Gray
Ich stürmte die Treppen von Hollow’s Grove hinab und steuerte auf den Hof zu. Eine der Hexen eilte neben mir her. Sie kontrollierte ihre Gesichtszüge sorgfältig, während sie gestikulierte. Ihre Nerven lagen blank und zwar aus gutem Grund.
Vor fünfzig Jahren hatte ich beinahe eine Hexe erwürgt, als sie mir eine ähnliche Nachricht überbracht hatte.
Meine Begleiterin ging durch den Haupteingang nach draußen und blickte nicht zu mir zurück, um zu sehen, ob ich noch folgte. Als sie an meine Tür geklopft hatte, hatte ich mir nicht einmal die Zeit genommen, ein Hemd überzuziehen, da ich die Lage mit eigenen Augen begutachten wollte. Es war unmöglich, dass sich so etwas noch einmal ereignete.
Wir hatten damals doch die Person gefunden, die die Verbrechen gestanden hatte und sie entsprechend der Justiz zugeführt.
Die beiden Covenants standen nebeneinander im Hof und starrten auf den Boden vor dem Spalier, dem Willow ein Opfer gebracht hatte. Frisches Leben erfüllte den gesamten Raum im Zentrum der Schule, was nicht den leisesten Zweifel zuließ, dass sich hier etwas zugetragen hatte. Hätte Willow nicht schon zugegeben, was sie getan hatte, hätte Iban es wohl ausgeplaudert.
Insbesondere angesichts dessen, was ich hier auf dem Boden liegen sah.
Ihre Augen starrten in den Himmel hinauf, leer und ohne Blick. Ich stieg über die Umrandung und kletterte durch den Fensterbogen. Die Hexe, die mich über die Tote informiert hatte, blieb zurück und hielt sich die Hand vor den Mund.
Der Körper der jungen Hexe war zur Hälfte von stacheligen Kletterpflanzen bedeckt. Rosen waren über ihre Arme und Beine gewachsen, als wollten die Pflanzen den Körper für sich beanspruchen und ihn an Ort und Stelle in die Erde versenken. Sie strebten kräuselnd und so lebendig über die Haut der Toten, wie ich es seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte.
Ich trat näher heran und erkannte die Hexe als eine der Schülerinnen, die ich von außerhalb nach Crystal Hollow gebracht hatte. Sie war eine der Dreizehn – eine der wenigen jungen Frauen an der Schule, die keine Familienvergangenheit innerhalb der Stadtgrenzen hatte.
Nur wenige kannten die tatsächlichen Hintergründe der damaligen Ereignisse und wussten, was dem Massaker vorausgegangen war, das so viele Opfer unter uns gefordert hatte. Und noch weniger kannten die blutigen Details dessen, was die Dreizehn dieses Jahrgangs hatten erleben müssen.
Ich konnte mich nicht an den Namen der jungen Hexe erinnern, beugte mich aber über sie. Mit einem Finger berührte ich ihre Augenlider – und schloss sie. Der Gedanke erschreckte mich, dass sich bislang noch keiner darum bemüht hatte, und ich sah mich zu den Versammelten um.
Sofort fiel mir Willow auf, die verwirrt den Leichnam ansah. Vermutlich hatte die junge Hexe bis zum Tod ihrer Mutter noch nicht viele Leichen gesehen.
»Wir sollten die Schule schließen. Jetzt«, erklärte George und äußerte damit einen Gedanken, von dem ich wusste, dass Susannah ihn nicht unterstützen würde. Die beiden Covenants blickten sich an und sogar Susannah seufzte, als sie mit dem Kopf schüttelte. Ihre Brust gab nach und ihr gesamter Körper sackte ein wenig zusammen, obgleich es keine Luft in ihrem Körper gab.
Oder eine Lunge.
»Wer auch immer dafür verantwortlich ist, unsere Schülerinnen und Schüler von der verdienten Ausbildung abzulenken, wir werden ihn zur Verantwortung ziehen. Es wird ein Nachahmungstäter sein, jemand, der es für lustig hält, unseren jungen Hexen noch ein weiteres Mal diesen Schrecken einzujagen«, erklärte sie und ich fragte mich, was es brauchte, damit sie die Wahrheit erkannte.
Falls das noch ein weiteres Mal passierte, gäbe es kein frisches Blut mehr für sie, das sie mit ihren Hexen mischen könnte.
»Was ist mit Willow? Sie ist hier nicht sicher«, stellte George fest und blickte in die Richtung, in der das Hexenmädchen stand. Es hatte unser Vorgehen genau beobachtet, knurrte jetzt und produzierte einen Laut, der dem erbittertsten einer Hülle ebenbürtig war, dann sprang sie über die Brüstung in den Hof.
Sie ignorierte den Covenant, trat an die junge Hexe heran und berührte mit einer Hand die Pflanzen, die sich um den Körper gewickelt hatten. Sie zog an ihnen und flüsterte ihnen leise den lateinischen Befehl zu, sich von ihrer Beute zurückzuziehen. Die Kletterpflanzen gehorchten und zogen sich langsam in den Boden zurück, als wollten sie der Toten nicht länger schaden.
Eine männliche Stimme ertönte. »Auf mich haben sie nicht gehört.« Ich sah auf und blickte dem Familienältesten der Brays in die braunen Augen. Argwöhnisch warf er Willow einen Blick zu, die Erde vom Boden aufhob und in die Schnitte auf dem toten Körper der Hexe rieb. »Ist ja interessant, dass sie auf dich hören. Fast, als würden sie dich wiedererkennen.«
»Genau das tun sie auch«, sagte Willow und betrachtete den Leichnam. Mir wurde klar, dass sie nach Wunden suchte, nach der Todesursache. »Ich habe bei meiner Ankunft in Hollow’s Grove diesem Hof ein Opfer gebracht.« Sie hob die Jacke der jungen Frau an und schrak zusammen, als der Stoff an der Brust festklebte.
Das aus dem Loch in ihrer Brust ausgelaufene Blut war angetrocknet und mit dem Kleidungsstück verklebt. Die Tote musste schon eine ganze Weile hier unentdeckt gelegen haben, damit so etwas passieren konnte.
Wie schon bei den Ereignissen vor fünfzig Jahren war der Hexe etwas geraubt worden – etwas Lebenswichtiges. Dort, wo ihr Herz hätte sein sollen, klaffte nun ein großes Loch, und Willow konnte den Blick nicht davon abwenden. Die anderen Hexen, die sich um den Hof versammelt hatten, reagierten völlig anders. Man hörte, wie erschrocken nach Luft geschnappt wurde.
Willow hingegen blieb still sitzen und sah unverwandt zur Leiche hinab, wo andere rasch den Blick von all dem Blut abwendeten. Als könnte Willow nicht anders. »Von ihrem Herzen ist nichts mehr zu sehen.« Als sie schließlich den forschenden Blick abschweifen ließ, setzte sie sich zurück auf ihre Absätze. »Was ist mit ihm passiert?«
Vorsichtig berührte sie mit einem Finger die Schnitte auf der Brust der Hexe. Die Striemen waren viel zu tief, als dass sie von einem Menschen stammen konnten.
»Wir haben es noch nicht gefunden«, erklärte Susannah. Sie tauchte aus ihrer Trance auf und trat vor. Sie nahm Willow am Unterarm und versuchte, sie auf die Beine zu ziehen. Ich musste gegen den Drang ankämpfen, mit dem ich am liebsten dafür gesorgt hätte, dass sie ihre Knochen vom Hexenmädchen ließ.
»Warum sagst du uns denn nicht, was du mit ihr gemacht hast, Mädchen?«, wollte Bray wissen und verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Sie glauben, ich war das?« Willows Stimme stieg an, als könne sie die Schockwelle nicht bremsen, die sich durch ihren Körper zog.
»Du hast ein Opfer gebracht und ein paar Tage später liegt eine Hexe tot an genau dieser Stelle. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist«, sagte Bray und ließ Willow nicht aus den Augen.
Sie zog eine Augenbraue hoch, stand auf und legte ihren Kopf auf eine urtümliche Art und Weise schräg, wie ich es noch nie bei einer Hexe gesehen hatte. Etwas an dem Winkel ließ mich aufmerksam werden, denn ich wusste, dass Bray einen großen Fehler begangen hatte.
»Wenn ich jemanden töten wollte, wäre es wohl kaum eine Hexe, die ich nicht einmal kannte«, sagte sie. Ich sah, wie sich ihr Kiefer anspannte. »Wenn ich töte, werde ich nicht so dumm sein, den Körper herumliegen zu lassen.«
»Das reicht.« Susannah seufzte beim Blick auf Ibans Onkel.
Der ältere Bray schloss umgehend seinen Mund und schluckte hinunter, was auch immer er hatte sagen wollen. Es machte mir großen Spaß, mir vorzustellen, dass Willow aufgrund ihrer Blutlinie nach ihrem Abschluss in Hollow’s Grove eines Tages im Gericht sitzen würde – und als letzte verbliebene Madizza würde sie in dem Moment, in dem sie mit der Schule fertig war, mit diesem Bray auf einer Ebene stehen.
Das geschah ihm recht.
»Willow hat keinen Grund, eine der Dreizehn zu ermorden«, erklärte Susannah.
»Vielleicht tötet sie jene, mit denen sie um Ibans Zuneigung kämpft und will all jene loswerden, die ihren Absichten in den Weg kommen könnten«, erwiderte Itar Bray. Das Lächeln, das in seiner Stimme zu hören war, hatte etwas Grausames. »Iban hatte eine recht enge Beziehung zu Miss Sanders, bevor du in Hollow’s Grove ankamst.«
Er sah Willow an und wartete auf den Augenblick, in dem sie zeigte, wie verletzt sie war, in dem sie wie das eifersüchtige Schulmädchen zusammenbrach, für das er sie offensichtlich hielt. Doch sie machte sich aus dem Griff der Covenant los, ging auf Itar zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand, und sah ihm direkt in das selbstgefällige Gesicht. Sein gesunder Menschenverstand brachte ihn dazu, unter ihrem Blick ins Schwanken zu geraten, und sein Mund zuckte, als sie ihn anlächelte.
»Was um alles in der Welt lässt Sie glauben, dass ich mich einen Dreck darum schere, mit wem Iban sich abgegeben hat, bevor wir uns kennenlernten?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und rückte noch näher an ihn heran. Ich unterdrückte ein Lachen, das sich in meiner Brust ausbreiten wollte.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, als der Covenant mich losgeschickt hatte, um die letzte verbliebene Madizza-Hexe aufzutreiben, aber ich hatte sicher nicht mit Willow gerechnet, die zwar Erde in ihrem Blut hatte, offenbar aber auch Feuer.
»Bist du nicht eifersüchtig, dass dein zukünftiger Partner sich so kurz vor deiner Ankunft mit einer anderen Frau getroffen hat?«, wollte Bray wissen.
»Ich mache mir weit mehr Gedanken darüber, dass Sie sich so ausgiebig mit meinem Liebesleben beschäftigen«, gab Willow mit einer Grimasse zurück. Sie wendete sich ab und ließ die Frage für einen Moment unbeantwortet im Raum stehen, während sie auf Susannah und George zutrat. »Aber um auf die Frage zurückzukommen, nein. Das macht mir nichts aus. Im Gegensatz zu anderen hier weiß ich, dass man mehr Spaß hat, wenn man teilt.«
Ich unterdrückte ein Lachen. Brays Gesicht zeigte einen ungläubigen Ausdruck, als sie an ihm vorbeiging, dann ließ Willow uns ohne weiteres Nachdenken zurück.
»Folgen Sie ihr«, befahl Susannah und ich musste mich noch einen Moment lang zusammenreißen und mein scharfes Lachen herunterschlucken, bevor ich dem Hexenmädchen nachlief. »Die Schule ist für Willow kein sicherer Ort mehr. Dabei hat ihre Sicherheit für uns oberste Priorität.«
»Sollten Sie sich nicht eher um die verbliebenen elf Schülerinnen und Schüler Gedanken machen, die jederzeit geschlachtet und deren Organe entnommen werden könnten?«, hakte ich nach, während ich aber schon auf dem Weg war, Willow zu folgen. Der Covenant musste nichts von dem Pakt wissen, den wir geschlossen hatten, und es ging die beiden auch nichts an, dass ich deswegen ein ganz eigenes Interesse daran hatte, Willow zu beschützen.
»Die anderen elf Schülerinnen und Schüler sind nicht die letzten einer ganzen Blutlinie. Sie wissen, was droht, wenn eine davon verloren geht«, rief Susannah mir hinterher. Mir war klar, dass sich Willow über meine Gegenwart in ihrem Zimmer kaum freuen würde.
Es war mir auch klar, dass Willow tun konnte, was immer sie wollte. Sie könnte so ziemlich jedes Verbrechen innerhalb der Mauern von Hollow’s Grove begehen und würde dennoch das Nachspiel überleben.
Der verzweifelte Wunsch des Hexenzirkels, sein Blut wiederzubeleben, hatte die perfekte Waffe geschaffen, die so ziemlich alles in den Untergrund stürzen konnte, was er geschaffen hatte – was er verdorben hatte. Willow würde entweder das Verderben oder die Rettung des Coven sein und der am meisten befriedigende Teil daran war, dass der Hexenzirkel nichts unternehmen konnte, um das Hexenmädchen aufzuhalten, wenn es ihm alles nahm.
Und mit weniger würde sie sich nicht zufriedengeben.