Willow
Ich erschauderte. Die Stimme, die mich umgab, war mir so fremd. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass es nicht meine war – auch wenn sie von mir kam. Der rauchige, weibliche Klang, der sich seinen Weg empor durch meine Kehle bahnte, gehörte nicht mir. Ich presste eine Hand an meinen Hals und versuchte, den fremden Klang dort festzuhalten, damit die Luft um mich herum sich nicht anfühlte, als würde sie von den Feuern der Hölle selbst verbrannt werden.
Eine Frau wanderte durch die Hallen, ihr tiefschwarzes Haar fiel ihr bis zur Taille, während sie sich wie in Zeitlupe bewegte. Sie hielt ein Stück Onyx in der Hand, ihre Finger waren so fest darum geschlungen, dass ich dachte, es könnte ihre Haut durchbohren. Ich erkannte sie von den Fotos, die mein Vater mir gezeigt hatte, von den Porträts, die er zu ihrem Gedenken in Auftrag gegeben hatte. Sein Heim war schlicht gewesen, eine im Wald versteckte Hütte, die ihn vor den neugierigen Blicken des Coven schützen sollte, der ihn töten würde, wenn sie von seiner Existenz erfuhren. Aber das wenige Geld, das er hatte, gab er für diese Porträts aus, um die Erinnerung an seine Schwester zu bewahren, die er über alles liebte.
Ihre Augen funkelten in einem hellen Blau. Die Farbe war unnatürlich und erinnerte mich an das kälteste Eis auf dem See, wenn es im Mondlicht schimmerte. Es hatte einen fast violetten Schimmer, so wie auch meine eine Iris zu Lila tendierte. Sie legte die Stirn in Falten und ihre Lippen verzogen sich zu einem stummen Schrei. Sie drehte sich um, warf einen Blick hinter sich, und ließ den Onyx wegen dem fallen, was sie gesichtet hatte.
Ich sah nichts und trat in die Dunkelheit des Ganges, um zu ihr zu gelangen. Ich folgte ihr, als sie um eine Ecke bog und über ihre Schulter spähte, als würde sie verfolgt werden. Ich konnte nichts erkennen, aber ich spürte es.
Das Grollen, das den Boden erschütterte und die Fenster klappern ließ.
Loralei umklammerte etwas an ihrer Hüfte und erst da wurde mir klar, wobei es sich bei dem kleinen, schwarzen Beutel handeln musste. Erst da hörte ich den Ruf der Knochen, hörte, wie sie mir zuflüsterten, ich solle näher kommen.
Um zu nehmen, was mir gehörte.
Er war unscheinbar und sah aus wie ein Tarotsäckchen oder ein Beutel mit Steinen und Knochen, die zum Hellsehen verwendet werden. Die Kette, die sie um ihre Hüfte trug, war aus einem hellen, schimmernden Gold, das sich von dem Schwarz ihrer Schuluniform abhob.
»Ich habe nicht, was du suchst«, sagte sie ins Nichts. Ihr Blick blieb auf das Ende des Flurs gerichtet und ihr Körper zuckte bei jedem Schritt, den die unsichtbare Kraft machte.
Ich stolperte und konnte mich gerade noch mit einer Hand an der Wand festhalten. Der nächste Schritt war so nah, dass er mich fast von den Füßen riss. Die Luft um mich herum wurde so kalt, dass sie meine erhitzte Haut verbrannte, und in diesem Moment konnte ich den Atem vor meinem Gesicht sehen.
Ich keuchte, mein Atem rasselte in meiner Brust. Ich konnte nicht einmal sehen, was auf sie zukam, ich konnte nichts tun, um zu verhindern, dass es noch einmal geschah.
»Loralei!«, rief ich in Panik. Ihr Kopf drehte sich ruckartig zur Seite und ihre unheimlichen blauen Augen sahen zu mir. Sie weiteten sich, als ob sie mich erkannt hätte. Sie nahm ihre Hand von den Knochen, die ihr Kraft gaben, und blieb starr stehen, während sie meinen Blick festhielt.
»Lauf, Charlotte. Lauf!«, schrie sie, als ich auf sie zuging.
Es war nur ein Traum, erinnerte ich mich. Ich war nicht in meinem Körper, nicht wirklich.
Rot explodierte vor meinen Augen, als das Ding, das ich nicht sehen konnte, zuschlug. In ihrer Brust klafften drei tiefe Schnittwunden und ihr Blut spritzte mir ins Gesicht. Ihre Hand berührte meinen Arm, ihre Wärme sickerte aus mir heraus. Ihre Miene fiel in sich zusammen, während Entsetzen ihren Blick erfüllte. Sie sank auf die Knie, als der Boden unter ihr bebte und das Ding noch einen Schritt näher kam.
»Wach auf, Willow«, sagte sie mit sanfter Stimme, während ihre Augen zurückrollten.
Schmerz durchzuckte meinen Rücken und setzte meine Haut in Brand, während ich darum kämpfte, sie auf die Beine zu ziehen.
»Wach auf!«, schrie sie.
Die Fenster am Ende des Flurs zersprangen durch ihre Stimme. Ihre Panik ergriff mich und riss mich mit sich. Ich fiel, als der Boden erneut bebte, und wartete darauf, mit den Knien aufzuschlagen.
Doch es kam nicht.
Nach Luft schnappend wachte ich auf und stürzte aus dem Bett. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sich mein Magen entleerte. Mein Rücken brannte, während ich mir die Haare aus dem Gesicht schob und die Haut aufplatzte, als ich mich nach vorne krümmte. Ich klammerte mich an den Rand der Toilette und wartete darauf, dass der Würgereiz aufhörte.
Sobald es ging, richtete ich mich auf und trat zum Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Ich spülte mir den Mund aus und zögerte, mich umzudrehen, um meine Wirbelsäule zu betrachten. Es war nur ein Traum gewesen, und der Schmerz, den ich spürte, musste ein Trugbild der Angst sein, die ich beim Aufwachen empfunden hatte.
Doch mein Shirt klebte an der Haut und fühlte sich feucht an, als es verrutschte. Ich zog es mir über den Kopf und drehte mich langsam, um mich im Spiegel zu betrachten.
Drei Schnittwunden in der merkwürdigen Form eines Dreiecks verunstalteten meine Tätowierung und kerbten die geschwungenen Äste des Baumtattoos, das sich meine Wirbelsäule hinaufschlängelte. Blut tropfte an der Rückseite meines Brustkorbs hinunter.
Fest umklammerte ich mit den Händen den Rand des Waschtisches, während ich mit gehetztem Blick mein Spiegelbild anstarrte. Ich hatte von meiner Tante geträumt und sie hatte meinen Namen gekannt.
Nicht sofort, weil sie mich irgendwie mit der Hexe verwechselt hatte, die Jahrhunderte vor ihrer Geburt gestorben war. Ich presste den Kopf in meine Hände und beugte mich über das Waschbecken, als mein Magen erneut rebellierte. Es ergab keinen Sinn. Dahinter stand keinerlei Logik.
Meine Schlafzimmertür schlug zu, als ich mich zur Badezimmertür drehte, den steinernen Seifenspender in die Hand nahm und mich darauf vorbereitete, ihn als behelfsmäßige Waffe zu benutzen. Im Badezimmer gab es keine Pflanzen, was ich schnellstens ändern musste.
Die mächtige Gestalt eines Mannes füllte den Türrahmen zwischen Schlaf- und Badezimmer aus. Sein Gesicht lag im Schatten und sein Rücken schirmte das Licht ab, das durch die Fenster hinter ihm fiel. Mein Körper summte vor Energie und bereitete sich auf einen Kampf vor.
»Du blutest«, sagte Gray schließlich und trat einen Schritt vor.
Ich ließ den Seifenspender fallen und schnappte mir eilig ein Handtuch vom Regal. Ich wickelte es um meinen Oberkörper und schützte meine Brüste vor fremden Blicken, während er viel zu schnell den Lichtschalter fand.
»Es ist nichts. Nur meine Periode«, log ich und beschloss, dass die Demütigung, so etwas offen zu besprechen, viel besser wäre, als zuzugeben, was ich gesehen hatte. Es gab Dinge, die für eine Hexe einfach nicht normal waren. Durch einen Traum zu Schaden kommen, war eines davon. Nur die Weißen und Violetten hatten die Gabe des Sehens in ihrer Blutlinie.
»Wie soll ich meinen Teil der Abmachung einhalten, wenn du nicht ehrlich zu mir bist, kleine Hexe?«, sagte er und seine Nase zuckte, als er die Luft schnupperte.
»Wie Sie sehen, geht es mir sehr gut. Raus«, schnauzte ich und hielt den Rücken von ihm abgewandt. Ich wollte nicht, dass er die Spuren sah, denn ich verstand nicht, was sie bedeuteten. Wie konnte mich ein Traum verletzen? Wie konnte er mich auf meinem wachen Körper markieren?
»Ich kann dein Blut riechen. Zeig es mir«, befahl Gray und trat einen Schritt vor. Seine Finger griffen nach dem Handtuch, als ob er es von meinem Körper wegziehen wollte. Ich wusste nicht, ob der Gedanke, halbnackt vor ihm zu stehen, schlimmer war, als die absonderliche Verletzung auf meinem Rücken zu zeigen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das herausfinden wollte.
Jedenfalls ließ ich das Handtuch los und spürte, wie es mir von der Haut rutschte. Nur seine Finger hielten es in der Luft, als es aufging und meine Brüste enthüllte. Sein Blick fiel darauf, während sein Gesicht ruhig wurde und er die Rundungen meiner Brüste betrachtete. Ich spürte den Moment, als sein Blick etwas tiefer sank, über meine Brustwarzen streifte und zu meinem Bauch wanderte. Es war fast greifbar, so als würde die Schlange im Garten Eden über mich gleiten.
»Ich kann mir viel interessantere Arten vorstellen, die Nacht zu verbringen«, murmelte ich und trat einen Schritt vor.
Sein Blick huschte zu meinem Gesicht; sein Atem ging bewusst und kontrolliert, als ich meinen Finger auf seine Brust legte. Das Hemd hatte er teilweise aufgeknöpft, sodass oben ein schmaler Streifen Haut zu sehen war. Er trug keine Krawatte und keine Anzugjacke. Nur der dünne weiße Stoff seines Hemdes trennte mich davon, seine nackte Haut zu berühren.
Ich schob einen einzelnen Finger auf die freie Stelle und strich damit über sein kühles Fleisch.
»Du spielst ein sehr gefährliches Spiel, kleine Hexe«, murmelte er und starrte mich mit angespannter Miene an.
Ich schürzte die Lippen zu einem Schmollmund und atmete langsam aus. »Versprechungen, nichts als Versprechungen, Dämon«, hielt ich dagegen.
Er bewegte sich schnell, packte mich am Ellbogen und drehte mich so plötzlich nach vorne, dass ich kaum Zeit hatte, mir über Eitelkeiten Gedanken zu machen. Die Schroffheit, mit der er mich herumwirbelte, raubte mir den Atem und ich beugte mich keuchend über das Waschbecken. Er schob sich hinter mich und legte eine Hand auf meine unverletzte Schulter. Er packte sie und hielt mich fest, während ich versuchte, mich gegen ihn zu wehren.
Mit der anderen Hand strich er mir die Haare über die Schulter. Bei dieser zärtlichen Bewegung krampfte sich mein Herz zusammen und ich fletschte die Zähne wie eine fauchende Wildkatze. Mir wäre es lieber gewesen, wäre er grob und brutal dabei gewesen, meine Verletzung zu begutachten.
Lieber offener Hass als falsche Zuneigung.
Seine Hand ruhte auf meinem Fleisch und ließ eine Gänsehaut aufsteigen. »Woher hast du das?«, fragte er. Er tastete weiter, seine Finger berührten sanft die Wunden und sandten eine Flamme der Pein durch mich hindurch.
Ich wimmerte und umklammerte den Rand des Waschbeckens noch fester.
»Von einem Traum«, gab ich zu und lachte leise. Ich war mir sicher, dass er mir nicht glauben würde. Dass er denken würde, ich sei im Schlaf angegriffen worden und zu unaufmerksam, um es mitzubekommen.
»Erzähl es mir«, sagte er stattdessen und griff nach einem sauberen Waschlappen vom Waschtisch. Er hielt ihn unter warmes Wasser und wrang ihn aus, bevor er sich neben mich stellte und das Blut von der Wunde wischte.
Ich erklärte ihm, woran ich mich erinnerte, an die Vision meiner Tante. Ich weigerte mich, den Namen zu erwähnen, mit dem sie mich zuerst angesprochen hatte, weil ich wusste, dass jede Verbindung zu Charlotte nur die Aufmerksamkeit auf mich lenken würde. Ich log deshalb und sagte ihm, dass ich die Frau noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Die Details über die Knochen, die an ihre Hüfte gebunden waren, ließ ich weg, aber ich erzählte ihm die Wahrheit über die Kreatur, die sie verfolgt hatte.
Die Tatsache, dass sie völlig außer Sicht geblieben war.
»Sie haben so was schon einmal gesehen«, sagte ich und wandte meinen Kopf, um ihn anzuschauen.
Er nickte ernst und drehte mich so, dass ich zusehen konnte, wie seine Finger die Male nachzeichneten. Irgendwie waren sie schon zu alten Wunden verheilt, die Haut war verschorft und nicht mehr roh. Der Schmerz pulsierte immer noch in mir, als wären die Wunden frisch und empfindlich, obwohl er versuchte, sanft zu sein.
»Es wird das Auge des Teufels genannt«, erklärte er mit eindringlicher Stimme. »Es ermöglicht Ihm, dich genauer zu beobachten.«
Ich schluckte und sah ihn noch einmal über meine Schulter an, wandte meinen Blick von den groben Schnittwunden ab. »Also, dann machen Sie sie weg!«
Er gluckste, aber das Geräusch war frei von jeglichem Humor. »Eine Hülle kann Seine Taten nicht ungeschehen machen«, erklärte er, griff nach meinem Kinn und drehte mich zu ihm hin. »Aber vielleicht kannst du mir genauer erklären, was Er von dir wollen könnte, kleine Hexe.«