriff sie, dass ich etwas wusste, was sie aufgrund ihres Gelübdes auf die Heiligkeit des Coven nicht preisgeben durfte. Sie durfte die Hexen und Hüllen nicht zu Gewalt anstacheln.
Der einzige Weg, wie eine Hexe eine Hülle davon abhalten konnte, sich zu ernähren, bestand darin, den Preis für einen gebrochenen Pakt zu verlangen. Der Preis war die Knechtschaft – die Unfähigkeit, die Forderungen des anderen abzulehnen.
Wenn Gray mich nicht wie versprochen vor Schaden bewahren würde, würde sein Leben mir gehören.
Ob ich die Knochen fand oder nicht.